6.
Lektion - lectio sexta (sex 6)Tarquinius Priscus und Tanaquil
In der vorigen Lektion begannen wir damit, einige Zusätze zum Lebenslauf des Tarquinius Priscus zu geben. Da ich Sie auf manche merkenswerte Einzelheiten hinwies, kamen wir nicht sehr weit, d.h. wir kamen garnicht weit, denn wir übersetzten nur einen Satz:
Ancô Mârciô rêgnante
Lucius Tarquinius Prîscus, fîlius Dêmarâtî Corinthiî, Tarquiniîs, ex urbeHeute soll das anders werden: wir werden zwei Sätze übersetzen!
Tarquinius vir fortis ac strênuus erat, Tanaquil fêmina tam superba, ut regnum appeteret
.Überfliegen Sie dies erst einmal, und machen Sie sich ein grobes Bild vom Satz. Alsdann sollten Sie die unbekannten Vokabeln im Wörterbuch nachschlagen -Sie haben doch ein Wörterbuch?
Also gut, hier sind die Wörter:
fortis, e stark, tüchtig, tapfer; strênu-us 3 rüstig, kräftig, unternehmungslustig
Wir können selbst entscheiden, welches Wortpaar wir wählen (ac und verbindet ähnliche Wortpaare). Wählen wir doch tapfer und unternehmungslustig.
Der erste Teil ist schnell übersetzt: Tarquinius war ein tapferer und unternehmungslustiger Mann
Jetzt stellen wir fest, daß die Tanaquil kein Verb bei sich hat. Offenbar aber soll auch sie teilnehmen am erat ihres Mannes. tam superba bedeutet derart stolz, so stolz.
Wir sehen ein ut und wissen, daß ein Konjunktiv kommen muß. Da appetere-t der Form nach ein Infinitiv mit der Endung der 3. Pers. Sing. ist, muß es -wie wir seit der 4.Lektion wissen- ein Konjunktiv Imperfekt sein (eigentlich wird natürlich ein -re- zwischen Stamm und Endung geschoben!). appetere heißt selbstverständlich Appetit haben auf, streben nach mit den Stammformen ap-petô, petîvî, petîtum, petere. Worauf hat sie nun Appetit? Auf die Herrschaft, auf das Regnum: rêgnum, î n die Königsherrschaft.
Dieses Streben nach der Königsherrschaft ist eine Folge ihres unmäßigen Stolzes, daher heißt der Gliedsatz (Nebensatz) ut rêgnum appeteret Folgesatz, bzw. Konsekutivsatz.
Der ganze Satz lautet auf Deutsch demnach so:
Tarquinius war ein tapferer und unternehmungslustiger Mann, Tanaquil eine derart stolze Frau, daß sie nach der Königsherrschaft strebte.
Weiter geht's!
Tarquinius cum Romam venisset, ab Ancô rêge nôn sôlum benîgnê exceptus (spr. ex-keptus) est, sed etiam virtûte et lîberâlitâte paullo post rêgis grâtiam sibi conciliâvit.
Zunächst wieder grob überfliegen, um eine gewisse Vorstellung vom Inhalt zu erlangen. Unbekannte Wörter übersetzen. Bleibt Ihnen der Satz unklar, so analysieren Sie ihn, indem Sie zunächst den Hauptsatz zu bestimmen suchen.
Der Hauptsatz darf nicht mit einer Konjunktion beginnen, wie etwa Tarquinius cum Romam venisset = cum Tarquinius Romam venisset. Hier kann es sich nur um einen Nebensatz handeln. (Derartige Nebensätze mit cum historicum haben wir gestern bis zum Überdruß durchgekaut: venisset ist Konjunktiv Plusquamperfekt!!
Woran erkennt man das? Natürlich am -isse-, is doch klar! Der Konj. Plqupf. muß stehen, wenn die Handlung im cum-Satz vor der Handlung des HS liegt!)
Auch nach dem zweiten Komma steht eine Konjunktion, wieder folgt ein Nebensatz.
Der HS heißt: ab Ancô rêge exceptus est er ist von König Ancus empfangen worden.
exceptus est ist 3.Sing.Indik.Perf.Passiv, ab von regiert den Ablativ. Ancus rêx König Ancus. Erinnern Sie sich an Orpheus Poeta Dichter Orpheus, der laut Aristoteles nie gelebt haben soll? (5.Lekt.).
Als Tarquinius nach Rom gekommen war, wurde er von König Ancus empfangen
Hier habe ich das Perfekt ist empfangen worden in das Imperfekt wurde empfangen umgeformt, so wie es der bessere deutsche Erzählstil verlangt.
Was machen wir mit nôn sôlum? nicht nur? Da es dieselbe Färbung hat wie sed etiam sondern auch, brauchen wir kein weiteres Wort darüber zu verlieren. Am langen ê sehen wir, daß benîgnê ein Adverb sein muß, und zwar zum Adjektiv benîgnus 3 gütig, wohlwollend:
Als Tarquinius nach Rom gekommen war, wurde er von König Ancus nicht nur freundlich aufgenommen, sondern auch...
Das Verb des letzten Nebensatzes ist conciliavit (spr. kon-ki-li-âvit) 3.Sing.Ind.Perf.Akt. von conciliâre geneigt machen, gewinnen, das Subjekt er steckt in diesem Verb.
lîberâlitâs, âtis f Freigebigkeit; virtûs, ûtis f Kraft, Tapferkeit, Tugend, Tüchtigkeit
paullô post bald darauf; grâtia, ae f Grazie, Gunst, gratiâs agere sich bedanken.
