Frank Wedekind

Lulu

 

Frank Wedekind: Lulu
Erdgeist (1895)
Die Büchse der Pandora (1902)

Eine Unterrichtseinheit für den Grundkurs Deutsch des dritten Kurssemesters
von Manfred Zimmermann und Irene Augustin, Berlin 1997
im Rahmen einer Unterrichtseinheit "Das Künstliche und das Natürliche" oder "Missratene Töchter"

Kontakt-Mailadresse

Unterrichtseinheit "Das Künstliche und das Natürliche"

1. Mary Shelley: Frankenstein oder Der moderne Prometheus
(Romantik, das Unheimliche, das Künstliche, das Natürliche)

2. Romantische Lyrik (Natur als Gegenentwurf)

3. Frank Wedekind: Lulu

4. Melusinen-Lyrik (Wasserfrau als Gegenbild in der Lyrik des 19. und 20. Jahrhunderts)

5. Marie-Luise Fleisser: Der Apfel

 

"Der wissenschaftlichen Literatur zu diesem Werk ist nicht einmal zu entnehmen, worum es darin überhaupt geht." (Erhard Weidl)

 

 

Inhaltsverzeichnis:

1

Ausführliche Darstellung der Stundenplanung

 

Statt einer Sachanalyse: Literatur, Biografie, Titelbedeutung

Vorbereitung

- Alle lesen die beiden Stücke und fertigen Szenarien an.
- Vergabe von 2 Kurzreferaten: Übersicht über Handlung und Thematik der beiden Stücke
- Referate (?) zu theoretischen Texten:
Gehlen, Arnold: Über Kultur, Natur und Natürlichkeit
Rousseau: Émile
Simmel: Weibliche Kultur; Zur Philosophie der Geschlechter
- Referate zu vergleichbarer Thematik: Wilde, Oscar: Salome; Zola: Nana

1. Block

"Die Büchse der Pandora" – Lulu-Verfilmung von Pabst

2. Block

Der Prolog: Aufstellung von Interpretationsthesen, Argumentation, Weiblichkeitsbilder, Natur und Zivilisation

3. Block

Der Prolog: Textanalyse

4. Block

Inhaltsübersicht über "Erdgeist" (Figuren, Handlung)
- Um was geht es (Themen)?
- Zusammenhang zum Thema "Das Künstliche und das Natürliche)?
- Zentrale Szenen?

5./6. Block

Exemplarische Textanalyse "Erdgeist", 2. Aufzug

7. Block

Inhaltsübersicht über "Die Büchse der Pandora" (Figuren, Handlung)
- Um was geht es (Themen)?
- Zusammenhang zum Thema "Das Künstliche und das Natürliche)?
- Zentrale Szenen?

8. Block

Exemplarische Textanalyse "Die Büchse der Pandora" (3. Aufzug, Schluss)

9. Block (A)

Theoretische Texte zum Naturbegriff: Rousseau, Gehlen - Bezug zum Stück

9. Block (B)

Theoretische Texte zur Weiblichkeit: Simmel, Nietzsche, Bovenschen - Bezug zum Stück

10. Block (A)

Exemplarische Erörterung 1 - Der Schluss des Stücks

10. Block (B)

Exemplarische Erörterung 2 - Lulu - ein Naturwesen?

 

 

2

MATERIALIEN

2.1

Aus Briefen von Wedekind

2.2

Zu einigen Motiven (Titel, Figuren usw.)

2.3

Karl Kraus: Die Büchse der Pandora (1905)

2.4

Möbius: Über den physiologischen Schwachsinn

1. Ausführliche Darstellung der Stundenplanung

Vorbereitung/Hausarbeit

1. Gründliche Lektüre des Stückes

2. Dabei: Anfertigung von Szenarien

Aufgabe: Fertigen Sie nach folgenden Kriterien eine Übersicht über die einzelnen Szenen an:
- Hauptpersonen/Spielfiguren der Szene
- Äußere Handlung, Zusammenfassung des Geschehens in Stichworten
- Thematik, die in der Handlung zum Ausdruck kommt
- Auffälligkeiten der dramatischen Sprache, der dramatischen Strukturentfaltung, der Spannung, der Vorausdeutung usw.

3. Vergabe von Themen für Kurzreferate:

- Handlung, Thematik von "Erdgeist"
- Handlung, Thematik von "Büchse der Pandora"
- Natürlichkeit und Kultur bei Arnold Gehlen ("Über Kultur, Natur und Natürlichkeit")
- Natürlichkeit und Kultur bei Rousseau ("Émile")
- Geschlechterdifferenzierung bei Simmel ("Weibliche Kultur")
- evtl.: Vergleiche mit Wilde, Oscar: Salome bzw. Zola, Émile: Nana
- evtl.: Das Motiv der "femme fatale"

4. Vorbereitung des ersten Blocks: Der Prolog (Zu jeder Strophe einen Satz mit der zentralen Aussage formulieren)

Statt einer Sachanalyse

1. Literaturverzeichnis

Sekundärliteratur:

Bovenschen, Silvia: Die imaginierte Weiblichkeit. Exemplarische Untersuchungen zu kulturgeschichtlichen und literarischen Präsentationsformen des Weiblichen. es 921. Frankfurt am Main 1979. S.43-59
Devereux, Georges: Baubeau, Die mythische Vulva. Frankfurt: Suhrkamp, 1981
Emrich, Wilhelm: Wedekind. Die Lulu-Tragödie. In: Benno von Wiese: Das deutsche Drama II.
Vinçon, Hartmut: Frank Wedekind. Sammlung Metzler 230. Stuttgart 1987
Weidl, Erhard: Nachwort zu Lulu, RUB 8567, S.183-206

Hintergrundliteratur:

Freud, Sigmund: Die "kulturelle" Sexualmoral und die moderne Nervosität (1908). In: Das Unbehagen in der Kultur. Fischer-Taschenbuch (Kritik an der Ehe aus psychoanalytischer Sicht, Zusammenhang zwischen Neurosen und Perversitäten und Unterdrückung der Sexualität)
Rousseau, Jean-Jacques: Émile
Simmel, Georg: Weibliche Kultur. In: Schriften zur Philosophie und Soziologie der Geschlechter. es 1333
Gehlen, Arnold: Über Kultur, Natur und Natürlichkeit. In: Gehlen, Arnold: Anthropologische und sozialplsychologische Untersuchungen. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1986 (re 424).
S.78-93
Devereux, Georges: Baubo.
Die mythische Vulva. Frankfurt/Main 1981

2. Biografische Angaben zu Wedekind

Frank Wedekind (1864-1918) war Sohn eines Arztes und einer Schauspielerin. Er studierte in München und Zürich Jura, wurde Reklamechef der Firma Maggi, gehörte 1888 als Sekretär einem Zirkus an und wurde nach Aufenthalten in Paris und London als Dramaturg, Regisseur und Schauspieler tätig. 1896 wurde er Mitarbeiter des "Simplicissimus" (1899/1900 Festungshaft wegen Majestätsbeleidigung). 1900 begann er als Dramatiker. 1901/02 trug er im Münchner Kabarett "Die elf Scharfrichter" seine provozierenden Lieder zur Laute vor, anschließend trat er im Berliner "Überbrettl" auf, 1905-1908 gehörte er dem Berliner Deutschen Theater an. Zuletzt lebte er mit seiner Frau, der Schauspielerin Mathilde, in München.

Wedekind - ein entschiedener Gegner des durch Hauptmann repräsentierten Naturalismus, bereitete das expressionistische Drama vor. (nach: Lexikon der Autoren und Werke. Klett-Verlag)

3. Wirkungsgeschichte von "Lulu"

a) Naturalistisches Verständnis: VENUS IMPERATOR - FEMME FATALE

"Lulu" wurde von den Zeitgenossen als etwas Neues in Stil und Inhalt wahrgenommen. Die ersten Deutungen der "Lulu" waren: 1. die personifizierte Sexualität, 2. das Prinzip weiblicher Sexualität, 3. das Urweib, 4. das Weib als Hetäre, 5. das Weib als Verführerin, 6. die Nymphomanin, 7. das Weib als zerstörerische Kraft, 8. das tödliche Lebensprinzip, 9. die (Koital-)Maschine (F.Blei). Die überwiegende Mehrzahl der Interpreten sah in Lulu eine negative Figur, eine männermordende, auf jeden Fall eine die Männer bedrohende (z.B. Verlust des Verstandes, der Intelligenz) gefährliche Gewalt. Was hinter diesen Positionen sichtbar wird: Abwehr der Sexualität, vor allem der autonomen weiblichen Sexualität. Das Bild der Frau wird über die Vorstellung vom Krieg der Geschlechter bestimmt (Zeitalter des Imperialismus). Die Ermordung Lulus durch Jack the Ripper wird dementsprechend als ausgleichende Gerechtigkeit gesehen.
Beispiel: Lulu "ist in der That schon so etwas wie eine Personifikation der Sünde, die inkarnierte Anarchie, ein weiblicher Don Juan, ein erotischer Würgeengel von so ursprünglicher Zerstörungssucht, dass ein Grauen von ihr ausgeht, wie von etwas Überirdischem. [...]" (Leo Berg 1897).

b) Expressionistisches Verständnis: LULU ALS "NUR-WEIB" (nicht Mensch), Elementargewalt

Lulu wird im Expressionismus als Typ, als Triebwesen, als Mythos gesehen. "Das Ewig-Weibliche zieht uns hinab."

c) Alban Berg: "Lulu" (ab 1928)

