12. Lektion - lectio duodecima (duodecim 12)


Inhalt:


Einleitung

Bleiben wir nocht eine Weile bei den Briefen der Römer:

Im folgenden Brief an seine Gattin Terentia vom 19. Dezember 48 v.Chr. beginnt Cicero mit einem reinen Irrealis der Gegenwart, bei dem im Haupt- und Nebensatz der Konjunktiv des Imperfekts steht:

Si quid habêrem...facerem id. Wenn ich etwas hätte...würde ich es tun,(aber ich habe nichts).
Im eingeschobenen Relativsatz steht, was Cicero haben wollte: quod ad te scrîberem was ich dir schreiben könnte.

Mit den Erläuterungen der vorigen Lektion und den unten angegebenen Vokabeln werden Sie das kleine Schreiben gewiß entziffern können.

TVLLIVS TERENTIAE SVAE S.D.

Sî quid habêrem, quod ad te scrîberem, facerem id
et plûribus verbîs et saepius.
Nunc, quae sint negôtia, vidês;
ego autem quô modô sim adfectus,
ex Leptâ et Trebatiô poteris cognôscere.
Tû fac, ut tuam et Tulliae valêtûdinem cûrês. Valê. (ad fam. XIV,13)

Vokabeln

S.D. = Salûtem Dîcit (Dat)
(
vgl. auch Pollio Ciceroni S.P. Pollio grüßt Cicero)
plûribus verbîs
Ablativus Instrumenti mit vielen Worten
vidês, quae sint negotia du siehst, was zu tun ist (wie die Geschäfte sind)
ist indir. Fragesatz im Konjunktiv. Ebenso der folgende Satz: poteris cognôscere ... quô modô sim adfectus
quô modô
auf welche Weise ist Ablativus modi auf die Frage auf welche Art und Weise?
poteris ist 2.S.Ind.Fut.Akt. von pos-sum ich kann. Der Inf.Präs. ist pos-se können. Die Vorsilbe zu den Formen von esse ist ein altes, zu pot- verkürztes Adjektiv potis, e mächtig.
Bei pos-sum hat sich das t an das folgende s angeglichen, weiter heißt es aber dann: pot-es du kannst, pot-est er kann. Im Konjunktiv Präs. heißt es wieder pos-sim, pos-sîs, pos-sit usw. Unten in der Grammatik stelle ich Ihnen alle Formen in einer Tabelle zusammen.
tu fac, ut tuam et Tulliae valetudinem cures du mach, daß du dich um deine und Tullias Gesundheit kümmerst oder besser: kümmere dich um deine und Tullias Gesundheit!


Tullius grüßt seine Terentia.

Wenn du gesund bist, ist es gut; ich bin wohlauf.
Wenn ich etwas hätte, was ich dir schreiben könnte, würde ich es tun,
sehr ausführlich und häufiger.
Du siehst, was du jetzt zu tun hast;
wie mich aber alles berührt,
wirst du von Lepta und Trebatius erfahren.

Kümmere dich um deine und Tullias Gesundheit! Leb' wohl.

Der letzte Brief des vierzehnten Buches ist ebenfalls an Terentia gerichtet, es geht dabei um die Beschaffung einer Badewanne! (ad familiârês 14,20)

TULLIUS S.D. TERENTIAE SUAE.

In Tusculânum nôs ventûrôs putâmus aut Nônîs aut postrîdiê.
ibi ut sint omnia parâta;
plûrês enim fortasse nôbîscum erunt et, ut arbitror,
diûtius ibi commorâbimur.
lâbrum sî in balneô nôn est, ut sit;
item cêtera, quae sunt ad vîctum et ad valêtûdinem necessâria.
Valê. Kal. Oct. dê Venusînô.

Vokabeln
Tusculânum, î n Landhaus des Cicero südöstlich von Rom in Latium, heute Frascati
Auf die Frage wohin? steht der Akkusativ.
ventûrôs (esse) a.c.i.
Nônae, ârum
die Nonen (der siebte Tag im März, Mai, Juli, October; der fünfte Tag in den anderen Monaten. Das Wort ist zwar Plural, meint aber einen festen Tag.)
postrîdiê Adv. am folgenden Tag
ibî und ibi da, dort (auch zeitlich: da, damals)
(curâ) ut sorge dafür, daß
plûrês einige Leute
fortasse oder fortassis Adv. vielleicht, wohl, etwa
arbitror, âtus sum, ârî annehmen, meinen, beobachten
diû Adv. lange (Komp. diûtius, Superl. diutissimê)
com-moror, -âtus sum, ârî sich aufhalten, verweilen, wohnen (1.Pl.Ind.Fut.Dep.)
lâbrum, î n Badewanne, Kessel
balneum, î n Bad, Badezimmer, Badewanne (auch balineum)
(curâ) ut sit (sieh zu), daß (da) ist
item Adv. ebenfalls
cêtera die übrigen Dinge (et cêtera und so weiter)
Kalendae, ârum f der Monatserste (Kalendîs Octôbrîbus an den Kalenden des Oktobers =
am 1. Oktober; wahrscheinlich 47 v.Chr.)
Cicero hatte ein Landgut in Venusia, in Apulien.

Tullius grüßt seine Terentia

Ich nehme an, daß ich am 7. oder am Tag darauf in Tusculum eintreffen werde.
Sieh zu, daß dort alles bereit ist!
Denn vielleicht werden einige Leute mit mir kommen, und ich nehme an,
daß wir länger dort bleiben werden.
Wenn im Bad keine Wanne ist, sieh zu, daß eine da ist,
ebenso alles, was zum Leben und zum Wohlbefinden nötig ist!

Lebī wohl! Am 1. Oktober in Venusia.