Die Ablative virtute, liberalitate antworten auf die Frage wodurch?, d.h. sie sind adverbiale Bestimmungen des Grundes, ablativus causae. Wodurch erwarb er sich die Gunst des Königs? Durch Tüchtigkeit und Freigebigkeit. Der Akk. gratiam ist direktes Objekt zu conciliavit. Wem erwarb er sich die Gunst? Sich. sibi ist das indirekte Objekt zu conciliavit.
sibi ist der Dativ des reflexiven (rückbezüglichen) Personal-Pronomens. Seine Formen sind im Singular und im Plural gleich. Es gibt keinen Nominativ. Der Genitiv lautet suî, Dat. sibi, Akk. und Ablativ sê, â sê. Damit haben wir alles beisammen:
Als Tarquinius nach Rom gekommen war, wurde er von König Ancus nicht nur freundlich aufgenommen, sondern gewann sich auch durch Tüchtigkeit und Freigebigkeit bald darauf die Gunst des Königs.
In der nächstenLektion werden wir noch zwei Sätze hinzufügen.
Rückblick
In der vorigen Lektion hatte jemand behauptet, Lesbia sei sehr tugendhaft gewesen:
Illa Lesbia quam Catullus ûnam plûs quam sê amâvit, valdê casta erat.
Id, quod dê Lesbiâ scrîbis (dîcis), falsum est.
Das, was du über Lesbia schreibst (sagst), ist falsch.
Ich will an dieser Stelle nichts weiter zu diesem Thema sagen. Im Anhang werden wir uns allerdings damit beschäftigen, denn Frauen von der Art der Lesbia haben nicht nur im klassischen Rom Verwirrung und Unheil über die arme Männerwelt gebracht. Das muß schließlich einmal gesagt werden.
Hier will ich vielmehr anknüpfen an die Formuliereung id, quod dê...dîcis, falsum est. Man kann sie oft gebrauchen.
So könnte man den Satz die Dinge, die du über das Greisenalter schreibst, sind wahr folgendermaßen ins Lateinische übersetzen: ea, quae dê senectûte srîbis, vêra sunt. Auch folgende Version ist möglich: quae dê senectûte srîbis, ea vêra sunt.
senectûs, ûtis f das Greisenalter; senex, sen-is, -î,-em,-e der Greis, des Greises...
Cicero schrieb kurz vor seinem Tode, 44 v.Chr., eine philosophische Schrift über das Alter
Cato maior de senectute, die er seinem Freund Atticus widmete, der damals 65 Jahre alt war. Cicero war drei Jahre jünger. Der fingierte Dialog spielt um150 v.Chr.
Zu Beginn wird der damals 84 jährige Marcus Portius Cato, Cato d.Ä., von Gaius Laelius (consul 140 v.Chr.) und Scipio Aemilianus (Africanus d.J., cons 148, 134 v.Chr.) aufgefordert, ihnen zu erklären, wie er mit den Beschwerden des Greisenalters fertig werde.
Cato widerlegt im Rest der Schrift die vier Hauptvorwürfe, die man gegen das Alter vorzubringen pflegt. Im Laufe der Jahrhunderte hat De Senectute viele still zustimmende Leser gefunden.
Viele laute Mitsinger fand ein mittelalterliches Studentenlied, in dem Jugend und Greisenalter einander gegenübergestellt werden: Gaudeamus igitur. Wollen Sie es kennen lernen?
Gaudeâmus igitur iuvenês dum sumus. |
Freuen wir uns also da wir jung sind. |
Schöne Grammatik und erdnahe Philosophie, nicht war? Die beiden letzten Zeilen sind mit traurigem Unterton zu singen.
Die Melodie zu den insgesamt 7 Strophen stammt von einem Anonymus (1710?).
Gaudeâmus von gaudêre fröhlich sein ist ein milder Befehl, eine Aufforderung an die 1.Person Plural, doch bitte froh zu sein. In der 4. Lektion nannten wir diesen Konjunktiv einen Hortativ.
habêbit ist selbstredend 3. Pers.Sing.Ind.Fut.I.Aktiv er, sie, es wird haben. (Sie wollen wissen, woher ich das so genau weiß? Das steht in der 4.Lektion, Grammatik. Dort steht auch, daß die Silbe bi bzw. bu das Bildungselement des Futurs ist. Ist schon doll, was alles man so schnell vergessen kann! Tja, wenn uns erstmal die humus hat, brauchen wir uns um nichts mehr Gedanken zu machen, auch nicht darum, warum ich wohl die Humus gesagt habe. Es ist so, im Lateinischen heißt es -mit lauter kurzen u- humus, î f der Erdboden. Auch unser schöner Ausdruck er biß ins Gras ist guten alten lateinischen Ursprungs: humum ore momordit heißt es irgendwo bei Vergil )
Jetzt gebe ich Ihnen noch einen Hinweis auf eine weitere Möglichkeit, interaktiv zu üben. Gehen Sie mal zur Seite http://www.umsl.edu/divisions/artscience/forlanglit/oldrills/index.html , dort finden Sie zu den vielen Kapiteln des Oxford Latin Course eine umfangreiche Sammlung von Übungsaufgaben, leider wieder auf Englisch.
Nochmals a.c.i. (Wiederholung)
In der letzten Lektion machten Sie Bekanntschaft mit dem lateinischen daß-Ersatz, dem a.c.i.
Sie erfuhren, daß man im Hause Cicero nicht sagen konnte ich höre, daß die Tochter ißt, sondern nur ich höre die Tochter essen audiô fîliam edere.