Verkürzung des Stoffes im Libretto um 4/5, Deutung fußt auf dem Vortrag von Karl Kraus

d) Moderne Deutungen (seit 1945)

Dosenheimer ("Weib als Triebwesen", 1945), Michelsen ("nichts als Fleisch und Vulva", 1965), Kaufmann ("Ideal des >natürlichen Menschen<"), Gertrud Milkereit (Lulu als "Ergänzung" der Mannes, "durch die er sich selbst zu finden und damit zu verwirklichen hofft", 1957), Michelsen (Lulu als "Suchbild"), Mensching (Lulu als "Rätsel"), Strosser (Lulu als "Kunstfigur"), Höger ("Das Stück heißt in Wirklichkeit die >Scheide<). Außerdem: Maclean, Rothe (Das Stück handelt von der Dialektik der Gewalt), Kutscher, Emrich (Verdienst: Befreiung Lulus vom Ruf der femme fatale; Lulu als Vertreterin einer "unbedingten Moral", ihr Leben als Liebe, als Protest gegen die Verkehrungen gepredigter Moral in Unmoral, "Lulu wird zur ‘ewigen’ Märtyrerin der ewig unverstandenen Frauennatur, deren Leben Liebe ist"; "Lulu" als moderne Tragödie).-
Die beängstigende Sexualität der Frau hängt auch damit zusammen, dass die Frauen im 20. Jahrhundert ins Berufsleben drängen, ihre sexuelle Kraft dadurch dem Besitz des Mannes entzogen und freigesetzt wird.
Die Projektionsthese ("Lulu ist in Wahrheit als eine Projektion vielfältiger Wünsche ihrer männlichen Gegenspieler anzusehen." Geschichte der deutschen Literatur 4, Klett, S.60), die Karl Kraus zum ersten Mal formulierte, zieht sich durch die modernen Interpretationen: Medicus (am Beispiel der Namengebung), Bovenschen (die Vorstellung substantieller Weiblichkeit ist unauflöslich an die Männerphantasien weiblicher Rollen geknüpft).
Deutungsmuster für Weiblichkeit:
Egalitätstheorien (seit dem 18. Jhd.): Männer und Frauen sind gleich. Lösung der Frauenfrage dadurch, dass die Frau männlich gemacht wird. (Vermeintliche Gleichheit als Annäherung der Frau an den Mann?). Berechtigung: faktisches Unrecht
Differenztheorien: Idee einer besonderen Weiblichkeit (Wiederholung der Ergänzungsbestimmungen des Mannes an die Frau?). Berechtigung: Sehnsüchte der Männer, Geschichte der Geschlechter, Identität von Frauen
Reduktionstheorien: Das Problem der Geschlechter als "Frauenfrage"
Quelle: Hartmut Vinçon, Frank Wedekind, Stuttgart: Metzler, 1987

4. Didaktische Reduktion/Arbeitsschritte für die Unterrichtseinheit

Die Fülle der Aspekte, die in Zusammenhang mit Lulu behandelt werden könnten, die vielen Deutungsmöglichkeiten, die verschiedenen sprachlichen Mittel und formalen, gattungstheoretischen Aspekte - das alles wird hier reduziert auf
- einen Motivbereich, der in Zusammenhang mit dem Semesterthema steht: Das Künstliche und das Natürliche am Beispiel des Geschlechterverhältnisses
- ganz wenige Textstellen: Erdgeist: Prolog, zweiter Aufzug; Die Büchse der Pandora, Schlussszene.
Verkürzt gesagt: Ziel der Unterrichtseinheit ist, an verschiedenen Beispielen des Stückes aufzuzeigen, dass Wedekind am Beispiel von Lulu das Verhältnis von Natur und Zivilisation darstellt, dass durch Form und Gestaltung deutlich gemacht wird, dass Natur ein Produkt der Zivilisation, dass Weiblichkeit eine Zuschreibung durch die Männerwelt ist und dass diese Konstruktion für beide Seiten tödlich ist. Dieser Problemkreis wird durch theoretische Texte (Simmel, Nietzsche, Rousseau u.a.) vertieft.

Die Unterrichtseinheit ist so geplant, dass am Ende eine Abitur-Problemerörterung zur Deutung der Lulu-Figur geschrieben werden kann.

 

 

1. Block

Lulu-Verfilmung von Pabst

Arbeitsauftrag: Ist der Film eine Interpretation des Lulu-Stückes. Formulieren Sie eine These dazu.

 

2./3. Block

Titel / Prolog

Begründung für die Auswahl der Textstelle:

Der Prolog wurde von Wedekind zur 10. Aufführung der ersten Inszenierung am 24.6.1898 ergänzt, um den Verständnisschwierigkeiten des Stückes entgegenzuwirken. Er enthält zum einen markante Aussagen zur Anthropologie (Mensch-Tier) und zur Einführung der Figur Lulu (Weiblichkeitsattribute als Zuschreibungen (durch den Tierbändiger): Weib als bedrohliches Naturwesen, Weib als Ergänzungswesen (Natürlichkeit); Natürlichkeit, Animalität als Produkt der Zivilisation; Lulu als Projektionsfläche), zum anderen kann man ihn unter kunsttheoretischen Aspekten lesen ("Menagerie" als "moralische Anstalt", Futter: Lulu; Käfig: Zuschauerraum; dressiertes Raubtier: Publikum). Der Prolog enthält in unterhaltsamer Form die Grundidee des Stückes.

Eine Vertiefung des Prologs in seiner literaturgeschichtlichen Aussage ("antinaturalistisches Manifest") und in seinem philosophischen Kontext (Nietzsche, Schopenhauer; Das Wahre, Schöne, Gute ersetzt durch Das Wahre, Schöne, Wilde) kann hier nur andeutungsweise erfolgen.

a) Stundenübersicht

1. Einstieg

Ist der Film "Die Büchse der Pandora" eine Interpretation des Stückes?

2. Erster Eindruck

Schreiben Sie ein oder zwei Argumente auf zu:
- Warum hat mir "Lulu" gefallen?
- Warum hat mir "Lulu" nicht gefallen?

3. Titel

Welche Assoziationen haben Sie zu Titel und Gattungsbezeichnung des Stückes ("Lulu", "Erdgeist", "Büchse der Pandora", "Tragödie")

4. Auswertung der Hausarbeit

Thesenhafte Zusammenfassung der Strophen des Prologs
Systematisierung: Was ist das Thema des Prologs?
VERHÄLTNIS: NATUR-ZIVILISATION
Erweiterung: Die Situation?Formale Besonderheiten?
ZIRKUSMETAPHORIK (Zivilisation/Artistik),
"Gebrauchslyrik" (Werberede, Monolog, Reim, Ironie)

5. Einzel- od.
Gruppenarbeit od. UG

Wie und durch wen wird Lulu eingeführt? Handlung? Bewertung? Vorbilder? Lulu als negative oder positive Figur?

6. Plenum

Systematisierung der Thesen, Bewertung von Lulu, Vorbilder, Erwartungen an das Stück?

b) Mögliche Ergebnisse/Tafelbild

Zu 1. Film
- Der Film ist gut gemacht (gute Photographie, stimmige Deutung der Lulu)
- verändert die Handlung, die Reihenfolge der Szenen, verlegt Szenen an andere Orte
- Er spricht die KollegiatInnen aber nicht an, da er zu wenig nach Hollywood-Manier gemacht ist (nicht schön, zum Mitgehen)
- Während sie im Stück Lulu eher als Täterin sahen, wird Lulu im Film eher als Kindfrau/Opfer ihrer Umgebung dargestellt. Jack the Ripper erscheint ihnen zu menschlich.

Zu 3.TITEL/GATTUNG

Lulu: Kurzform von Namen. die mit »Lu« beginnen, stellt eigentlich eine Lallform aus der Kindersprache dar (wie Mama- Papa). Wedekind hat in allen seinen Äußerungen über die zentrale Figur deren unverbildete Kindlichkeit hervorgehoben. Ähnliche, an die Kindersprache erinnernde Namen wie z.B. Nini, Gaga, Zizi oder Nana sind in Prostituierten- und Zuhälterkreisen weit verbreitet. Unter dem Datum 10. lX. 1893 notiert sich Wedekind in seinem Pariser Tagebuch ausführlich eine Unterhaltung mit einer Kokotte über ein lesbisches Straßenmädchen namens Lulu.

Frank Wedekind: Lulu

Ich liebe nicht den Hundetrab
Alltäglichen Verkehres;
Ich liebe das wogende Auf und Ab
Des tosenden Weltenmeeres.

Ich liebe die Liebe, die ernste Kunst,
Urewige Wissenschaft ist,
Die Liebe, die heilige Himmelsgunst,
Die irdische Riesenkraft ist.

Mein ganzes Innre erfülle der Mann
Mit Wucht und mit seelischer Größe.
Aufjauchzend vor Stolz enthüll ich ihm dann
Aufjauchzend vor Glück meine Blöße.

Der Erdgeist: nordische Sage (Gnomen, sie bewachen die unterirdischen Schätze im Schope der Erde und können die verschiedensten Gestalten annehmen. Die weiblichen werden gewöhnlich als schön, die männlichen als hässlich dargestellt), außerdem Paracelsus und Heine. Venus (weibl. Prinzip), die als Erdgeist erscheint, wie z.B. Heinrich Heine in seiner 1837 erstmals vollständig veröffentlichten Abhandlung »Elementargeister« darstellt. Er entwickelt im Rückgriff auf Paracelsus' Schriften ein Schema der Wasser-, Feuer-, Luft- und Erdgeister und erinnert im Zusammenhang mit der Tannhäuser-Sage an die zu den Erdgeistern verbannte Göttin Venus, die im Venusberg als Erdgeist leben muss. Der Erdgeist repräsentiert also eine Metamorphose der Venus. Vgl. Faust (V.460 ff.)