Daß die Ciceronischen Briefköfe (S.v.b.e.v.) allmählich aus der Mode kamen, entnehmen wir einem kurzen Brief des Plînius (61-113/14 n.Chr.).

C. Plînius Iustô Suô Salûtem Dîcit

Ôlim mihi nûllâs epistulâs mittis.
"Nihil est", inquis, "quod scrîbam."
At hoc ipsum scrîbe: nihil esse quod scrîbâs;
vel sôlum illud, unde incipere priôrês (maiôrês nostrî) solêbant:
"Sî valês, bene est; ego valeô."
Hoc mihi sufficit; est enim maximum.
Lûdere mê putâs? Sêriô petô.
Fac (ut) sciam, quid agâs. Valê. (Plin. Epist. 1,11)

Vokabeln und Erklärungen

Die römischen Vornamen Gâius und Gnaeus wurden mit C. und Cn. abgekürzt. In sehr früher Zeit machten die Römer keinen Unterschied zwischen C und G. Der jüngere Plinius, sein Onkel, von dem wir noch reden werden, war der ältere Plinus, hieß mit vollständigem Namen Gaius Plînius Caecilius Secundus. Sein väterlicher Herr, Kaiser Trajan, begann seine Briefe an Plinius d.J. mit den Worten: Secunde carissime mein lieber Secundus.
vel oder (mit freier Wahl; gibt es keine freie Wahl, so benutzt man das disjunktive oder aut.
aut ... aut
entweder ... oder)

sôlum nur; nôn sôlum ... sed etiam nicht nur ... sondern auch
incipiô, incêpî, inceptum, incipere anfangen, beginnen
suf-ficiô, fêcî, fectum, ficere genügen
est maximum das ist das Größte, die Hauptsache
lûdô, lûsî, lûsum, lûdere spielen, scherzen
putâre 1 meinen, glauben, ordnen
sêriô Adv. ernsthaft (seriously)
petô, petîvî, petîtum, petere erstreben, erbitten

Übersetzung

Plinius grüßt seinen Iustus.

Seit langem hast du mir keinen Brief geschrieben.
"Es gibt nichts", sagst du, "was ich schreiben sollte."
Dann schreib halt dies, daß es nichts gibt, was du schreiben sollst!
Oder nur das, womit unsere Vorfahren anzufangen pflegten:
"Wenn es dir gut geht, so ist es gut, mir geht es gut."
Das genügt mir; denn das ist die Hauptsache.
Meinst du, daß ich scherze? Ich bitte ernsthaft darum.
Mach, daß ich erfahre, wie es dir geht. Leb' wohl.

 

Ein Wort noch zum Vokativ, der ja der Anredefall in Briefen ist. Sie erinnern sich, daß dieser Fall mit dem Nominativ übereinstimmt; nur bei den Substantiven der o-Deklination auf -us muß man achtgeben, denn sie haben im Singular die Endung e: ô fortûna o Fortuna aber ô Mârce o Markus. (Das o schreiben wir nur, um darauf hinzuweisen, daß es sich um einen Vokativ handelt.)
Viele Namen gehen auf -ius aus, z.B. Lûcius, Tullius, Pompêius usw. Bei ihnen läßt man im Vokativ das -us weg und verlängert die neue Endung i, also: Lûcî, Tullî, Pompêî.
Bei fîlius hatten wir schon früher den Vokativ fîlî kennengelernt: mî fîlî mein Sohn.
Die Anrede Mârce oder Tullî oder gar Mârce Tullî findet man in den Briefen allerdings selten. Atticus würde sagen: Atticus Cicerônî salûtem plûrimam dîcô ich grüße herzlich meinen Cicero. (Abgekürzt: Atticus Cicerônî S.P.D. Das D kann für dicit, dico oder dat stehen.)

Es gibt aber ein kleines Gedicht, ein Epigramm, des Catull (87 od. 84-54 v.Chr.), in dem er sich für eine empfangene Wohltat bei Mârcus Tullius Cicerô recht überschwenglich (ironisch?) bedankt, in dem wir die Anrede Mârce Tullî tatsächlich finden. Wenn ich Sie recht verstehe, wollen Sie die Verse kennenlernen. Also gut, hier sind sie:

 

 

Dîsertissime Rômulî nepôtum,
quot sunt quotque fuêre, Mârce Tullî,
quotque post aliîs erunt in annîs,


grâtiâs tibi maximâs Catullus
agit, pessimus omnium poêta,
tantô pessimus omnium poêta
quantô tû (es) optimus omnium patrônus. (49)

Beredtster von Romulus' Nachkommen,
von denen, die sind, und von denen, die waren, Markus Tullius,
und von denen, die später sein werden in anderen Jahren,
ganz herzlich dankt dir Catull,
der schlechteste aller Dichter,
ebenso sehr schlechtester aller Dichter,
wie du der beste aller Anwälte bist.

 

Vokabeln

dîsertus, a, um klar, deutlich, beredt, redegewandt
disertissime ... nepotum
sprachgewaltigster unter den Nachkommen des Romulus
nepôs, ôtum m Enkel, Nachkomme; (Nepotismus = Ämterverteilung unter Angehörigen)
fuêre = fuêrunt sie sind gewesen (Perf.); erunt sie werden sein (Fut.)
quot von allen, die
quot sunt von allen, die sind
post = post-eâ Adv. darauf, nachher, später, ferner
tantô .. quantô ebenso viel (sehr) ... wie (Ablativus mensurae auf die Frage um wie viel?)
quantô ... tantô je ... desto
grâtiâs tibi agô maximâs ich danke dir ganz herzlich
patrônus, î m Patron, Schutzherr, Verteidiger vor Gericht

Offenbar ist dieses Gedicht nichts anderes als ein Brief in Versform.