In diesem Fall können wir auch im Deutschen auf daß verzichten, im allgemeinen aber sind wir auf einen daß-Satz angewiesen. Der Lateiner kannte diese Möglichkeit nicht. Das ist interessant, denn die Tochtersprachen pflegen sich so auszudrücken wie wir. Z.B. heißt ich glaube, daß Gott existiert auf Portugiesisch creio que Deus existe, also mit que = daß. Man konnte den deutschen Satz Wort für Wort ins Portugiesische übersetzen. Das geht im Lateinischen nicht, man muß hier sagen ich glaube Gott existieren crêdô Deum esse. (Die entsprechende portugiesische Formulierung creio Deus existir ist ebensowenig Portugiesisch wie ich glaube Gott existieren Deutsch ist.)
Auch das Verb videô hat oft einen Akkusativ bei sich, der Subjekt eines Infinitivs ist, also wieder einen a.c.i., z.B.:
videô marîtum meum in cubiculô dormîre.
cênseô mê admîrâbilem marîtum habêre, eum adôrô.
Ich sehe meinen Mann im Schlafzimmer schlafen oder ich sehe, daß mein Mann im Schlafzimmer schläft.
Ich meine, einen bewundernswerten Mann zu haben, ich verehre ihn.
cubiculum, î n Schlafzimmer
Amanda, quid est tibi?
videô tê genû (crûs) dextrum frêgisse.Quid accidit?Auch nach unbestimmten Ausdrücken steht der Infinitiv mit dem Akkusativ als Subjekt,
Subjektsakkusativ.
Z.B.: opus est tê multôs librôs legere in cubiculô tuô.
Du mußt viele Bücher in deinem Schlafzimmer lesen.
Auch den folgenden Fall können wir zu den unbestimmten Ausdrücken rechnen:
Mea interest tê vocâbula Latîna êdiscere.
Mir ist daran gelegen, daß du die lateinischen Vokabeln auswendig lernst.
Gebrauch der Tempora
Es gibt drei Zeitstufen und fünf Aktionsarten:
Die Tempora des Indikativs bezeichnen aber auch noch das sogenannte Zeitverhältnis zwischen Neben-und Haupthandlung. Wir sprechen von Gleichzeitigkeit, Vorzeitigkeit und Nachzeitigkeit.
In der 5.Lektion, als die Rede vom cum historicum war, betonten wir bereits, daß es wichtig ist, festzustellen, ob der Nebensatz dem Hauptsatz gegenüber vor-, gleich- oder nachzeitig ist.
Wenn die lateinische Sprache völlig eindeutig sein wollte, so müßte sie -um 3 Zeitstufen und 5 Aktionsarten auszudrücken- 15 genau bestimmte Tempora haben (tempora definita). Das ist zum Glück nicht der Fall. Die unten folgende Übersichts-Tabelle zu Zeitstufen und Aktionsarten zeigt, daß sie mit nur 7 Tempora arbeitet. Der jeweilige Zusammenhang muß dann die fehlenden Informationen liefern. Denn wie sollte ich z.B. wissen, ob fugiô eine ingressive oder eine durative Handlung ausdrückt, wenn der Textzusammenhang es mir nicht sagt? fugiô kann nämlich heißen ich ergreife die Flucht oder ich bin auf der Flucht. fugiô, fûgî, fugitûrus, fugere fliehen
Nehmen wir zunächst die Gegenwart als Beispiel:
Aktionsart |
Beispiel (fugere fliehen) |
Tempus |
ingressiv |
fugiô ich fliehe = ich ergreife die Flucht |
Präsens |
imperfektisch-durativ |
fugiô ich fliehe = ich bin auf der Flucht |
Präsens |
perfektisch |
fûgî ich bin geflohen = ich bin jetzt nicht mehr da (ich bin weg) |
Perfekt |
Zu den unvollendeten Handlungen, die vom Imperfekt beschrieben werden, zählen wie gesagt neben den durativen auch die iterativen und die konativen Handlungen.
Das präsentische Perfekt, perfectum praesens, (auch konstatierendes, feststellendes, Perfekt -oder resultatives Perfekt genannt) bezeichnet einen Vorgang, der in der Vergangenheit zum Abschluß kam, nun aber als Zustand gegenwärtig ist:
Deus mundum creavit.
Gott hat die Welt geschaffen (und uns damit ein fertiges Problem hinterlassen).
Epistula scripta est.
Der Brief ist geschriebem (und jetzt liegt er als fertiges Schriftstück auf dem Tisch).
Vîxî. Ich habe gelebt (und jetzt bin ich damit fertig).
Pater advênit. Der Vater ist angekommen (und jetzt bleibt er da).
Rêx mortuus est. Der König ist gestorben (und jetzt ist er tot).
Wir kennen bereits folgende Perfekta, die im Deutschen durch Präsentia übersetzt werden und damit deutlich den erreichten Zustand ausdrücken:
ôdî ich habe mich erzürnt (= jetzt hasse ich),
nôvî ich habe kennen gelernt (= jetzt weiß ich). Merken wir uns noch
meminî ich habe mir gemerkt (= ich erinnere mich).
Für Vergangenheit und Zukunft könnten wir uns ebenfalls je eine derartige Tabelle anlegen. Einfacher aber ist es, alles in einer einzigen Darstellung zusammenzustellen.