Mögliches Klausurthema: Bezug zwischen Gedicht und Stück?

Frank Wedekind: Erdgeist

Greife wacker nach der Sünde;
Aus der Sünde wächst Genuss.
Ach, du gleichest einem Kinde,
Dem man alles zeigen muss.
Meide nicht die ird'schen Schätze:
Wo sie liegen, nimm sie mit.
Hat die Welt doch nur Gesetze,
Dass man sie mit Füßen tritt.
Glücklich, wer geschickt und heiter
Über frische Gräber hopst.
Tanzend auf der Galgenleiter
Hat sich keiner noch gemopst.

Die Büchse der Pandora: Pandora [griech., "Allbeschenkte"; "Allgeberin"]: Bezeichnung für die Erdgöttin als "Allgeberin". – In der griech. Sage die erste Frau. Um die Menschen für den von Prometheus begangenen Feuerraub zu bestrafen, ließ Zeus von Hephaistos die Pandora erschaffen, von allen Göttern mit Reizen ausstatten ("Allbeschenkte") und Trotz der Warnung des Prometheus, von Zeus kein Geschenk anzunehmen, nahm sein Bruder Epimetheus Pandora zur Frau. Sie öffnete das von ihr mitgebrachte Fass (später zur "Büchse" der Pandora geworden) und ließ alle darin eingeschlossenen Übel außer der Hoffnung über die Menschen kommen.

® Erdgeist/Pandora: Bezug zur Mythologie: Weiblichkeit, Matriarchat, dem Stück liegt eine Idee zugrunde.
® Ankündigung einer strengen Form: Tragödie

Zu 4. HAUSARBEIT

 

1. Strophe

Natur/unbeseelte Natur wird hier gebändigt, durch den Menschen zivilisiert vorgeführt. Dieses Thema ist von großem emotionalen Interesse.

2. Strophe

Der mörderische Kampf zwischen Tier und Mensch ist zugunsten der menschlichen Rationalität entschieden.

3. Strophe

Zeitklage/Theaterkritik: Das Publikum hat sich von dem elementaren Kampf zwischen Tier und Mensch abgewandt. Was aber Theater und Zirkus verbindet: die Verfolgung einer Idee (= "Großes")

4. Strophe

Zeitklage/Theaterkritik: Auf der modernen Bühne werden nicht mehr die wirklich dramatischen Konflikte, sondern nebensächliche Probleme dargestellt ("Haustiere" an Stelle von Menschen, "Pflanzenkost"). Ausweg: Zurück zur Natur, zum Tier
Anm.: Das wahre Tier, das wilde, schöne Tier, Modifikation der klassischen Trias Das Wahre, Gute und Schöne.

5. Strophe

Wiederholung: Menschliche Rationalität bändigt das wilde Tier, die Animalität.
Effekt: Schuss ins Publikum (Publikum als Raubtier?)
Ankündigung der Figuren des kommenden Stückes: Tiger - Dr. Schön, Bär - Goll; Affe - Alwa; Kamel - Schwarz

6. Strophe

Der Dompteur führt eine Schlange vor (Mythos: Schlange als Frau, Unheilstifterin, Name: Lulu)

7. Strophe

Zuschreibungen für Lulu:
Die sprechende Schlange soll etwas darstellen: Natürlichkeit, Selbstverständlichkeit
Handlung: Lulu wird hereingetragen

8. Strophe

Handlung: Lulu wird weggetragen
Lulu wird als "süße Unschuld" bezeichnet

SITUATION

- Zirkus: Vergnügen/Unterhaltung (Sensationen/ Attraktionen/ Bedrohliches/ Fremdes/ Exotisches); Artistik/ Körperbeherr-schung;
- Theater im Theater/Inszenierung KUNST
- Repräsentant: Tierbändiger
- Aufhebung des Bildes: Schlange hat Menschenform, Namen
Widerspruch zur Tragödie

FORM

Gedicht, Reim, Werberede, Strophenform, Volkstümlichkeit, Groteske (z.B. Schuss), Ironie (Situation, Übertreibungen), Verfremdung, komödien- und volksstückhafte Züge

 

ZUSAMMENFASSUNG
Thema des Prologs: In einer grotesken Form wird das Thema Natur-Zivilisation, Tier-Mensch, Weiblichkeit eingeführt und damit ein Hinweis (Lehrtheater) auf das Thema des Stückes geliefert.

Zu 5/6) Lulu

Lulu handelt im Prolog nicht, sondern wird selbst passiv vom Tierbändiger vorgeführt, der sie charakterisiert und bewertet:

LULU

Mythos: Schlange (Bibel)
Unheilstifterin, Verführerin, "Urbild des Weibes" (Verschmelzung von Eva und Schlange)

Urgestalt des Weibes
Aufforderung: natürlich sprechen, Selbstverständlichkeit
süße Unschuld

Scheinbar widersprüchliche Bewertungen: Bosheit/Unschuld; Natur, die zur Natürlichkeit gezwungen werden muss. KUNSTFIGUR

Gerade am Beispiel von Lulu wird die ganze Vorführung paradox: Als Natur wird hier ein Wesen vorgeführt, das im Käfig gehalten wird, von einem Tierbändiger beherrscht wird, dem die Natürlichkeit abverlangt/zugeschrieben wird.

NATUR/KREATUR

VERNUNFT/ZIVILISATION

NATÜRLICHKEIT

Wildheit, Bedrohlichkeit ("mörderisch"); Hitze
aber auch: wahr, wild, schön

kalt, Herrscherblick, menschliches Genie,

nicht: Geziertheit, Albernheit, Gekünsteltheit, Verschrobenheit
sondern: Selbstverständlichkeit
"zweite Natur"

Die äußerliche Trennung von Natur/Kreatur auf der einen und Vernunft/Zivilisation auf der anderen Seite wird hier fragwürdig und grotesk überzeichnet.
Natur und Natürlichkeit sind Inszenierungen, zivilisatorische Errungenschaften.

 

9. Strophe

Schwierigste Strophe:
Als "das Beste" wird angekündigt, dass der Dompteur selbst sich dem Raubtier ausliefert, sein Leben gegen einen Witz (Vernunft, Geist?) setzt.
Er gibt alle Herrschaftsmittel ab (Peitsche, Waffen),
Wisst ihr den Namen, den dies Raubtier führt? - -
Verehrtes Publikum - - Hereinspaziert!!
Diese beiden Schlussverse sind als huldigende Verbeugung Wedekinds vor Charles Baudelaire zu begreifen, dessen Prologgedicht »Au lecteur« (An den Leser) zu »Les fleurs du mal« (Die Blumen des Bösen) mit den beiden Versen endet:
»Tu le connais, lecteur, ce monstre delicat, - Hypocrite lecteur, - mon semblable, - mon frere!«
Rätsel: Namen des Raubtieres (Doppelsinn: Lulu, Schauspiel, Publikum)

Erwartungen an das Stück:

Lehrstückcharakter: etwas wird vorgeführt. Wie wird der abstrakte Konflikt des Prologs gefüllt?
Typisierungen: Rollen/Mythologie
Frage: Wie wird sich Lulu gegenüber den Zuschreibungen verhalten? Wer oder was ist Lulu?

LULU

Mythos: Verführerin, Mörderin?

 

Ideal von Natürlichkeit, Selbstverständlichkeit?

 

reale, empirische Figur?

Diese Ergebnisse bilden den Hintergrund für die Textarbeit in den folgenden Stunden.

Leitfragen für die Unterrichtseinheit

- Wie wird Lulu dargestellt (triebhaft?, selbstbestimmt?, Rollenzuweisungen, mythische Figur oder Individualität, "Natürlichkeit")?
- Ist die Rolle des "Tierbändigers" zu finden?
- Natur und Zivilisation?