 

zurück


Grammatik

Nochmals Partizip

Wir haben erfahren, daß das Partizip als Attribut, als Prädikatsnomen bei esse oder als Prädikativum benutzt wird.
Im Deutschen verwenden wir ein Partizip vor allem als Attribut: arbor florens nos delectat der blühende Baum erfreut uns; vir doctus me taedet der gelehrte Mann geht mir auf die Nerven. Oder auch aktuell: latrones domos diripientes a vigilibus capti sunt die Einbrecher, die die Häuser ausplünderten, sind von der Polizei gefaßt worden. In diesem Fall übersetzen wir das Partizip durch einen Relativsatz. Grundsätzlich hätten wir das natürlich auch beim blühenden Baum tun können: der Baum, der blüht.
Sehr oft treffen wir auch im Deutschen auf die Anwendung als Prädikatsnomen bei esse, z.B.: vir doctus est der Mann ist gelehrt.
Ganz selten treffen wir im Deutschen aber das Pradikativum an, das im Lateinischen eine so große Rolle spielt, z.B. zur Beschreibung des Zustandes eines Subjekts, von dem eine Handlung ausgeht oder das eine Handlung erleidet: Plato scribens mortuus est Plato starb als Schreibender. Das Partizip Präsens bezeichnet die Gleichzeitigkeit zur Haupthandlung.
Diese prädikative Ausdrucksweise ist im Deutschen, wie gesagt, recht selten, wir würden eher sagen Plato starb lesend oder Plato starb, als er las. Das Partizip richtet sich dabei nach seinem Beziehungswort, es ist an dieses Wort gebunden. Man nennt es daher Participium coniunctum.

Sie können sich den Begriff "coniunctum" in "Participium coniunctum" auch noch auf andere Art verdeutlichen. Holen wir uns dazu nochmals den reitenden Caesar aus der letzten Lektion:

Caesar in dorsô equî sedêns epistulam scrîpsit Caesar saß auf dem Rücken des Pferdes und schrieb gleichzeitig einen Brief.

Dieser Satz besteht aus zwei sinnvollen Aussagen:

  1. Caesar saß auf dem Rücken eines Pferdes. Caesar in dorso equi sedebat.
  2. Caesar schrieb einen Brief. Caesar epistulam scripsit.

Beide Sätze besitzen dasselbe Subjekt. Will man sie zu einem Satz verbinden (coniungere), so läßt man ein Subjekt weg und ersetzt das Verb des "Zustandssatzes", d.h. des Satzes, der den Zustand schildert, in dem sich das Subjekt befindet, während es die Haupthandlung ausführt (epistulam scripsit), durch ein mit dem Subjekt kongruentes Partizip, das also in Kasus, Numerus und Genus mit dem Subjekt übereinstimmt.
Die Möglichkeit, einen Begleitumstand mit Hilfe eines Partizips kurz abzutun, entsprach der Neigung des Römers für knappe und klare Darstellung. Diese Neigung nach Kürze und Klarheit dürfte überhaupt der Grund dafür sein, warum der Lateiner das Partizip so sehr liebte, wohingegen wir Deutschen es doch eher meiden.

Wenn Sie zwei Sätze vereinigen wollen, die kein gemeinsames Subjekt haben, z.B.

  1. die Perser rückten heran
  2. die Griechen besetzten die Thermopylen,

so können Sie die Vereinigung nicht mit einem Participium coniunctum erzeugen. In diesem Falle benutzt man den Ablativus absolutus, d.h. eine Konstruktion aus Ablativ und Partizip: a.c.p., die wir schon in der 5.Lektion kennen lernten.

Die Vereinigung der beiden Sätze wäre etwa: Als die Perser heranrückten, besetzten die Griechen die Thermopylen oder lateinisch:

Graeci Persis advenientibus Thermopylas occupâvêrunt (Kurzform: occupârunt).

Wir werden immer wieder sehen, daß der Ablativus absolutus eine adverbiale Bestimmung des Grundes, der Zeit, des Mittels usw. darstellt. Er kann daher nie durch einen Relativsatz wiedergegeben werden. Bei einem Ausdruck wie parentibus vivis zu Lebzeiten der Eltern (als die Eltern lebend waren) fehlt eigentlich das Partizip von esse. Da das aber im Präsens und Perfekt nicht existiert, nennt man parentibus vivis einen unvollständigen Ablativus absolutus. Hierhin gehören auch Caesare duce unter Führung Caesars (als Caesar Führer war), Cicerone consule (im Plural: Cicerone et Antonio consulibus), Tarquinio Superbo regnante usw.

Nun muß in diesen Fällen aber nicht unbedingt ein Ablativus absolutus stehen, man könnte auch ein cum historicum verwenden: cum T.S. regnâret als T.S. regierte, oder man könnte schreiben dum (während) T.S. regnat während T.S. regierte, usw.

Übrigens nennt man die Anwendung des Partizips anstelle eines Nebensatzes eine Partizipialkonstruktion. Wie wir sahen, unterscheidet man zwei Arten der Partizipialkonstruktion: das Participium coniunctum und den Ablativus absolutus.
Keine der beiden Konstruktionen wird durch Kommata abgetrennt.

Wir können uns leicht eine deutsche Periode vorstellen, die im Haupt- und Nebensatz dasselbe Subjekt hat, z.B. Nachdem die Griechen Troja erobert hatten, kehrten sie in die Heimat zurück. Wollen wir die Umstandsbestimmung nachdem die Griechen Troja erobert hatten bei der Übertragung ins Lateinische durch einen Ablativus absolutus ausdrücken, so müssen wir sie zunächst passivisch umformen, d.h. wir schreiben nachdem Troja erobert war Troiâ captâ. Der ganze Satz heißt dann: Troiâ captâ Graecî domum rediêrunt (3.Pl.Ind.Perf.Akt.)