Zeitstufen und Aktionsarten
|
Zeitstufen |
||
Aktionsart |
Vergangenheit |
Gegenwart |
Zukunft |
eintretend |
Perfectum historicum fûgî ich floh = ich ergriff die Flucht |
Praesens fugiô ich fliehe = ich ergreife die Flucht |
Futurum I fugiam ich werde fliehen = ich werde die Flucht ergreifen |
dauernd |
Imperfectum fugiêbam ich floh = ich war auf der Flucht |
Praesens fugiô ich fliehe = ich bin auf der Flucht |
Futurum I fugiam ich werde fliehen = ich werde auf der Flucht sein |
vollendet |
Plusquamperfectum fûgeram ich war geflohen = ich war damals nicht mehr da |
Perfectum praesens fûgî ich bin geflohen = ich bin jetzt nicht mehr da (ich bin weg) |
Futurum II fûgero ich werde geflohen sein = ich werde dann nicht mehr da sein |
Schauen Sie sich das fugiô-Beispiel bitte genau an. Sie werden dann sicher besser verstehen, wovon die Rede ist. Sie sollten diese Tabelle nicht verlegen, sie sollte immer in Reichweite sein!
Betrachtwn wir einige Anwendungen zur Tabelle:
In der ersten Spalte sehen wir, daß das lat. Perfekt eine in der Vergangenheit eintretende Handlung bezeichnet. Das lat. Imperfekt bezeichnet aber eine in der Vergangenheit andauernde Handlung, einen Zustand. Auf diese Erscheinung hatte ich Sie bereits in der 2.Lektion in dem Dialog-Beispiel hingewiesen. Dort gab ein Schüler als Grund für sein Fernbleiben von der Schule an: quia aegrôtus eram. Das Imperfekt eram ich war schildert einen Zustand. Ganz am Ende des Dialogs sagt er noch: ich war krank, aber der Arzt hat mich wieder gesund gemacht. Der auf das Kranksein folgende Eingriff des Arztes ist eine in der Vergangenheit eintretende Handlung, sie muß demnach im Perfekt stehen: sed medicus me sanavit.
Also gut merken:
Die Schilderung eines Zustandes in der Vergangenheit geschieht im Imperfekt (
erat).Eine innerhalb eines Berichtes neu eintretende, einmalige, abgeschlossene Handlung erscheint im Perfekt. (perfectus, a, um vollendet, abgeschlossen). Oft gelingt uns im Deutschen mit Hilfe von Hilfsverben oder von besonderen Verben (geriet, erfuhr, ergriff usw.) die Einmaligkeit der Handlung auszudrücken.
Das Musterbeispiel für einmalige und abgeschlossene Handlungen ist Caesars Dreisprung:
vênî, vîdî, vîcî : drei perfekte Perfekte.
Im Deutschen übersetzen wir sie durch Imperfekte ich kam, ich sah, ich siegte. Die Bezeichnung Imperfekt trifft in diesem Fall nicht zu, da es sich doch nicht um unvollendete Handlungen dreht. Man benutzt hier gelegentlich die Bezeichnung Präteritum (praeterire = vorbeigehen, vergehen).
Oft wird mit Hilfe des Imperfekts ausgedrückt, daß es sich um den Versuch einer Handlung in der Vergangenheit handelt (imperfectum dê cônâtû; cônâtus, ûs m der Versuch). Z.B. die Freunde versuchten mich zu überreden (persuâdêre), aber ich habe ihnen nicht geglaubt.
Amîcî mihi persuâdêbant, sed eîs (iîs) nôn crêdidî.
Jetzt brauchen wir noch ein Beispiel für die Benutzung des Imperfekts bei einer imperfektisch-iterativen Aktionsart in der Vergangenheit. Nehmen wir etwas Römisches:
Rômânî quotannîs duôs cônsulês creâbant. Die Römer wählten jährlich zwei Konsuln. Wir können dieses Gewohnheit noch deutlicher ausdrücken: Die Römer pflegten jährlich zwei Konsuln zu wählen.
Das bisher Gesagte bezieht sich auf den Gebrauch der Tempora des Indikativs in Hauptsätzen.
Die Tempora des Indikativs in Nebensätzen bezeichnen i.a. das Zeitverhältnis der untergeordneten Handlung zu der im Hauptsatz. Wir wissen schon, daß die Handlung des Nebensatzes zu der des Hauptsatzes gleichzeitig, vorzeitig oder nachzeitig sein kann.
Wir werden bei späterer Gelegenheit, wenn wir von der sogenannten consecutio temporum sprechen, auf diesen Punkt zurückkommen.
Noch ein Wort zum Futur. Ist Ihnen schon aufgefallen, daß das Futur in der deutschen Sprache dabei ist auszusterben? Sagen Sie: Gott sei Dank, morgen kommt Lotte. Oder Gott sei Dank, morgen wird Lotte kommen? Beide Male ist etwas Künftiges gemeint. Der erste Satz benutzt das Präsens, der zweite das Futur.
Noch ein Beispiel: Sagen Sie: Bald habe ich Zeit, und dann lerne ich Latein. Oder sagen Sie lieber: Bald werde ich Zeit haben, und dann werde ich Latein lernen. (Oder gehören Sie zu den Personen, die weder das eine, noch das andere sagen? Doch wohl nicht!)
Ich glaube, der Trend geht -schon seit geraumer Zeit!- in Richtung Präsens, kein Futur mehr!