c) Hausaufgabe: Szenarium von "Erdgeist" (Hauptfiguren, Themen, Formale Besonderheiten für jeden Aufzug)

d) Texte zum Hintergrund

1 Darstellerin der LULU in ihrem Pierrotkostüm: Dummpfiffige, tölpelhafte Narrentypengestalt aus der »Commedia dell'arte« des italienischen Rinascimento. Der Pierrot trug weite weiße Kleider und war weiß gemehlt bzw. geschminkt, wobei wirksam wird, dass Weiß die Farbe der Unschuld ist. In seinen Memoiren, die Wedekind kannte, beschreibt Casanova das Kostüm des Pierrot, das er anlässlich eines Maskenballs in Venedig trug, folgendermaßen: ,Es gibt keine Maske, die den Menschen unkenntlicher macht, denn sie verbirgt alle Merkmale der Gestalt und lässt nicht einmal irgendwo die Farbe der Haut erkennen... Das weitgeschnittene Pierrotkostüm, seine langen, bauschigen Ärmel, seine weiten Hosenbeine, die bis zu den Knöcheln reichen, verbergen jedes etwaige Merkmal der Gestalt, an dem ihn einer seiner persönlichen Freunde erkennen könnte. Eine Mütze, die den ganzen Kopf, die Ohren und den Hals bedeckt, verbirgt nicht nur die Haare, sondern auch die Farbe der Haut, und eine Gace vor den Augen der Maske verhindert, dass man sieht, ob sie schwarz oder blau sind.« Das entscheidende Motiv des Verbergens der Person bzw. des nicht Erkennens der Wesensart Lulus durch die sie umgebenden Männerfiguren, woraus deren Fiasko resultiert, korrespondiert direkt mit einer Dialogpartie, n der der Maler Lulu nötigt, ihm in die Augen zu sehen. Ihre Worte: Ich sehe mich als Pierrot darin! legen die Auffassung nahe, das Narrenkostüm gleichsam als Bestandteil der männlichen Optik zu betrachten, schon gar eines Malers, der Schwarz heißt, den Lulu blind nennt und der nach seinem grausigen Ende als Narr bezeichnet wird. Folgerichtig ist in der Fassung Frühlingsstürme, in der der Maler mit Lulu glücklich wird, auch das Kostüm ein anderes: Hier trägt Lulu ein mit bunten Schleifen besetztes Schäferinnenkleid, und zwar ein möglichst kurzes... das ihre Figgr so wirkungsvoll wie nur irgend möglich zur Geltung bringt. - Betrachtet man aber die Beschreibung des Pierrotkostüms etwas genauer, muss der Eindruck entstehen, als wäre es eigentlich gar nicht vorhanden. Da die Kostümrequisiten in der Lulu-Tragödie eine bedeutende Rolle spielen, sei an ein Notat Wedekinds aus der Zeit der Konzeption und Niederschrift erinnert: Es ist unglaublich, wie erfinderisch diese Pariser Kunsttempel darin sind, sich selbst und ihre Konkurrenten in Kostümen zu überbieten. Ich habe diese Art von Kultur von jeher sehr hoch zu schätzen gewusst, ich habe auch in München nichts versäumt, was in Kostümkunde zu profitieren war und fühle mich demgemäss hier gewissermaßen an der hohen Schule.

"Lulus Verkleidung als Pierrot bezeichnet exakt ihre tatsächliche Rolle in der Gesellschaft. Pierrot ist seinem Ursprung nach der scheinbar einfältigste, niedrigste, von allen geschlagene Diener, der aber gerade auf Grund seiner ungetrübten Einfalt und Unschuld unausgesetzt seine Herren entlarvt, bloßstellt und überlistet, die Herrschenden beherrscht und an der Nase herumführt." (Emrich, S.216)

 

2 Frank Wedekind: Der Sündenfall

Die ganze Geschichte vom Sündenfall ist nichts anderes, als eine Theodizee, eine Antwort auf die Frage: wie kommt das Unglück in diese Welt? Eben ist erzäht worden, dass und wie Gott die Welt und den Menschen geschaffen hat. Nun ist es auch schon allerhöchste Zeit, die Frage nach dem Ursprung des Übels zu beantworten, da die Stellung Gottes sonst gleich von Anfang an erschüttert wäre. Gott hat das seinige getan zur Verhütung des Unheils durch sein Verbot, vom Baum der Erkenntnis zu essen. Der Mensch lässt sich durch die Schlange verführen. Dadurch ist als Widersacher Gottes die Schlange eingeführt. Das Wesen der Schlange ist schon die Klugheit
Ihre Prophezeiung über das Erkennen von gut und böse geht genau in Erfüllung. Damit ist gleich von Anbeginn die Klugheit (Vernunft) als Gegensatz Gottes festgestellt, und zwar auf Grund der Tatsache, dass sie gottähnlich ist und deshalb für gleichwertig mit Gott gehalten werden kann. Um aber den Menschen gegen die Klugheit aufzuhetzen, wird der Erkenntnis dann auch gleich die Ursache all seiner Leiden zur Last gelegt, also eine vollendete Umkehrung der Wirklichkeit.
Gott, das Gesetz verleugnet und verdammt seinen eigenen Ursprung, die Erkenntnis. - Warum? - Weil Glaube an Gott und Gehorsam gegenüber dem Gesetz zu Vertrauen, zur Behaglichkeit und zum Lebensgenuss führen. Die fortgesetzt freie Erkenntnis, die Herrschaft der Klugheit, das Urteil von Fall zu Fall sind gleichbedeutend mit Misstrauen, Unsicherheit und Ruhelosigkeit.
Warum sah der Mensch, dass er nackt war?
Er sollte erkennen, was gut und was böse ist. Die Nacktheit ist das absolut Böse, das unerklärlich Böse, das Böse an sich. Von allen andern Übeln vermochte der Mensch mehr oder weniger die Gründe zu erkennen. Bei der Nacktheit war das unwöglich, da
1. er ja eben erst nackt von Gott geschaffen war,
2. der Zusammenhang zwischen seiner Nacktheit und dem Unglück dem Menschen damals ebenso unverständlich, unerkennbar war, wie er das heute ist.
An die Bösartigkeit, Schlechtigkeit der Nacktheit musste der Mensch glauben, da er sie unmöglich verstehen konnte.
Wäre als Beispiel des Bösen ein Übel gewählt worden, was für den Verstand begreiflich, erfasslich gewesen wäre, dann wäre die Eigenschaft »böse« durch Hervortreten des Gegenteils, des Gegenmittels, der Gegenwirkung aufgehoben worden. Bei der Nacktheit traf das nicht zu. Das Bekleidetsein konnte nicht in Betracht kommen, weil sein Vorteil viel zu klar war. Somit ist das Nacktsein das Unerklärlich-Böse, das Dämonisch-Böse, das Böse, an dessen Existenz der Mensch voraussetzungslos glauben mxss.

 

4. Block

Inhaltsübersicht/Thematik "Erdgeist"

Leitimpulse:
- Inhaltsübersicht von "Erdgeist" (Figuren, Handlung, formale Besonderheiten)?
- Um was geht es (Themen)?
- Zusammenhang zum Thema "Das Künstliche und das Natürliche)?
- Zentrale Szenen?

a) Stundenübersicht

1. Gruppenarbeit/Partnerarbeit

Vergleich der Szenarien zu "Erdgeist"

2. Plenum

Besprechung der Szenarien / Thematik / Szenenauswahl

b) Tafelbild

Szene

Figuren

Handlung

Thematik

Sprache/ Spannung

Erdgeist: Aufstieg des faszinierenden Mädchens Lulu

Prolog

Tierbändiger, Lulu

Werbungsrede des Tierbändigers, minimale (doch wesentliche Handlung): Vorführung von Lulu

Mensch und Tier

Natürlichkeit und Künstlichkeit

Reim, Ironie, Volkstümlichkeit, Unterhaltung

I.

Im Atelier von Schwarz: Lulu als Frau Medizinalrat Goll

TA:

I.2;

I.4

Lulu und alle wichtigen Männer (außer Schigolch): Schön, Schwarz, Alwa,

SCHLAG-ANFALL VON GOLL (I.5)

Lulu wird von Schwarz porträtiert, der von ihr fasziniert ist und sie begehrt. Sie wehrt sich gegen ihn ("Sie bekommen mich noch lange nicht."). Als Goll sie überrascht, erleidet er einen Schlaganfall
erste Ehe:

Lulu als "gehorsames" Kind (kontrolliert, bewacht), Kunst-figur/ Produkt (Tänzerin/Bild); von Schwarz. begehrt.

Bildende Kunst

Individualität (Name)

Goll: Lustgreis

Steigerung (vor allem in I.4, Begehren von Schwarz) bis zum Tod von Goll (I.5)

Namensspiele (Eva-Mignon-Nelli)

TA: I.2; I.4

II.

Im Salon von Schwarz: Lulu als Frau Schwarz ("hat es weit gebracht")

TA:

II.3

Lulu und alle wichtigen Männer (Schwarz, Schön u.a.), Einführung von Schigolch (77)

SELBST-MORD VON SCHWARZ (II.5-7)

Neben dem Aufstieg von Lulu (reiches Erbe, Gattin eines erfolgreichen Malers) erfährt man mehr über ihre Vorgeschichte (Schigolch und Schön) und insbesondere das spannungsgeladene Verhältnis Lulu-Schön (sozialer Vater, Begehren, Intriganz). Selbstmord von Schwarz, als er erfährt, dass Lulu keine Jungfrau mehr war.

Lulu als Muse für Schwarz,

Lulu erhält Biografie, wird Individuum (mit Vorlieben)

Unterschied Liebe (Lulu-Schön, Ehen)

Ehen Lulus als Inszenierung

Schöns

dramatische Beziehung Lulu-Schön, Aufkündigung der bisherigen Gemeinschaft durch Schön

TA: II.3

III

Garderobe in Alwas Theater: Lulu als Startänzerin

 

Lulu/Alwa/ Schön/ der Prinz

Lulu tanzt in der Regie von Alwa, vor allem für Schön. Schrittweise Enthüllung bis zum Nackttanz. Ohnmacht auf der Bühne. Gegenseitige Erniedrigung Lulu/Schön. Abschiedsbrief Schöns an seine Braut

Kunst (Tanz), Alwa als Autor des Stücks "Erdgeist"

Geschlechterverhältnis: Machtkampf, Abhängigkeit

(Kontrast: masochistische Tendenzen beim Prinzen)

Zuspitzung der Spannung zwischen Schön und Lulu. Lulu bringt Schön dazu, zu ihr zu stehen.