Zu beachten ist, daß die Deponentien ein Partizip Perfekt mit aktiver Bedeutung bilden. Bei ihnen verwendet man das Participium coniunctum statt des Ablativus absolutus.
Ein Beispiel: Nachdem Caesar die Soldaten ermahnt hatte, gab er das Zeichen zur Schlacht. Im Lateinischen heißt ermahnen cohortârî, ist also ein Deponens, und wir übersetzen:
Caesar milites cohortatus signum pugnae dedit.

Accusativus cum Participio

Ich möchte noch einen kleinen Zusatz zum Partizip erwähnen:
Nach den Verben der sinnlichen Wahrnehmung, z.B.: videre sehen, audire hören, cônspicere erblicken, animadvertere bemerken usw. steht bei unmittelbarer Wahrnehmung das Partizip.

Beispiele:

video pueros ludentes ich sehe die Knaben spielen
videbam te legentem ich sah dich lesen
Audivistisne Ciceronem heri in senatu dicentem? Habt ihr Cicero gestern im Senat reden hören?
Caesar mîlitês labôrantês cônspexit. Caesar erblickte die Soldaten in Bedrängnis (wenn man den Zusammenhang nicht kennt, könnte es auch heißen Caesar sah, wie die Soldaten arbeiteten, denn labôrô kann heißen ich arbeite, ich strenge mich an oder aber ich befinde mich in Not. Interessant, daß der Lateiner in beiden Situationen ein und dasselbe Verb benutzt! In den Übungen werden wir das ähnlich lautende Verb lâbor ich entgleite antreffen.)

Unregelmässige Verben: possum

Die folgenden fünf Verben, die wir alle schon kennen, zeigen in der Konjugation ein leicht absonderliches Verhalten, weswegen man sie unregelmässig nennt, verba anômala:

possum, potuî, posse können (posse = Infinitiv Präsens)
volô, voluî, velle wollen
eô, iî, itum, îre gehen (das Perfekt ich bin gegangen bitte zweisilbig aussprechen!)
ferô,tulî, lâtum, ferre tragen
fîô, factus sum, fierî werden, geschehen, gemacht weren

Zur Vermeidung von Überanstrengung werden wir heute nur possum besprechen.

Wir hörten schon, daß possum ich kann ein Compositum aus sum und der Vorsilbe pot- ist. Wir werden uns daher nicht wundern, wenn wir fast überall die Formen von esse antreffen.
Aus pot-sum wurde aber durch Assimilation pos-sum, aus pot-sumus wurde pos-sumus usw. Vor einem Vokal bleibt das ursprüngliche t jedoch erhalten, vgl. auch Einleitung.

Präsens
Imperfekt
Futur I
Indikativ
Konjunktiv
Indikativ
Konjunktiv
Indikativ
possum
ich kann
pot-es
pot-est
possumus
potestis
possunt
possim
ich könne
possîs
possit
possîmus
possîtis
possint
pot-eram
ich konnte
pot-erâs
pot-erat
pot-erâmus
pot-erâtis
pot-erant
possem
ich könnte
possês
posset
possêmus
possêtis
possent
poterô
ich werde können
pot-eris
pot-erit
pot-erimus
pot-eritis
pot-erunt


Der Indikativ Perfekt von posse ist potuî ich habe gekonnt. Die von potuî abgeleiteten Tempora werden ganz regelmäßig gebildet, so daß es genügt, nur die 1.Pers.Singular anzugeben:
Perfekt
Indikativ
potuî
ich habe gekonnt
 
Konjunktiv
potuerim
ich habe gekonnt
Plusquamperfekt
Indikativ
potueram
ich hatte gekonnt
 
Konjunktiv
potuissem
ich hätte gekonnt
Futur II
Indikativ
potuerô
ich werde gekonnt haben
Infinitiv Perfekt
 
potuisse
gekonnt haben


Das Partizip Präsens potêns, Gen. potentis ist zum Adjektiv geworden und bedeutet mächtig.
 
Es gibt im übrigen eine große Anzahl von Verben, die nicht vollständig nach den üblichen Konjugationsmustern "gehen". Diese Unregelmässigkeit bezieht sich aber i.a. nur auf die Perfekt- und Supinstämme, die recht vielfältig sind. (Da Sie diese aber sowieso als Stammformen auswendig lernen, liegt kein weiterer Grund zur Besorgnis vor.)
Die Formen des Präsensstammes gehen aber ganz normal -außer bei einigen wenigen, wie bei den fünf, die wir betrachten wollen.
 

 

zurück


Übungen zur Grammatik

Versuchen Sie zu übersetzen

Nun einige Schlaf-Sätzchen: (dormiô, dormîvî, dormîtum, dormîre schlafen)

Abl. abs. (auch unvollständig):

Lösungen:

zurück

 


Lektüre

Wir erfahren in indirekter Darstellung -daher alles im Konjunktiv!-, was Orgetorix bei seinen Gesprächspartnern Casticus und Dumnorix so alles behauptet und versprochen hatte.
Die wichtigste Information ist gewiß die, daß dem guten Orgetorix vorschwebte, ganz Gallien erobern zu wollen. Aber die Römer konnten sich gewiß nettere Nachbarn vorstellen.
Der Plan wurde den Helvetiern verraten, große Unruhe; Orgetorix stirbt -woran, wie?

BG 1,3,6-1,4,4

1.

Perfâcile factû esse illîs probat conâta perficere, propterea quod ipse suae cîvitâtis imperium obtentûrus esset:

2.

Nôn esse dubium, quîn totîus Galliae plûrimum Helvêtiî possent;

3.