Natürlich benutzen wir zusammen mit dem Präsens ein Adverb (morgen, bald, dann usw.), um das künftige Geschehen zu signalisieren. (Auch im Spanischen oder Portugiesischen beobachtet man eine ähnliche Erscheinung. Die eigentlichen Futurformen werden fast nie benutzt, weil sie als zu "hart" empfunden werden. Man benutzt stattdessen Umschreibungen des Futurs.)
Was machte der Lateiner in solchen Fällen? Verfuhr er ebenso?
In der Volkssprache gelegentlich, in der klassischen Sprache eigentlich nie: man benutzte das Futur.
Einige Beispiele:
Crâs tê visitâbô. Morgen besuche ich dich.
Ego vocâbô meum frâtrem et statim parâbô cênam. Ich rufe meinen Bruder und bereite sofort das Abendessen.
Cênam tuam mox hîc erit. Dein Abendessen ist gleich hier.
Prîmum dabô tibi pilulam quae dolôrem levâbit. Zuerst gebe ich dir eine Pille, die den Schmerz mildert (erleichtert),
Das Verb dô, dedî, datum, dare geben hat im ganzen Präsenssystem einen kurzen Stammvokal a -außer in der Form dâs. Wir haben also im Präsens: dô, dâs, dat, damus, datis, dant. Im Imperfekt: dabam, dabâs, dabat, dabâmus, dabâtis, dabant und im Futur: dabô, dabis, usw.
deinde îbimus in forum holitôrium. dann gehen wir zum Gemüsemarkt.
Das Verb eô, iî, itum, îre gehen ist unregelmäßig. Das Futur lautet: î-b-ô, î-b-i-s, î-b-i-t,
î-b-i-mus, î-b-i-tis, î-b-u-nt. Der ursprüngliche Präsensstamm hieß ei-. Vor den dunklen Vokalen, also vor a, o, u, wurde er zu e, sonst zu i. Im Präsens haben wir daher zwei Formen, die mit e beginnen: e-ô, î-s, i-t, î-mus, î-tis, e-u-nt. Das Part.Präs. von îre lautet îens gehend. Der Genitiv ist aber -dunkler Vokal!- euntis.
Beachten Sie bitte, daß das o in forum, î n Marktplatz kurz ist.
holitor, ôris m der Gemüsegärtner.
Was nun das Futur II angeht, so muß man sich klarmachen, daß es auf der Zeitachse (Zeitstrahl) -vom Präsens aus gesehen- nicht hinter, sondern vor dem Futur I liegt:
-----Präsens--------Futur II------------Futur I---------
à ZeitDas folgende Beispiel wird alles klären:
Wenn wir die Einwohner bewaffnet haben werden, werden wir die Römer besiegen.
Also: zuerst müssen wir die Einwohner bewaffnet haben (Futur II wir werden bewaffnet haben), dann werden wir die Römer besiegen (Futur I wir werden besiegen).
Wie bildet man aber die Futur-Formen im Aktiv? Nun, vom Futur I wissen wir, daß man zwischen Präsens-Stamm und Endung (-,s,t,mus,tis,nt) -b-i- einschieben muß: vocâ-b-ô ich werde rufen (die erste Pers.Sing. fällt immer aus der Reihe!), vocâ-b-i-s du wirst rufen, usw.
b ist das Tempuszeichen für das Futur I, i ist ein Bindevokal, ohne den man die Ausgänge nicht aussprechen könnte. Man nennt -bi- das Bildungselement. Da fällt mir ein, daß auch die 3.Pers.Pl. eine Sonderling ist, denn sie heißt nicht vocâ-b-i-nt, sondern vocâ-b-u-nt sie werden rufen. Aber eine solche kleine Ausnahme regt Sie doch hoffentlich schon nicht mehr auf.
Beim Futur II ist alles ebenso einfach: Zwischen Perfekt-Stamm und Endung wird das Bildungselement
-eri- geschoben. (Oder: man hängt die Futur I-Formen von esse an den Perfekt-Stamm: erô, eris, erit, erimus, eritis, erunt; -statt erunt muß man aber erint nehmen.)Woran erkennen Sie übrigens den "Pervekt"-Stamm? Am v. Das ist Mnemotechnik!
Natürlich macht die 1.Pers.Sing. wieder eine Ausnahme. Während von der 2.Person an alles ordnungsgemäß abläuft: vocâv-eri-s, du wirst gerufen haben, vocâv-eri-t, vocâv-eri-mus,
vocâv-eri-tis, vocâv-eri-nt, heißt die 1.Pers.Sing. vocâv-er-ô ich werde gerufen haben.
(Bis auf die 1.Pers.Sing. stimmen die Ausgänge des Futurs II mit denen des Konjunktivs Perfekt überein. Der Konj. Perf. hat für die 1. Pers. Sing. nicht -er-ô, sondern -eri-m.)
Wenn Sie jetzt erfahren, daß bewaffnen armâre heißt, also ein ganz unauffälliges Verb der 1.Konjugation, so können Sie doch sicher den Einführungssatz übersetzen -oder? Er heißt natürlich auf Latein:
sî incolâs armâverimus, Rômânôs superâbimus.
Das Futur II heißt auch futûrum exâctum, d.h. vollendetes oder ausgeführtes Futur. Es bezeichnet, vgl. oben die Tabelle zu den Aktionsarten!, eine in der Zukunft vollendete Handlung.
Und noch ein Beispiel:
Mâtrem tuam aestâte Athênîs expectâ-bi-mus ubi Rômam relîqu-eri-t.
Wir werden deine Mutter im Sommer in Athen erwarten, wenn sie Rom verlassen haben wird, (wenn sie Rom verlassen hat).