IV

Prachtvoller Renaissance-Saal: Lulu als Frau Schön

 

alte Figuren: Schigolch, Alwa, Schön

neue Figuren: Hugenberg, Rodrigo, Ferdinand, Geschwitz

Lulu ist einerseits am Ziel ihrer Wünsche und auf dem Höhepunkt ihrer gesellschaftlichen Stellung (Wohlstand), andererseits wird behauptet, dass sie keinen Mann abweist. "Jour fixe" am "Börsentag"

Schön: "Augiasstall"

Schön bedroht die "Liebhaber", fordert Lulu zum Selbstmord auf, sie schießt an die Decke, dann ermordet sie ihn.

Sonderstellung Alwa: Liebe ohne Erniedrigung

Schön: Konflikt zwischen Weltanschauung/ Moral und Leben

Von der ersten Szene an: Schön mit Revolver,

Tod und Liebe

Formale Besonderheiten:

a) Stationendrama: Die einzelnen Akte sind in sich abgeschlossene Stationen aus dem Leben von Lulu: Verkaufsstationen.
b) Die einzelnen Akte sind auf drastische Situationen und Effekte hin angelegt.
c) Offenheit für gegensätzliche Interpretationen, für verschiedene Weiblichkeitsbilder. Lulu ist einerseits Konstrukt der Wedekindschen Idee, aber auch Trägerfigur für verschiedene Weiblichkeitseinschätzungen und auch eine handelnde und >empirische< Frauengestalt.
d) Groteske, Kolportage, Verfremdungseffekt, Revuecharakter
e) Namensspiel (dient der Charakterisierung der Namengeber):
Eva (Bibel, Paradies): Sehnsucht nach der weiblichen Reinheit; aber auch Verführerin.
Nelli (familiäre Koseform für Helena, trojanischer Krieg): Ballettänzerin, Lustobjekt;
Mignon: zwischen Junge und Mädchen oszillierende Frauengestalt von unbekannter Herkunft in Goethes "Wilhelm Meisters Lehrjahre"), Bezeichnung durch den Schöngeist
f) Impressionistische Dialogführung: willkürlich dazwischen geworfene Bemerkungen, Gedankensprünge, Wiederholungen, Aneinandervorbeireden, Abstraktion ("keine intimen Töne")
g) Leitmotiv: Pierrot-Bild von Lulu
h) Zitate: Lulu enthüllt eine Fülle von Zitaten, z.B. Memoiren Casanovas, Nietzsche. Wedekind konzipierte "Die Büchse der Pandora" im radikalen Gaegenentwurf zu Nietsches "Zarathustra" (s. Scharfrichter-Fassung)

c) Hausaufgabe: Genaue Lektüre des zweiten Aufzuges (Schwerpunkt II.3, auch: II.1, II.4, II.6). Zu jedem Auftritt Thesen aufstellen (Verhalten und Rollen von Lulu und den Männern, Geschlechterverhältnis) und markante Textstellen herausstellen.

d) Text: Inhaltsangabe von "Erdgeist" aus dem Kindler-Lexikon

Erdgeist zeigt den gesellschaftlichen Aufstieg des faszinierenden, ungehemmt triebhaften Mädchens Lulu, das im von einem Tierbändiger gesprochenen Prolog "das wahre Tier, das wilde, schöne Tier" genannt wird. Der reiche Zeitungsverleger Dr. Schön hat Lulu, damals fast noch ein Kind, von der Straße aufgelesen, wo sie sich mit ihrem angeblichen Vater, dem alten Ganoven Schigolch, herumtrieb. Schön hat Lulu erzogen und sie zu seiner Geliebten gemacht, dann aber mit seinem Freund Dr. Goll verheiratet, um sich selbst mit einem vornehmen Mädchen verloben zu können. Im ersten Akt bringt Goll Lulu zu dem jungen Maler Schwarz, der sie porträtiert. Dr. Schön und sein erwachsener Sohn aus erster Ehe, Alwa, überreden Goll, sie zu einer Ballettprobe zu begleiten. Lulu bleibt mit Schwarz allein und verführt ihn. Den zurückkehrenden Goll, der die beiden überrascht, trifft der Schlag. Im zweiten Akt ist Lulu die Gattin von Schwarz, der mit Hilfe Schöns berühmt und reich geworden ist. Aber sie ist immer noch Schöns Geliebte. Er will sich endlich von ihr befreien, um reinen Gewissens heiraten zu können, und offenbart Schwarz ihr zügelloses Leben. Völlig verzweifelt schneidet dieser sich daraufhin die Kehle durch. Lulu, die im dritten Akt als Tänzerin in einer Revue auftritt, bringt Schön zum Bewusstsein, dass er ihr rettungslos verfallen ist, und zwingt ihn, seine Verlobung aufzulösen. Im Schlussakt ist sie mit ihm verheiratet und betrügt ihn mit Freunden und Lakaien. In seiner Abwesenheit empfängt sie Schigolch, Alwa, den Zirkus-Muskelprotz Rodrigo, die hoffnungslos in sie verliebte Gräfin Geschwitz und andere. Schön überrascht die Gesellschaft und will Lulu zwingen, sich das Leben zu nehmen. Doch statt sich selbst erschießt sie ihn.

 

5/6. Block

Exemplarische Textanalyse "Erdgeist" II

Begründung für die Auswahl des Aufzuges:

An diesem Aufzug werden exemplarisch verschiedene Interpretationsthesen zu Lulu überprüft. Der zweite Aufzug wird deutlicher als der erste Aufzug (Beziehung Lulu-Schön, Charakterisierung von Schwarz, drastischer Tod) und hat in dem Dialog Lulu-Schön Stellen, die die Reflexion von Lulu über ihre Beziehungen dokumentieren. Ihre Darstellung ihrer Bedürfnisse lässt sie auch als bewusstes Individuum deutlich werden.

Stundenziel:

Bei dieser Textarbeit sollen die im Prolog herausgearbeiteten Merkmale der Figuren Lulu und Tierbändiger am Text überprüft werden.

Leitimpulse:

- Aufstellen von (verschiedenen) Interpretationsthesen zu Lulu unter dem Aspekt des Prologs (Lulu als Kreatur, Triebwesen, Verführerin, Unheilbringerin, Urgestalt des Weibes, Selbstverständlichkeit)
- Aufstellen von Thesen zu Geschlechterverhältnis/Weiblichkeit (am Beispiel von Schwarz bzw. Schön und Lulu)
- Ist der Tierbändiger des Prologs in diesem Aufzug zu finden?

a) Stundenübersicht

1. Gruppen-/Einzelarbeit

Verschiedene Thesen zu den Auftritten des zweiten Aufzuges formulieren, Argumente aus dem Text

2. Plenum

Zusammentragen und Systematisieren

b) Ergebnisse und Tafelbild

AUFTRITT

Im zweiten Aufzug werden das Scheitern der Ehe von Lulu und Schwarz und die tiefere Bindung von Lulu und Schön dargestellt. Das Thema von Tier und Dompteur wird variiert.

I

These

In diesem Aufzug wird die bürgerliche Ehe in der besonderen Form der Künstlerehe dargestellt. Es liegt ein ungleiches Verhältnis vor: Schwarz ist abhängig (emotional, künstlerisch), Lulu ist nicht triebhaft, nicht kokett, sie reagiert passiv, gelangweilt, schicksalsergeben, fühlt sich als empirisches Subjekt/Frau nicht gesehen.

Markante
Textstellen

S.32, Z.21-26 "Eva": Lulu ist für Schwarz (vgl. Prolog) Verführerin, er ist abhängig von ihr, sie vergiftet ihn. Die persönliche Ansprache mit Ausrufezeichen klingt nach einer Aufforderung, sie antwortet "lächelnd" entsprechend "Befehlen?": Hier kündigt sich der Wunsch nach einem "Tierbändiger" an. Er antwortet aber mit einem unverbindlichen Kompliment.
S.34, Z.5-S.35,Z.3 Hier wird die Beziehungsstruktur deutlich: Schwarz macht Lulu (hohle) Komplimente und umwirbt sie. Er spricht aus, dass Lulu für ihn Inspiration/Muse ist (Ästhetisierung), dass er sie als seinen Besitz ansieht, dass er von ihr abhängig ist, dass er sich in ihr verloren hat. Sie sieht sich dagegen nicht gesehen, ist gelangweilt.
Zuschreibungen des Prologs: Lulu ist hier nicht triebhaft, kein Tier, sie interessiert sich für Äußeres (Spiegel, Aussehen, Kultur), sie liest (Kultur), befindet sich in einem gutbürgerlichen Ambiente (Kultur)

II

These

Lulu und Schigolch scheinen ein vertrautes Verhältnis zu haben, sich schon lange zu kennen, einmal intime Beziehungen gehabt zuhaben. Wie der Dompteur formuliert Schigolch Zuschreibungen für Lulu: Prinzip, feines Tier. Die beiden haben ein vertrautes Verhältnis, scheinen einmal intime Beziehungen gehabt zu haben.

Markante Textstellen

S.37, Z.10-28 "Lulu" - Name-Prinzip. Schigolch sieht hinter den Namen von Lulu ein "Prinzip" (vgl. Dompteur)
S.38, Z.23-27 Lulu bezeichnet sich selbst als Tier. Schigolch charakterisiert das Tier - wie der Dompteur - näher: ein kultiviertes Tier.
S.39, Z.1-12 Leben/Begehrtwerden - Tod. Lulu "will zum Anbeißen sein", begehrt werden (Triebhaftigkeit?)