Sê suîs côpiîs suôque exercitû illîs regna conciliatûrum confîrmat.

4.

Hâc ôrâtiône adductî inter sê fidem et iusiurandum dant

5.

et rêgnô occupâtô per três potentissimôs ac firmissimôs populôs tôtîus Galliae sêsê potîrî posse spêrant.

6.

Ea rês est Helvêtiîs per indicium ênuntiâta.

7.

Môribus suis Orgetorîgem ex vinclîs causam dîcere coëgêrunt.

8.

Damnâtum poenam sequî oportêbat, ut îgnî cremarêtur.

9.

Diê cônstitûtâ causae dictiônis Orgêtorix ad iudicium omnem suam familiam, ad hominum mîlia decem, undique coêgit et omnes clientes obaeratôsque suos, quorum magnum numerum habebat, eôdem condûxit;

10.

per eôs, nê causam dîceret, sê êripuit.

11.

Cum cîvitas ob eam rem incitâta armîs iûs suum exsequî cônârêtur, multitûdinemque hominum ex agrîs magistrâtûs côgerent, Orgetorix mortuus est.

12.

neque abest suspîciô, ut Helvêtiî arbitrantur, quîn ipse sibi mortem cônscîverit.

 

 

zurück


Übersetzung

wörtliche Übersetzung

1.

Sehr leicht zu tun sein jenen er beweist das Vorhaben zu vollführen, deswegen weil er selbst seines Staates Herschaft inne haben würde:

2.

nicht sein zweifelhaft, daß ganz Galliens am meisten die Helvetier könnten;

3.

daß er mit seinen Truppen und seinem Heer jenen die Königsürden verschaffen werde, er versichert.

4.

Durch diese Rede bewogen unter sich Treue und Eid sie geben

5.

und nachdem die Herrschaft gewonnen worden (sei) durch drei mächtigsten und stärksten Volksstämme ganz Galliens sich bemächtigen können sie hoffen.

6.

Dieser Plan ist den Helvetiern durch Anzeige verraten.

7.

Nach ihren Sitten den Orgetorix aus den Fesseln den Sachverhalt zu sagen sie haben gezwungen.

8.

Den Verurteilten die Starfe folgen mußte, daß er durch Feuer verbrannt würde.

9.

An dem Tag festgesetzten der Verantwortung Orgetorix zum Gericht ganze seine Familie, gegen der Menschen 10000, von allen Seiten er hat versammelt und alle Klienten und Schuldner seine, deren große Zahl er hatte, ebendorthin er hat zusammengeführt;

10.

durch sie, daß nicht den Sachverhalt er würde sagen, sich er hat entzogen.

11.

Als die Stammesgenossen wegen dieser Sache aufgebracht mit den Waffen Recht ihr zu verfolgen versuchten, und eine Menge von Menschen aus den Feldern die Behörden zusammenbrachten, Orgetorix ist gestorben;

12.

und nicht es ist fern der Verdacht, wie die Helvetier glauben, daß er selbst sich den Tod gegeben hat.

 

freie Übersetzung

Er beweist ihnen, daß es sehr leicht sei, das Vorhaben durchzuführen, weil er selbst dabei sei, die Herrschaft in seinem Stamm zu übernehmen:
es bestehe kein Zweifel, daß die Helvetier in ganz Gallen am stärksten seien;
er versichert, daß er ihnen mit seinen Machtmitteln und mit seinem Heer die Königswürden verschaffen werde.
Von dieser Rede überzeugt geben sie sich gegenseitig ein eidliches Versprechen
und hofften, wenn sie die Herrschaft in Besitz genommen hätten, mit Hilfe von drei derart mächtigen und starken Völkern ganz Gallien beherrschen zu können.
Dieser Plan wurde den Helvetiern verraten. Ihrer Sitte gemäß zwangen sie Orgetorix, sich gefesselt zu verantworten.
Im Falle einer Verurteilung mußte als Strafe der Feuertod folgen.
An dem für die Verteidigung festgesetzten Tag versammelte Orgetorix von allen Seiten seine ganze Gefolgschaft vor Gericht, an die 10 000 Mann; auch alle seine Klienten und Schuldner, von denen er eine große Anzahl hatte, beorderte er dorthin.
Mit ihrer Hilfe entzog er sich der Verantwortung.
Als die Bürgerschaft, hierüber aufgebracht, versuchte, ihrem Recht mit Waffen Geltung zu verschaffen, und die Behörden eine große Menschenmenge vom Lande zusammenbrachte, starb Orgetorix.
Der Verdacht liegt nicht fern, wie die Helvetier glauben, daß er sich selbst getötet hat.

 

 

 

zurück


Worterklärungen

Verben

per-ficiô, fêcî, fectum, perficere ausführen, vollenden
confirmâre 1 versichern, bestätigen
conciliâre 1 verschaffen
ê-nûntiâre 1 verraten, aussagen
côgô, coêgî, coâctum, côgere zwingen, versammeln, zusammenbringen
causam dîcere sich verantworten, sich verteidigen
sequor, secûtus sum, sequî + Akk. folgen
êripiô, êripuî, êreptum, êripere entreißen, entziehen
in-citâre 1 anstacheln, aufreizen
ex-sequor, secûtus sum, ex-sequî erstreben, geltend machen, zu Grabe tragen
cônscîscô, cônscîvî, cônscîtum, cônscîscere sich für etwas entscheiden
mortem sibi consciscere Selbstmord verüben