Athênae, ârum Athen kommt nur im Plural vor, Plurale tantum. Pluralia der 1. und 2. Dekl. und Städtenamen nach der 3. Dekl. stehen auf die Frage wo? im Ablativ, daher Athênîs.
Versuchen Sie zu übersetzen
Lösungen:
Lucius Tarquinius, der letzte der römischen Könige, erhielt bald den Beinamen Superbus, der Stolze. Zu Beginn seiner Regierung führte er die alte Kopfsteuer wieder ein, ließ die servianischen Gesetzestafeln zerschlagen und die Anhänger des Servius enthaupten.
Mit den Latinern schloß er einen Freundschaftspakt. Die Volsker und alle anderen feindlichen Nachbarn wurden besiegt.
Als Tarquinius keine Feinde mehr zu befürchten hatte, widmete er sich dem Ausbau und der Verschönerung Roms. Der Circus Maximus erhielt Sitzreihen, ein weitverzweigtes Kanalsystem führte die Abwässer in die Cloaca Maxima, von wo aus sie in den Tiber und schließlich ins Meer gelangten. Er ließ den Iupitertempel auf dem Kapitol bauen und prächtig ausstatten.
Bald ging ihm jedoch das Geld aus, und er begann, die Stadt Ardea zu belagern. In der Stadt Collatia vergewaltigte Sextus Tarquinius, jüngster Sohn des Tarquinius Superbus, Lukretia, die Frau des Collatinus. Im Beisein von Ehemann, Vater und Freund Lucius Iunius Brutus erstach sie sich.
(Die Mutter des Brutus war Tarquinia, eine Schwester des Königs, der den Bruder des Brutus und seinen Vater bereits hatte töten lassen. Um nicht auch ermordet zu werden, gab Brutus sich blöde, brutus.)
Brutus schwor, daß er diese Untat rächen und die tarquinische Sippe verfolgen werde. Nie wieder solle ein König über Rom herrschen.
Brutus sammelte ein Heer und marschierte nach dem noch immer belagerten Ardea. Das Belagerungsheer empfing ihn wie einen Befreier. Das römische Volk verschloß dem zurückkehrenden Tarquinius die Tore und verbannte ihn auf Lebenszeit. Der gewesene König floh nach Caere ins Land der Etrusker. Sextus Tarquinius wurde von den Gabinern getötet, bei denen er Zuflucht zu finden hoffte.
Man schrieb (ungefähr) das Jahr 510 v.Chr. Rom war seine Könige los, die Republik wurde ausgerufen. Nie wieder wagte jemand, sich König zu nennen. Als Caesar später einmal Anzeichen in dieser Richtung zu machen schien, wurde er von einem neuen Brutus ermordet.
Die bisher vom König ausgeübte Gewalt wurde zwei Konsuln übertragen.
Die ersten Konsuln waren Lucius Iunius Brutus und Lucius Tarquinius Collatinus, der Gatte der Lucretia, die durch ihren Tod Ursache für die Befreiung von der Tyrannei geworden war.
L.Tarquinius sollte jedoch nicht lange Konsul bleiben; von Freunden und Senatoren, die jetzt übrigens patres conscripti hießen, inständig gebeten, verließ er in Ehren die Stadt und siedelte nach Lavinium über. Grund für diese Aktion: der Name Tarquinius.
Noch ein Wort zur Bezeichnung patres conscripti. Tarquinius hatte viele Senatoren hinrichten lassen. Nachdem er in die Verbannung geschickt worden war, ließen die Konsuln neue Senatoren aus dem Stand der Ritter wählen, um den Senat wieder auf die alte Zahl von 300 Mitgliedern zu bringen. Diese nachgewählten Senatoren aus dem Ritterstand wurden -im Gegensatz zu den Senatoren aus dem Stand der Patrizier- Conscripti genannt, was soviel bedeut wie die Nachgewählten. Als Anrede des Senats wurde dann patres conscripti benutzt.
Brutus fiel im Zweikampf gegen Arrun, den Sohn des vertriebenen Königs. Über das Schicksal des Königs selbst erfahren wir in der nächsten Lektion Genaueres.