III
These

Dieser Auftritt ist eine der zentralen Stellen von "Lulu". Er steht in engem Bezug zum Prolog. In dem Macht- und "Gewaltmenschen" Schön trifft das "Tier" Lulu seinen "Tierbändiger". Lulu ist hier kein "Natur"-, sondern ein Kulturwesen (Erziehung, Selbstverständlichkeit, Entwicklung von Vorstellungen), das den Versuch macht, seine Lage zu reflektieren und hier eine Theorie der Weiblichkeit vorstellt.

Markante
Textstellen

S.41, Z.11-S.44
a) Kritik an der bürgerlichen Moral: Dreiecksverhältnis, Ehe und Liebe am Beispiel von Schwarz als Besitzverhältnis, Vorstellung
b) Umkehrung der Rollen: Schwarz als Kind, Unschuld, triebhafter Mensch, der seinen Trieb aber in der Kunst sublimiert (Ästhetisierung Lulus), bei Lulu das Gefühl der Austauschbarkeit (Verniedlichungsformen) erweckt, Mensch "ohne Erziehung", Angst vor Frauen
c) Lulu ist in dieser Szene nicht triebhaft, nicht kokett, nicht unschuldig (Bildung, Erziehung), aber böse (mehrfacher Verrat an Schwarz: Traum von Goll, gehört Schön an, belügt Schwarz über ihre Vorgeschichte). Sie ist mit Schwarz eine Zweckehe eingegangen, verlangt aber "Erziehung", d.h. Wahrnehmung der Geschlechterdifferenz.
d) Im Verhältnis von Schön und Lulu spiegelt sich das Verhältnis Tier-Dompteur des Prologs wieder. Lulu ist von Schön abhängig (ihr Erzieher), Schön ist von ihr fasziniert, hat Macht über sie (Protektion, Kontrolle). Er kann sie nicht heiraten, weil es seinen Karrierewünschen widerspricht und weil er sie erzogen hat. Schön ist der Macht- und Gewaltmensch, der Vertreter der Zivilisation, d.h. er hat Vorstellungen, Imaginationen.

IV
These

Schön zerstört in allen Aspekten das narzisstische Selbstbild von Schwarz und damit seine Identität:
- Das Geld, das Lulu mitgebracht hat, ist die Voraussetzung des Künstlertums von Schwarz. Schön verlangt von Schwarz ein realistisches (zynisches?) Umgehen mit dieser Tatsache.
- Lulu ist nicht die verklärte Frau, die Schwarz als Muse braucht (soziale Herkunft, Unschuld)
- Nicht er hat seine Muse, sondern Lulu hat ihn ausgesucht.
Schön will, dass Schwarz seine Rolle, die Rolle des Dompteurs einnimmt. Er scheitert daran, dass die Verfolgung seines Eigeninteresses (Macht über andere Menschen, z.B. Dressur von Schwarz) ihn blind macht für die Abhängigkeiten der anderen. Außerdem täuscht er sich über die Künstlermentalität (Umgang mit dem Verruchten).

Markante
Textstellen

S.48, Z.6 - Schluss
Zuspitzung der Szene: "Wert" von Lulu (eine halbe Million), Verbindung zum Prolog (Lohn-Verdienst (Schwarz)), Aufgreifen der Namensproblematik, Wehleidigkeit von Schwarz, als seine Identität zerstört wird.

V
These

Schöns spürt zunächst intuitiv Angst (Er könnte in Zusammenhang mit dem Tod von Schwarz gebracht werden), will sich entziehen und kann es nicht.

Markante
Textstellen

Dieser Auftritt kann übersprungen werden, da sich die Schuldfrage im nächsten Auftritt deutlicher stellt.

VI

These

Schön erkennt seine eigene Schuld ("Ich bin gerichtet" u.a.). In z.T. grotesk pathetischer Form sieht er, dass seine gesellschaftliche Stellung und seine Heiratspläne (die verbunden sind zum einen mit gesellschaftlichem Aufstieg und zum anderen damit, dass Lulu an einen anderen Mann gebunden ist) jetzt extrem gefährdet sind.
Bezug zur französischen Revolution: Evtl: Schön als Vertreter bürgerlicher Ideale. Freiheit und Verantwortung des Individuums. Legitimierte Gewalt.
In diesem Auftritt - wie schon in früheren - wird deutlich, dass Lulu keine Moral, kein Schuldgefühl hat. Sie wirkt nicht betroffen vom Tod Schwarz’, sie will Schön und sich rein waschen (Blut). An ihr geht der Selbstmord spurlos vorüber.

Markante
Textstellen

 

VII
These

Dieser Auftritt kann weggelassen werden, da er keine neuen Aspekte zum Stück beiträgt und durch die Figur des Journalisten komische Züge trägt.

Markante
Textstellen

 

c) Hausaufgabe: Szenarium zu "Die Büchse der Pandora"

d) Texte

"Die Männer nehmen in Lulu lediglich die Spiegelbilder ihrer Weiblichkeitsvorstellungen wahr. Die Katastrophen setzen ein, wenn sich das Bild, das sie sich jeweils von Lulu gemacht haben, mit dem Handeln und der Erscheinungsform dieser Figur nicht mehr deckt, weil sie in eine neue Rolle geschlüpft ist." Bovenschen, S.49

"Aus der Inkommensurabilität dieser Substanzvorstellung von der ‘Urgestalt des Weibes’ mit den jeweiligen der Lulu oktroyierten Rollen motiviert Wedekind die Ausbrüche der Lulu und deren katastrophale Folgen." Bovenschen, S.52

7. Block

Inhaltsübersicht/Thematik
"Die Büchse der Pandora"

Leitfragen:
- Inhaltsübersicht über die beiden Stücke (Figuren, Handlung)?
- Um was geht es (Themen)?
- Zusammenhang zum Thema "Das Künstliche und das Natürliche)?
- Zentrale Szenen?

a) Stundenübersicht

1. Gruppenarbeit/Partnerarbeit

Vergleich der Szenarien zu "Büchse der Pandora"

2. Plenum

Besprechung der Szenarien

b) Tafelbild

Szene

Figuren

Handlung

Thematik

Sprache/
Spannung

Die Büchse der Pandora: Niedergang und Ende von Lulu

Vorwort

a) Einleitung: Überarbeitungen, jetzt: Abschluss des Stückes
b) Kurzer Bericht über die Prozesse. Staatsanwaltschaft: Das Stück hat keinen sittlichen und künsterischen Wert. Gerichtsurteile: Das Stück hat sittlichen und moralischen Wert.
c) Eigenwillige Deutung des Stücks durch Wedekind: Geschwitz als Hauptfigur (Tragödie der "Unnatürlichkeit"), Rodrigo als Gegenspieler
d) Bürgerliche und menschliche Moral: Berechtigung der Verurteilung käuflicher Liebe vom Standpunkt der bürgerlichen Moral, Höherstehen der menschlichen Moral

Prolog

Der normale Leser, der rührige Verleger, der verschämte Autor und der hohe Staatsanwalt unterhalten sich in einer Buchhandlung über ihre Vorstellungen von einem Buch: "So pflegen wir gemeinsam das Gehege / Dramatischer Dichtung mit verteilter Kraft."

I

Lulu im Gefängnis, ihre Befreiung
Prachtvoller Saal im Renaissance-Stil (Haus von Schön)

 

Alwa, Rodrigo, Geschwitz, Schigolch, Hugenberg
Lulu

Befreiungspläne für Lulu aus dem Gefängnis. Rodrigos Unterwerfungspläne für Lulu (als Braut, Luftgymnastikerin)
Flirt mit Alwa, Flucht nach Paris.

Alwa als Autor des "Erdgeist"
Rodrigos Entwürfe zum Geschlechter-verhältnis,

Befreiungspläne Geschwitz, Hugenberg, Lulus Befreiung

II

Lulu unter Druck (Drohungen der Anzeige bei der Polizei)
Paris, in einem luxuriösen Haus

 

Alwa, Rodrigo, Casti-Piani, Puntschu, Heilmann, Geschwitz, Magelone, Kadidja, Bianetta, Ludmilla Steinherz, Lulu, Bob

Lulus Geburtstag, Handel mit "Jungfrau-Aktien" (Drahtseilbahn), Mädchenhändler Casti-Piani erpresst Lulu und will sie nach Ägypten verkaufen. Bakkara-Spiel. Wert-verfall der Aktien. Lulu wird angezeigt.

Liebe, Geld, Erpressungen,

gegenseitige Erpressungen, wer setzt sich durch?

III

Lulu als Alwas Frau und Straßendirne
London, Dachkammer

 

Schigolch, Alwa, Lulu, Geschwitz
Kunden: Hunidei, Kung Poti, Jack the Ripper

Flucht nach London. Lulu als Straßendirne. Alwa und Schigolch leeren Lulus Kunden die Manteltaschen; Poti ermordet Alwa. Lulu empfängt Jack, gibt ihm Geld, wird von ihm ermordet

Triebstruktur (Lulu, Jack), Tragik des Endes? Lulu als Dirne (Umgang mit Kunden). Der Fall.