Sonstige Wörter und Erklärungen

conâtum, î n das Vorhaben,der Versuch
propter-eâ Adv. deswegen
quod + Ind. weil
plûrimum posse am meisten vermögen, am stärksten sein
fidês, eî f Glaube, Vertrauen
iûs iûrandum, iûris iûrandî Eid, Schwur
fidem et iusiurandum eidliche Versicherung, Versprechen
indicium, iî n Anzeige, Verrat
vincla, ôrum n Fesseln, Gefängnis; ex vinclîs gefesselt, in Ketten
îgnis, is m Feuer (der Abl. Sing. kann sein îgne oder îgnî; so auch bei nâvis, is f Schiff: nâve oder nâvî)
obaerâtus, î m Schuldner
mortuus sum ich bin gestorben, ich bin tot
su-spîciô, ônis f Verdacht

Der lateinische Text gibt in den ersten drei Zeilen die Aussagen und Meinungen eines anderen (Orgetorix) wieder (ôrâtiô oblîqua schräge Rede, d.h. indirekte Rede). Bei den indirekten (abhängigen) Aussagesätzen, die i.a. nach Verben des Sagens, Wahrnehmens, Denkens, Fühlens usw. (also nach verba dicendi et sentiendi) stehen, finden wir alle Hauptsätze im Accusativus cum infinitivo, vgl. 5.Lektion. Die Nebensätze stehen im Konjunktiv, da sie von einem Infinitiv abhängig sind.
Im Deutschen steht dann i.a. ein daß-Satz im Konjunktiv, der eine Tatsache oder eine einfache Aussage ausdrückt. (Wenn der Konj. Präsens sich nicht vom Indikativ unterscheidet, so benutzt man den Konj. Imperfekt. Läßt sich der Konj. Perf. nicht vom Ind. Perf. unterscheiden, so ersetzen wir ihn durch den Konj. Plusquamperfekt. Z.B. ich komme kann Ind. und Konj. Präs. sein. In indir. Rede werde ich i.a. also nicht sagen ich sagte, daß ich komme, sondern daß ich käme, usw.)

Das erste Satzgefüge reicht bist confirmat und besteht aus drei Teilen: perfacile ... esset; nôn ... possent; und sê ... confirmat.

Zeile 1

Hauptsatz: (Orgetorix) probat Orgetorix beweist; Dativobjekt: illis ihnen (Casticus und Dumnorix). Der a.c.i. perfacile factu esse daß leicht zu tun sei. Dazu gehört als Subjekt der Infinitivsatz conata perficere die Vorhaben auszuführen (was ist leicht zu tun?)
factû ist Supin II, das mit zu übersetzt wird (in der 9.Lektion hatten wir als Beispiel facilis factû leicht zu tun, wir können es im Deutschen einfach weglassen.)
proptereâ quod deswegen, weil leitet einen Nebensatz ein, der den ersten Grund dafür angibt, warum es leicht sei, das Vorhaben auszuführen. Sie erkennen in obtentûrus esset die Coniugatio periphrastica aus der letzten Lektion wieder? Es ist der Konj.Impf. dieser umschreibenden Konjugation. Eigentlich steht nach quod der Indikativ, in der indir. Rede muß jedoch der Konj. stehen.

(Direkt hat er den beiden Stammesfürsten etwa gesagt: die ganze Angelegenheit ist sehr leicht, weil ich doch selbst dabei bin, die Herrschaft in meinem Stamm zu übernehmen.)

Er beweist ihnen, daß es sehr leicht sei, das Vorhaben durchzuführen, weil er selbst dabei sei, die Herrschaft in seinem Stamm zu übernehmen:

Zeile 2

Nach einem Ausdruck des Zweifels, wie nôn esse dubium daß es nicht zweifelhaft sei, oder -im letzten Satz- neque abest suspîciô und der Verdacht ist nicht fern, steht quîn mit Konjunktiv, im Deutschen steht daß.
possent ist 3.Pl.Konj.Impf.Akt. von possum ich kann, oben in der Grammatik sprachen wir davon. Beachten Sie auch, daß das Imperfekt darauf hinweist, daß Gleichzeitigkeit gemeint ist, d.h. daß die Helvetier jetzt die Stärksten seien.
es bestehe kein Zweifel, daß die Helvetier in ganz Gallien am stärksten seien;

Zeile 3

Von confirmat er versichert hängt wieder ein a.c.i. ab: sê ... conciliatûrum (esse) daß er verschaffen werde. conciliatûrum esse ist Inf. Präs. der Coniugatio periphrastica, er steht für den Infintiv Futur. Was wird er verschaffen? die Herrschaften rêgna -für jeden Fürsten eine.
Das Werkzeug, mit dem er dies bewerkstelligen will, sind seine Machtmittel und sein Heer.

er versichert, daß er ihnen mit seinen Machtmitteln und mit seinem Heer die Königswürden verschaffen werde.

Zeile 4

Der Ablativ instrumenti hâc ôrâtiône durch diese Rede zeigt uns, daß wirklich eine Rede gehalten wurde.

Von dieser Rede überzeugt geben sie sich gegenseitig ein eidliches Versprechen

Zeile 5

Von sperant sie hoffen hängt der a.c.i. sêsê potîrî posse daß sie sich bemächtigen können ab. rêgnô occupâtô nach Übernahme der Herrschaft hier besser: wenn die Herrschaft in Besitz genommen sei. Es handelt sich um einen Ablativus absolutus, vgl. oben Grammatik.

und hofften, wenn sie die Herrschaft in Besitz genommen hätten, mit Hilfe von drei derart mächtigen und starken Völkern ganz Gallien beherrschen zu können.
Zeilen 6-8

Auf oportebat es war nötig folgt der a.c.i. poenam segui daß die Strafe folgte. Statt es war nötig, daß dem Verurteilten ... sagen wir besser sollte er verurteilt werden ... oder auch im Falle einer Verurteilung ...
Zeile 9

In der 4.Lektion sahen wir bereits diês cônstitûta der vereinbarte Tag. Hier handelt es sich um einen Termin, d.h. diês ist weiblich. diê cônstitûtâ am vereinbarten Tag ist Ablativus temporis auf die Frage wann?
An dem für die Verteidigung festgesetzten Tag versammelte Orgetorix von allen Seiten seine ganze Gefolgschaft vor Gericht, an die 10 000 Mann; auch alle seine Klienten und Schuldner, von denen er eine große Anzahl hatte, beorderte er dorthin.
Orgetorix kann demnach nicht irgendwer gewesen sein, er war wohl doch eher eine Art Fürst.