Eutropius [8] (de ultimo regum Romae)
1. |
L. Tarquinius Superbus, septimus atque ultimus rêgum, Volscôs, quae gens ad Campâniam euntibus non longe ab urbe est, vicit, Gabiôs cîvitâtem et Suessam Pometiam subêgit, cum Tuscîs pacem fêcit et templum Jovis in Capitolio aedificavit. |
2. |
Posteâ Ardeam oppugnâns, in octavo decimo miliario ab urbe Roma positam civitatem, imperium perdidit. |
3. |
Nam cum filius eius, Sextus Tarquinius, nobilissimam fêminam Lucrêtiam eandemque pudicissimam, Collatînî uxorem, stuprasset eaque dê iniuriâ marîtô et patrî et amîcîs questa fuisset, in omnium cônspectû se occîdit. |
4. |
Propter quam causam Brutus, parêns et ipse Tarquinii, populum concitâvit et Tarquinio adêmit imperium. |
5. |
Mox exercitus quoque eum, qui civitatem Ardeam cum ipsô rêge oppugnâbat, reliquit; |
6. |
veniensque ad urbem rêx portîs clausîs exclûsus est, cumque imperâsset annôs quattuor et vîgintî cum uxôre et lîberîs suîs fûgit. |
7. |
Septem rêgês Rômae ducentôs quadrâgintâ três annôs rêgnavêrunt. |
8. |
Rômae expulsîs rêgibus duo cônsulês creâtî sunt. |
wörtliche Übersetzung:
1. |
Lucius Tarquinius Superbus, siebenter und letzter der Könige, die Volsker, welches Volk, wenn man in Richtung Campania geht, nicht weit von der Stadt (Rom) entfernt wohnt, er hat besiegt, die Stadt Gabii und Suessa Pometia er hat unterjocht, mit den Etruskern Frieden er hat geschlossen und einen Iupitertempel auf dem Kapitol er hat gebaut. |
2. |
Später Ardea belagernd, 18 Meilen von der Stadt Rom gelegene Stadt, die Herrschaft er hat verloren. |
3. |
Denn nachdem sein Sohn, Sextus Tarquinius, die höchst edle Frau Lucretia und ebendieselbe sehr keusch, die Frau des Collatinus, vergewaltigt hatte und sie über das Unrecht vor dem Ehemann und Vater und Freunden sich beklagt hatte, vor aller Augen sie hat sich getötet. |
4. |
Wegen welcher Ursache Brutus, Verwandter und (auch) selbst des Tarquinius, das Volk er hat aufgewiegelt und dem Tarquinius er hat entrissen die Herrschaft. |
5. |
Bald darauf das Heer auch ihn, das die Stadt Ardea mit dem König selbst belagerte, es hat verlassen, |
6. |
und kommend zur Stadt der König (durch) verschlossene Tore er ist ausgeschlossen, und nachdem er hatte regiert Jahre 24 mit der Frau und Kindern seinen er ist geflohen. |
7. |
Sieben Könige in Rom zweihundert vierzig drei Jahre sie haben regiert. |
8. |
In Rom nach Vertreibung der Könige zwei Konsuln sind gewählt worden. |
freie Übersetzung:
Lucius Tarquinius Superbus, siebenter und letzter der Könige, besiegte die Volsker, ein Volksstamm, der in Richtung Campania wohnt, nicht weit von Rom entfernt. Er unterjochte die Städte Gabii und Suessa Pometia, schloß mit den Etruskern Frieden und baute auf dem Kapitol einen Iupitertempel. Als er später Ardea belagerte, eine 18 Meilen von Rom gelegene Stadt, verlor er die Herrschaft. Denn als sein Sohn, Sextus Tarquinius, die sehr edle und keusche Frau Lucretia, Frau des Collatinus vergewaltigt, und diese sich vor Mann, Vater und Freunden über das Unrecht beklagt hatte, tötete sie sich vor aller Augen. Bald darauf verließ ihn auch das Heer, das die Stadt Ardea zusammen mit dem König belagerte. Als der König bei der Stadt ankam, wurde er durch verschlossene Tore ausgeschlossen. Nachdem er 24 Jahre lang regiert hatte, ist er zusammen mit Frau und Kindern geflohen. |
Verben
euntibus
Abl.Pl.Part.Präs.Akt. von îre gehenoc-cîdô, oc-cîdî, oc-cîsum, oc-cîdere
töten
Sonstige Wörter und Erklärungen
Volscus,-a,-um
Volsker
Erklärungen zur Übersetzung
Lösungen:
In der heutigen Lektion stießen wir auf zwei Grundtypen römischer Frauen: Lesbia und Lucretia. Lucretia wurde von Eutropius hinreichend deutlich gezeichnet. Wie aber sieht es mit Lesbia aus? Wer war sie? Wie war sie? Ihr Dichter-Liebhaber Catull war vielleicht zwanzig Jahre alt, als er die um zehn Jahre ältere Frau kennen lernte. Sie ist vermutlich identisch mit Clodia, der Schwester des berüchtigten P.Clodius Pulcher (92-52), eines Todfeindes Ciceros. 52 wurde Clodius ermordet, nachdem er vorher mit gedungenen Banden Rom terrorisiert hatte. Man kann sich vorstellen, daß Lesbia nicht unbeteiligt war am Treiben ihres Bruders.
Da wir nichts Näheres über sie erfahren können, greifen wir zur Schilderung einer wohl ähnlich gearteten Frau, die Sallust (86-34) im 25. Kapitel seiner Schrift De coniuratione Catilinae schildert: Sempronia. Beide Frauen hatten sicherlich einiges gemeinsam: sie waren attraktiv, reich, kannten sich in Wissenschaft und Kunst aus -und waren nicht eigentlich züchtig und dem Ehemanne ergeben. Da sie das Glück hatten, einem Dichter bzw. Historiker zu begegnen, werden sie noch heute fast jedem Lateinschüler vorgestellt. Sallust selbst war auch kein linearer Typ, eher leicht gekrümmt und undurchsichtig. Er soll, so behauptet Hieronymus, später mit Terencia verheiratet gewesen sein, mit der Frau, von der Cicero sich getrennt hatte.
Sallust, De Coniuratione Catilinae, XXV
Neben dem originalen Wortlaut biete ich Ihnen eine geglättete Fassung an, eine cônstrûctiô dîrêcta, die dem deutschen Sprachgefühl entgegenkommt. Versuchen Sie aber zunächst, den Originalton zu verstehen. Ein Verzeichnis der Wörter, teilweise auch bekannte, finden Sie im Anschluß.