Elend, Tod

c) Hausaufgabe: Vorbereitung der Schlussszene (S.173, Z.10 f.; S.173, Z.23 bis S.174, Z.12; S.176, Z.17 bis Schluss) von "Die Büchse der Pandora"

d) Texte: Inhaltsangabe von "Die Büchse der Pandora" aus dem Kindler-Lexikon

Die Büchse der Pandora zeigt Lulus Niedergang und Ende. Alwa, Schigolch, Rodrigo und der Gräfin Geschwitz gelingt es, sie aus dem Gefängnis zu befreien. Sie fliehen nach Paris, wo Lulu, die nun Alwa geheiratet hat, ein hochstaplerisch-luxuriöses Leben führt. Unter ihren undurchsichtigen Gästen ist ein Mädchenhändler, Marquis Casti-Piani, der sie in den Orient verkaufen will. Bei der Polizei denunziert, flieht sie nach London. Im Schlussakt hausen Lulu, Schigolch, Alwa und die Gräfin Geschwitz dort völlig verarmt in einer erbärmlichen Dachkammer. Trotz des Protestes der anderen geht Lulu auf die Straße. Ihr erster Kunde ist ein stummer Pilger. Der nächste, ein Negerprinz, erschlägt Alwa, als dieser ihn anfällt. Die Geschwitz versucht vergeblich sich zu erhängen. Lulus vierter Kunde schließlich, Jack the Ripper, tötet die Gräfin und dann Lulu. Schigolch allein überlebt.

 

8. Block

Exemplarische Textanalyse
"Die Büchse der Pandora"
(3. Aufzug- Der Schluss)

Begründung für die Behandlung des Dramenschlusses:
- Bei der geschlossenen Form gibt der Dramenschluss Rückschlüsse auf den dargestellten Konflikt
- Bei einer Tragödie hat der Schluss eine zentrale Rolle
- Der Tod von Lulu wirft noch einmal ein Licht auf die Figur und ihre Deutungsmöglichkeiten: Rache? Lulu als Opfer? Tod des Ideals?

Leitfragen:
Welches Menschenbild hat die Geschwitz?
Wie wird Jack the Ripper charakterisiert?

Mit "Jack the Ripper" unterschrieb in der Zeit der Entstehung der Lulu-Tragödie ein bestialischer Massenmörder, der sich auf die Zermetzelung angealterter Dirnen in Whitechapel (London) spezialisiert hatte und nie gefasst wurde, seinen höhnischen Spottbrief an die Londoner Polizei. Die Sensationsberichte in der Presse setzten halb Europa in Angst und Schrecken und sollen zu einem neuen Wissenschaftszweig geführt haben, der >Ripperologie<.

Wie stirbt Lulu?
Wie ist der Schluss zu interpretieren?

a) Stundenübersicht

1. Einzel-/Gruppenarbeit

Aufstellen von Thesen zum Ende von Lulu

2. Auswertung

 

3. Problematisierung

Tragischer Schluss?

b) Ergebnisse und Tafelbild

S.173, Z.10 f.

"Die kann von der Liebe nicht leben, weil ihr Leben die Liebe ist." (Schigolch)

In der Sekundärliteratur häufig zitierter und aus dem Zusammenhang gerissener Satz über Lulu.
Zwar Zuschreibung von Schigolch, trifft aber einen wesentlichen Zug für die Deutung der Schlussszene: Lulu fehlt die Distanz zur Ausübung des Dirnenberufs.

 

S.173, Z.23
- S.174, Z.12S.176, Z.16
- S.179, Z.17

JACK THE RIPPER

Aufbau:
a) Äußeres von Jack (S.176,Z.17-23): Jack wird vom Äußeren als kranker, pathologischer Mensch eingeführt (gedrungen, blass, entzündete Augen, feuerrote Hände, gesenkter Blick):
b) Geschäftsverhandlungen (S.176, Z.24-S.178, Z.5): Im Gegensatz zu seinem Äußeren steht die Sachlichkeit, der Realismus von Jack. Er erkennt die Geschwitz (Gemeinschaft der "Unnatürlichen: "Sie ist in dich verliebt", "armes Tier"), wird von Lulu nicht erkannt. Die Geschäftsverhandlungen zeigen Lulus Unfähigkeit zur Arbeit als Straßendirne (s. Schigolch-Zitat). Ihr fehlt die Distanz. Sie gibt ihm ihr ganzes Geld. Die Angst, als Dirne zu versagen (keine Kunden zu haben), ist größer als der Geschäftssinn (widerspricht ihrer "Erziehung"). Sie kann sich nur in der gesellschaftlich anerkannten Form prostituieren (Ehen), nicht in der tabuisierten. Details von Jacks Fixierung auf das weibliche Geschlechtsorgan werden hier symbolisch benannt: der schöne Mund (pars pro toto, Zerstückelung in der Vorstellung). Jacks Realismus (im Gegensatz zu den vorherigen Kunden Lulus) zeigt sich auch in seinem berechtigten Misstrauen (Angst vor dem Ausgeraubtwerden)

c) Der Akt (S.178, Z.6 - S.179, Z.14): Gezeigt wird die Ermordung der Geschwitz (Abwehr der Bedrohung), nicht die Triebtat an Lulu. Wieder wird der Trieb durch das Äußere charakterisiert: Schweiß, Keuchen, Starren, heraustretende Augen), der zivilisierte Trieb: Händewaschen, Glück.
d) Schluss (S.179, Z.15-17): Lulu wird von der Geschwitz zum Idol erklärt ("Mein Engel", "Ewigkeit"), verewigt.
These: Lulu stirbt durch den Trieb (Triebmenschen), aber nicht durch die Natur, denn der Trieb Jacks ist ein gesellschaftliches Produkt. Jacks Trieb ist kein tierischer Trieb, sondern rohe Gewalt. Jack führt zu Ende (Gewalt), was mit Goll, Schwarz, Schön begonnen hat. Seine Gewalt ist Ergebnis seiner Phantasie, seiner Vorstellungen. Lulu wird Opfer der Triebhaftigkeit, der gegenüber sie blind ist, nicht ihrer Trieb.

 

Zusammenfassung

In der Schlussszene schließt sich der Bogen zum Prolog.
Im Mittelpunkt von Wedekinds Interesse steht das Verhältnis von Natur und Zivilisation, von Realität und Ideologie. Es gibt keine Natur außerhalb der Zivilisation. Die Schlange Lulu, ihre Sinnlichkeit ist das Ergebnis von Erziehung, höchster Zivilisation. Triebhaftigkeit erscheint nur in den Figuren Geschwitz und Jack, deren Triebe aber "unnatürlich", also künstlich sind.
Es geht in "Lulu" um die Konflikte zwischen Vorstellungen (Lulu: Bild von Weiblichkeit und Selbstbestimmung; Männer: Imaginationen, die sich am Geschlecht festmachen (s. Zeitgeist, auch unter 2.2 Virchow: "unser Schlachtfeld ist der weibliche Körper".

 

c) Hausaufgabe: Genaue Lektüre der Texte zum Naturbegriff oder zur Weiblichkeit

 

9. Block (A)

Theoretische Texte zum Naturbegriff

Begründung für die Auswahl des Themas:
Hier wird das Thema Weiblichkeit in einem allgemeinen Zusammenhang diskutiert und kann in den geistesgeschichtlichen Zusammenhang (Aufklärung, Sturm und Drang, Klassik, Romantik usw.) eingeordnet werden

Erkenntnisziel:
"Man darf nicht verwechseln, was im Naturzustand natürlich ist und was im Gesellschaftszustand natürlich ist."
Rousseau (Èmile, RUB, S.813)

Leitfragen:
- Naturbegriff und Menschenbild bei Rousseau?
- Naturbegriff und Menschenbild bei Gehlen?
- Bezug zum Stück?

a) Stundenübersicht

1. Arbeitsteilige
Gruppenarbeit

a) Rousseau: Émile
b) Gehlen: Über Kultur, Natur und Künstlichkeit

2. Bericht

Systematisierung an der Tafel: Natur, Natürlichkeit, Künstlichkeit

3. Plenum

Übertragung auf das Stück

b) Ergebnisse und Tafelbild

Annäherung an den Naturbegriff:
- Alltagsbegriff: das Gegebene, Vorgefundene, Selbstverständliche
- Jugendstil: positiver Naturbegriff: Möglichkeit einer uneingeschränkten Entfaltung vitaler und individueller Kräfte (neuromantische Sehnsucht nach einer Aussöhnung von Körper und Geist). Prinzip besonderer Individualität
- Philosophie: häufig negativer Naturbegriff: Gewalt, Brutalität, Chaos (z.B. Aristoteles, Hobbes)

NATUR

Rousseau

Gehlen

Wedekind

Natur (positiv) als Gegensatz zur Zivilisation (negativ), Sichselbstüberlas-sen

Natur/Natürlichkeit als selbstverständlich gewordene Künstlichkeit

Spiel mit dem Gegensatz: Natur/Bestie - Kunst - Natürlichkeit
- Sympathie mit Rousseauscher Natürlichkeit
- aber auch: Teilen der Aussage von Gehlen

c) Hausaufgabe: Vorbereitung einer Gliederung zur Erörterung

d) Texte

1) Jean-Jacques Rousseau (1712-1778): Émile oder Über die Erziehung (1762) (Alternative: Text 1 b) des Stundenentwurfs 8 (B) zu der Bestimmung der Weiblichkeit durch die Natur)

Alles, was aus den Händen des Schöpfers kommt, ist gut; alles entartet unter den Händen des Menschen. Er zwingt einen Boden, die Erzeugnisse eines anderen zu züchten, einen Baum, die Früchte eines anderen zu tragen. Er vermischt und verwirrt Klima, Elemente und Jahreszeiten. Er verstümmelt seinen Hund, sein Pferd, seinen Sklaven. Er erschüttert alles, entstellt alles - er liebt die Missbildung, die Monstren. Nichts will er so, wie es die Natur gemacht hat, nicht einmal den Menschen. Er muss ihn dressieren wie ein Zirkuspferd. Er muss ihn seiner Methode anpassen und umbiegen wie einen Baum in seinem Garten.