Zeile 10

se eripuit ne causam diceret er entzog sich, um sich nicht verantworten zu müssen oder kürzer und besser er entzog sich der Verantwortung.

Merke: nê + Konj. daß nicht, damit nicht, um nicht zu ...
kennzeichnet immer die Abwehr einer Handlung oder eines Gedankens.

(In Finalsätzen wird mit ne verneint, man darf also nicht sagen ut nemo, ut nihil, ut numquam usw., sondern ne quis, ne quid, ne umquam usw.
Beispiel:
stude ne quid temere dicas achte darauf, daß du nichts Unüberlegtes sagst. temere Adv. zufällig, planlos, unüberlegt)

durch sie (mit ihrer Hilfe) entzog er sich der Verantwortung.

Zeile 11

Die Periode in dieser Zeile beginnt mit einem durch cum eingeleiteten Nebensatz: cum cîvitas ... conarêtur als die Bürgerschaft ... versuchte. Subjekt des NS ist demnach cîvitâs, Prädikat: cônârêtur (3.Sing.Konj.Impf.Dep.). Von conaretur hängt ab exsequî durchsetzen mit seinem Objekt iûs suum. Eine Apposition zu civitas ist ob eam rem incitata hierüber aufgebracht. Der Hauptsatz besteht nur aus den Worten Orgetorix mortuus est Orgetorix ist gestorben oder Orgetorix starb.

Der von cum + Konj. Imperf. eingeleitete temporale Nebensatz beschreibt einen Vorgang, der mit der Handlung des Hauptsatzes gleichzeitig abläuft. Es handelt sich wiedereinmal um das cum historicum (oder cum nârrâtîvum das erzählende cum), das man am besten mit als, nachdem übersetzt.
(Das cum temporâle steht mit dem Indikativ und wird meist dann verwendet, wenn ein genauer Zeitpunkt angegeben werden soll. Im Hauptsatz wird oft schon mit tum, eô tempore, nunc usw. darauf hingewiesen. Übersetzt wird es z.B. mit zu der Zeit, als...)

Als die Bürgerschaft, hierüber aufgebracht, versuchte, ihrem Recht mit Waffen (gewalt) Geltung zu verschaffen, und die Behörden eine große Menschenmenge vom Lande zusammenbrachte, starb Orgetorix;

Zeile 12

Der im Hauptsatz ausgedrückte Zweifel verlangt, daß wir daß mit quîn + Konj. übersetzen, cônscîverit ist 3.Sing. Konj.Perf.Akt., vgl. auch oben Zeile 2. In dem eingeschobenen erklärenden Nebensatz ut Helvêtiî arbitrâbantur (3.Pl.Ind.Impf.Dep.) steht ut wie mit dem Indikativ.

und der Verdacht liegt nicht fern, wie die Helvetier glauben, daß er sich selbst getötet hat.
zurück


Übungen zur Lektüre

Lösungen:

zurück

 


Anhang

Heute werden wir unsere Fabel-Lesungen mit zwei letzten Stücken abschließen.

Pêrâs imposuit Iuppiter nôbîs duâs:
propriîs replêtam vitiîs post tergum dedit,
aliênîs ante pectus suspendit gravem.
Hâc rê vidêre nostra mala nôn possumus;
aliî simul dêlinquunt, cênsôrês sumus.

pêra, ae f Ranzen, Beutel, Tasche
im-pônô, posuî, positum 3 + Dat. auf(er)legen
proprius 3 eigen; vitium, iî n Fehler, Laster
repleô, plêvî, plêtum, plêre anfüllen
tergum, î n der Rücken
aliênus 3 fremd (aliênîs vitiîs)
simul = simul ac
sobald als
dêlinquere 3 sich verfehlen (Delinquent)

 

Jupiter hing uns zwei Ranzen um:
den mit eigenen Fehlern gefüllten gab er auf unseren Rücken,
den mit fremden (Fehlern gefüllten anderen) schweren (Ranzen) hing er vor unsere Brust.
Daher können wir unsere eigenen Fehler nicht sehen
;

sobald andere sich verfehlen, sind wir (Sitten)richter.

Ich habe in Fettschrift die Akzente des Senars hinzugesetzt (vgl. Anhang der 11.Lektion), die aber nicht immer mit den Prosaakzenten übereinstimmen.
Wenn Sie selbst die Akzente setzen wollen, so fangen Sie am besten am Versende an, wo regelmäßig ... unbetont, betont steht.

Der 1. und 4. Vers beginnen mit einem sog. Spondeus: ¾ ¾ ; der 2., 3, und 5. haben zu Beginn einem Anapäst: È È ¾ . Im Senar können praktisch alle Versfüße benutzt werden, nur im 6. Fuß muß immer ein Jambus stehen: È ¾ .
Im reinen Senar treffen wir aber nur Jamben an, d.h. sechsmal È
¾ , vgl. die rot markierten Versfüße in der folgenden Tabelle:

Versfuß-Kombinationen für iambischen Oktonar (8 Füße), Senar (6), Quaternar (4) und Binar (2)

Oktonar
   
Senar
       
Quaternar
           
Binar
È ¾
¾ ¾
¾ È È
È È ¾
È È È
È ¾


È È È
È ¾
¾ ¾
¾ È È
È È ¾
È È È
È ¾


È È È
È ¾
¾ ¾
¾ È È
È È ¾
È È È
È ¾


È È È
È ¾
¾ ¾
¾ È È
È È ¾
È È È
È ¾


È È È

 

Jetzt haben wir schon fast alle wichtigen Versfüße kennengelernt, erwähnen müssen wir aber noch das Gegenstück zum Jambus, nämlich den Trochäus: ¾ È , und auch den Daktylus:
¾
È È , der, wie die Tabelle zeigt, ebenfalls im Senar vorkommen kann.