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Original |
geglättete Fassung |
1. |
Sed in iis erat Semprônia, quae multa saepe virîlis audâciae facinora commîserat. |
Sed in iis erat Sempronia, quae commiserat saepe multa facinora audaciae virilis. |
2. |
Haec muli-er genere atque formâ, praetereâ virô, lîberîs satis fortûnâta fuit; |
Haec mulier fuit satis fortunata genere atque forma, praeterea viro, liberis; |
3. |
litterîs Graecîs et Latînîs docta, psallere, saltare êlegantius quam necesse est probae, multa alia, quae instrumenta luxuriae sunt. |
docta litteris Graecis et Latinis, psallere, saltare elegantius quam est necesse probae, multa alia, quae sunt instrumenta luxuriae. |
4. |
Sed eî cariora semper omnia quam decus atque pudîcitia fuit; |
Sed e-î omnia semper cariora quam fuit decus atque pudicitia; |
5. |
pecûniae an fâmae minus parceret, haud facile discerneres; |
haud facile discerneres parceret minus pecuniae an fame; |
6. |
lubîdo sic accensa, ut saepius peteret viros quam peterêtur. |
lubido sic accensa, ut saepius peteret viros quam peteretur. |
7. |
Sed ea saepe antehâc fidem prôdiderat, crêditum abiurâverat, caedis cônscia fûerat, luxûria atque inopia praeceps abierat. |
Sed ea saepe antehac prodiderat fidem, abiuraverat creditum, fuerat conscia caedis, abierat praeceps luxuria atque inopia. |
8. |
Vêrum ingenium eius haud absurdum: |
Vêrum ingenium eius haud absurdum: |
9. |
posse versûs facere, iocum movêre, sermône ûtî vel modestô vel mollî vel procâcî; prôrsus multae facêtiae multusque lepôs inerat. |
posse facere versus, movere iocum, uti sermone vel modesto vel molli vel procaci; prorsus multae facetiae multusque lepos inerat. |
Übersetzung:
Vokabular:
in iîs,
oder eîs, (mulieribus) unter diesen (Frauen), die sich an der Verschwörung des Catilina beteiligt hatten. Sempronia war mit Decimus Iunius Brutus verheiratet, der 77 v.Chr. Konsul war. Ihr Sohn Albinus (eigentl. ebenfalls Decimus Iunius) kämpfte zusammen mit Caesar in Gallien, befand sich aber später unter den Mördern Caesars. Er war nicht der Auch du, mein Brutus? Brutus.praeter-eâ
Adv. außerdemIn der 3. Zeile wird docta zunächst mit dem Ablativ litterîs Graecîs et Latînîs verbunden (konstruiert), anschließend mit den beiden Infinitiven psallere (zur Leier singen) und saltâre (tanzen) und schließlich mit dem Akkusativ Pl. multa alia viele andere Dinge.
alius, a, ud ein anderer. probus 3 tüchtig, sittsam; êlegâns, antis geschmackvoll, meisterhaft.
Nun kommt die Welt der Aber (sed). Die 4. Zeile beginnt gleich mit einem harten Vorwurf.
fuit gehört nicht zu omnia, das Subjekt des Satzes omnia ... (fuêrunt) ist.
fuit 3.Sing.Ind.Perf.Akt. es ist gewesen gehört zu decus atque pudicitia, was als ein Ganzes aufgefaßt wird, daher Singular. Man nennt das eine constructio ad sensum, eine Konstruktion, die sich am Sinn orientiert. Auch im Griechischen steht das Prädikat i.a. ebenfalls im Singular, falls das Subjekt ein Neutrum im Plural ist.
parcô, pepercî (parsî), parsûrus, parcere sparsam umgehen, hüten, schonen
parcus 3 sparsam, karg, schlicht, knapp; an oder bei Doppelfragen
decus, decoris n Zierde, Würde, Anstand. Ähnliche Bedeutung hat decor, ôris m Anstand, Anmut, Zierde
atque und bei Verbindung ähnlicher Begriffe
dis-cernô, crêvî, crêtum, dis-cernere trennen, unterscheiden, beurteilen, herausfinden
haud discernerês, 2.Sing.Konj.Impf.Akt., man hätte nicht unterscheiden können ist eine sogenannte Aussage im Potentialis in der Vergangenheit. Der Potentialis stellt den Inhalt einer Aussage als möglich, potentiell, dar. Das Gegenstück ist der Irrealis, bei dem der Inhalt der Aussage als nicht wirklich gilt. Die zweite Person ist hier -wie im Deutschen- als man zu verstehen.
lubîdô, inis
oder libîdô, inis Lust, BegierdeIn der 7.Zeile treffen wir auf eine Kette von vier Prädikaten im Plusquamperfekt: prodiderat, abiurâverat, fuerat, abierat, womit Sempronias Charakter überdeutlich hervorgehoben wird.
fîdem prôdere das Wort brechen; prô-dô, didî, ditum, prôdere weitergeben, verraten
crêditum abiurâverat unter Eid ein Darlehen ableugnen
caedês, is f das Niederhauen, das Töten
cônscius 3 + Gen. mitwissend
praeceps, cipitis kopfüber, abwärts, als Subst. Abgrund, Verderben
praeceps abîre ins Verderben rennen, moralisch verkommen
inopia, ae f Mangel, Not, Hilf-,Ratlosigkeit
vêrum Adv. aber, (tatsächlich) jedoch
haud
Adv. nicht; absurdus 3 sinnlos, ungeschickt; aber: ingenium haud absurdum ist ein gescheiter Kopf!pos-sum, pot-uî, pos-se
können; das Hilfsverb esse wurde mit der Vorsilbe pot- verbunden. Das t verwandelt sich vor s ebenfalls in s: pot-sum > pos-sum. Die Vorsilbe ist eigentlich ein Adjektiv, potis,-e mächtig, das zu pot- verkürzt wurde.