Die vielen erlaubten Versfüße machen dem Dichter das Leben zwar leicht, dem (modernen) Vortragenden aber schwer. Wenn Sie garnicht zurande kommen, lesen Sie einfach unbetont, betont, so ganz falsch wird es dann auch nicht. Wenn Sie diesen Rat bei folgendem Vers befolgen, stimmt sogar alles:

Beatus ille qui procul negotiis

Be-a-tus il-le qui pro-cul ne-go-ti-is
È ¾ È ¾ È ¾ È ¾ È ¾ È ¾

Es ist ein reiner iambischer Senar. Das i in ille und das u in procul sind positionslang.

 

Noch eine letzte bemerkenswerte Fabel von den Fröschen und der Sonne (Fabulae 1,6)

Vîcînîs fûris celebres vidit nuptias
Aesôpus et continuô narrare incipit:
Uxôrem quondam Sôl cum vellet dûcere,
clâmôrem rânae sustulêre ad sîdera.
Convicio permotus quaerit Iuppiter
causam querelae. Quaedam tum stagni incola:
"Nunc", inquit, "omnês ûnus exûrit lacûs
côgitque miseras ârida sêde êmorî.
Quidnam futurum est sî creârit lîberôs?"

Erklärungen:

vîcînîs ist Abl.Pl. von vîcînum, î n die Nachbarschaft, Nähe
fûr, fûris m Dieb
continuô Adv. sogleich
sôl, sôlis Sonne (maskulin!)
cum + Konj.Impf. als (cum historicum)
uxôrem ducere heiraten
sus-tollô, sustulî, sublâtum, tollere emporheben; sustulêre = sustulêrunt 3.Pl.Ind.Perf.Akt.
convîcium, î n lautes Geschrei
omnês lacûs = Akk.Pl.
ex-ûrô, ussî, ustum, ex-urere verbrennen, austrocknen
côgit (nôs) miserâs êmorî er zwingt uns Elenden dahinzusterben (a.c.i)
quidnam futurum est was sein wird, futurum Part.Fut. von esse, stimmt mit quidnam was denn überein
creârit = creâverit Futur II von creâre 1 erschaffen, zeugen

In der Nachbarschaft sieht Äsop die festliche Hochzeit eines Diebs
und beginnt sogleich zu erzählen
:
Als die Sonne einst heiraten wollte,
die Frösche erhoben ein Gequake bis zu den Sternen.
Durch den Lärm aufgestört erfragte Jupiter
den Grund des Streites. Darauf eine gewisse Bewohnerin des Sees
:
"Jetzt", sagt sie, "trocknet eine (Sonne) alle Gewässer aus
und zwingt (uns) Armen auf ausgetrocknetem Boden zu sterben.
Was wird denn geschehen, wenn sie Kinder gezeugt haben wird
?"

Bei Äsop lautet diese Fabel folgendermaßen:

Es war Sommer und man feierte die Hochzeit der Sonne.
Alle Tiere freuten sich darüber, selbst die Frösche zeigten sich zufrieden.
Jedoch einer von ihnen rief aus
: "Ihr Unverständigen, warum freut ihr euch?
Denn, wenn die Sonne, obgleich sie alleine ist, alle Pfützen austrocknet,
welches Unglück werden wir zu erleiden haben, wenn sie einen Sohn zeugen wird,
der ebenso ist wie sie
?"
Es ist nämlich so, daß viele Menschen mit unklarem Verstand sich über Dinge freuen,
an denen garnichts Lustiges dran ist.

Jetzt haben wir einige der kürzeren Fabeln des Phaedrus gemeinsam gelesen (erarbeitet?), und ich hoffe, Sie haben jetzt Lust, sich auf eigene Faust in diese interessante Literatur-Gattung weiter einzuarbeiten (lesen?). Sie finden im Internet alle erdenklichen Hilfen. Lesen Sie auch einmal den kritischen Phaedrus-Lexikonartikel (Metzler Lexikon antiker Autoren) von Severin Koster in

http://adyton.phil.uni-erlangen.de/~p2latein/personal/phaedrus.html

Ich zitiere hier einen kleinen Ausschnitt daraus:

"Wenn auch versucht wurde, Phaedrus aus sozialkritischer Sicht zu würdigen, so ist doch festzustellen, daß er nicht mehr als ein Poet ist, der vergeblich versucht hat, zum großen Dichtertum aufzusteigen. Weder war aber seine Literaturform groß, noch die Fähigkeit, das Kleine in Größe zu zeigen. Manches in seinem Gehabe hat er wie die Großen, von Lukrez bis Ovid, zu machen versucht und geglaubt, dies allein reiche aus, den Parnaß zu erklimmen. Einsichtslose Hartnäckigkeit ließ ihn aber anecken und durchfallen. Immerhin aber bietet er das seltene, wenn nicht gar einzige Beispiel eines antiken Autors, das uns die Gesinnung eines Vertreters der nicht privilegierten Schicht in wünschenswerter Klarheit zeigt, allerdings keinen Schriftsteller dieser Klasse, vor allem aber auch keinen von Klasse."

 

zurück

zurück zur Inhaltsseite