Ohne das wäre alles noch schlimmer, und unsere Gattung will nicht halb geformt existieren. So, wie es im Augenblick steht, würde ein nach seiner Geburt völlig sich selbst überlassener Mensch das verbildetste aller Wesen sein. Vorurteile, Autorität, Vorschriften, Beispiel - alle die Einrichtungen der Gesellschaft, in denen wir ertrinken, würden seine Natur ersticken und ihm kein Äquivalent dafür geben. Sie müsste, wie ein Bäumchen, das der Zufall mitten auf einen Weg hat wachsen lassen, alsbald zugrunde gehen, weil die Vorübergehenden es von allen Seiten stoßen und in alle Richtungen biegen würden.
An dich wende ich mich, zärtliche und klarblickende Mutter, die du abseits von der großen Straße zu gehen und das heranwachsende Bäumchen vor dem Schock der menschlichen Irrtümer zu schützen wusstest! Pflege und tränke das junge Gewächs, bevor es stirbt; eines Tages werden seine Früchte deine Wonne sein. Friede beizeiten die Seele deines Kindes ein; ein anderer mag den Umkreis abstecken wollen, aber du allein musst die Schranken setzen.

2) Arnold Gehlen: Über Kultur, Natur und Natürlichkeit

Um die bisher gefundenen Ergebnisse in drei Sätzen zusammenzufassen, kann man sagen: Die in einer bestimmten Gesellschaft entwickelten kulturellen Verhaltensweisen, Denk- und Anschauungsarten, Reaktionsformen usw. erscheinen den darin Aufgewachsenen als <natürlich>, abweichende dagegen erscheinen als lächerlich, ungehörig oder verwerflich. Werden nun diese Normen erschüttert, was stets irgendwann eintritt, vor allem bei Fremdberührung oder von einem gewissen Grade der Komplikation des Kultursystems an, dann fallen sie als willkürlich oder konventionell auf, und man setzt gegen sie andere, die als natürlich imponieren. Was aber jetzt den Charakter des Natürlichen erreichen kann, das wird doch wieder zuletzt von dem System der Standpunkte dieser betreffenden Kultur bestimmt, die also letzlich nur einen Satz kulturell geformter Verhaltensweisen, die den Anschein der Natürlichkeit verloren haben, gegen einen anderen austauscht, die diesen Anschein neu gewinnen. Seit etwa 1885 (KARL BLEIBTREU) pflegt das Selbstverständnis dieses Vorgangs in dem Ausdruck <Revolution> zu erfolgen.

 

9. Block (B)

Theoretische Texte zur Weiblichkeit

Begründung für die Auswahl des Themas:
Ist ein Kurs aber speziell an der Rolle, dem Bild bzw. Wesen von Weiblichkeit interessiert, könnte das Natur-/Kulturproblem spezieller am Beispiel der Weiblichkeit erarbeitet werden. Ansonsten ist es als Hausaufgabe geeignet.

Stundenziel:
"Lulu ist Trägerin abstrakter Weiblichkeitsbestimmungen, Symbol weiblicher Befreiung von den Rollenzwängen, einer Idee vom >eigentlichen Wesen< des Weiblichen, eine Frau, die sich, um zu überleben, immer wieder in den Besitz von Männern zwingen lässt, gegen die sie dann in verhängnisvoller Weise ihre vermeintliche Selbständigkeit zu behaupten sucht." (Silvia Bovenschen: Die imaginierte Weiblichkeit. S.52)

Leitfragen:
- Bild der Weiblichkeit bei Rousseau?
- Bild der Weiblichkeit bei Nietzsche?
- Bild der Weiblichkeit bei Simmel?
- Bezug zum Stück?

a) Stundenübersicht

1. Arbeitsteilige Gruppenarbeit

a) Rousseau: Émile
b) Nietzsche: Die fröhliche Wissenschaft
c) Simmel: Weibliche Kultur

2. Plenum

Bericht der Arbeitsgruppen und Systematisierung

3. Plenum

Übertragung auf das Stück

b) Tafelbild

Annäherung an das Bild von Weiblichkeit:
- Gleichheit von Mann und Frau (Gleichberechtigung), Geschlechterdifferenz als ein Kultur- Herrschaftsprodukt
- Differenz: Die Frau als das Andere (auch: der bessere Mensch). Unterschiede: Körper, Psyche

WEIBLICHKEIT

Allen drei Autoren ist gemeinsam, dass sie Weiblichkeit als Differenz/Ergänzung zur Männlichkeit ansehen.

Rousseau

Nietzsche

Simmel

Rousseau geht aus von der Ungleichheit der Geschlechter, die bei ihm durch Natur gegeben ist und von der Kultur verfeinert werden soll.

Die Frau ist ein Gattungswesen, ein Ergänzungswesen für den Mann, der Mann ist ein durch Sozialisation und Individuation strukturiertes gesellschaftliches Wesen. Natur der Frau und Dominanzbedürfnisse des Mannes ergänzen sich.

Aber Rousseau macht auch schon deutlich, dass die Frau in unserer Kultur gar keine andere Wahl hat, als "natürlich" zu sein.

Doppelgestalt des Weiblichen/Weiblichkeit als Ergänzung/Projektion:

Phantasma: Im fernen, imaginierten Weiblichen wird "das Leben selbst zum Traum über das Leben"

Alltag: Aus der Nähe betrachtet erscheint das Weibliche als ein kleiner "erbärmlicher Lärm"

Bei Nietzsche wird die Frau nur in ihrer Funktion für den Mann gesehen.

Differenz von Männlichkeit und Weiblichkeit, Verhinderung der Entfaltung der weiblichen Kultur durch Dominanz der männlichen Kultur:

Ganzheitlichkeit (gegen Arbeitsteilung), Emotionalität, Subjektivität (an Stelle der Objektivierungen des Mannes)

Übertragung auf das Stück: Liest man den Prolog, so kann man vermuten, dass Wedekind das Rousseausche Programm fortführt: Wir erleben die Geschlechterdifferenz als Teil unserer Zivilisation. Was käme zum Vorschein, wenn das Künstliche abgestreift würde, was wäre die weibliche Natur, die "Urgestalt des Weibes". Andererseits bleibt Wedekind im gleichen Dilemma wie Rousseau befangen: Natürlichkeit lässt sich nur negativ bestimmen.

Nietzsches Text passt insofern zu Wedekind, als das Phantasma des Weiblichen in vielen Formen vorgeführt wird. Die Männer gehen aber eher zugrunde, als dass sie die Einschränkung der Phantasie als "kleines Geräusch" hinnehmen würden.

Simmels Projekt der Bestimmung der Weiblichkeit als des anderen, Ganzheitlichen, findet bei Wedekind nur an wenigen Stellen statt (z.B. Tanz von Lulu).

c) Hausaufgabe: Vorbereitung des Erörterungsthemas (Schluss oder Lulu als Naturwesen)

d) Texte

1) Jean-Jacques Rousseau - Gute Zusammenstellung des Rousseauschen Frauenbildes: "Sophie oder Über die Erziehung zur Ungleichheit" In: Silvia Bovenschen: Die imaginierte Weiblichkeit. Exemplarische Untersuchungen zu kulturgeschichtlichen und literarischen Präsentationsformen des Weiblichen. Frankfurt am Main: Edition Suhrkamp 1979. S.164-181. Daraus im folgenden einige Zitate:
a) "Der Mann ist nur in gewissen Augenblicken Mann, die Frau ist ihr ganzes Leben lang." Jean-Jacques Rousseau: Émile, Stuttgart: RUB, S.727
b) Rousseau lässt eine Frau, >Julie<, die neue >Héloïse<, den qualitativen Unterschied der Geschlechter beschreiben:
"Als ob ein Weib je aufhören dürfte, Weib zu sein! Erinnerst Du Dich, dass wir uns einmal beim Lesen der Republik des Plato über den Punkt der sittlichen Verschiedenheit der Geschlechter gestritten haben; ich bleibe bei der Meinung, die ich damals vertrat, und könnte mir kein Ideal von Vollkommenheit denken, welches zwei so verschiedenen Menschenwesen gemeinschaftlich wäre. Angriff und Verteidigung, männliche Klugheit, Verschämtheit der Frauen beruhen nicht, wie Deine Philosophen meinen, auf willkürlicher Übereinkunft, sondern auf Einrichtungen der Natur, deren Ursachen sich leicht angeben und von denen sich ebenso leicht alle andern sittlichen Unterscheidungen ableiten lassen. Da nun überdies die Natur den Geschlechtern nicht einerlei Bestimmung gegeben hat, müssen auch die Neigungen und die verschiedene Art zu sehen und zu empfinden auf jeder Seite nach den Ansichten der Natur geleitet werden. Das Land zu bauen und die Kinder zu stillen bedarf es weder gleicher Neigungen noch gleicher Körperbildung. [...] Das vollkommene Weib und der vollkommene Mann dürfen sich weder in Ansehung des Geistes noch in der Gesichtsbildung gleichen; die eitlen Nachäffungen der Geschlechter sind höchste Stufe der Unvernunft, sie machen die Weisen lachen und verscheuchen die Liebesgötter."
Jean-Jacques Rousseau, Julie oder die Neue Héloïse, Bd. 1, Berlin: Propyläen, o.J., S.175
c) "Allein schon durch das Gesetz der Natur sind die Frauen ebenso wie die Kinder dem Urteil des Mannes ausgesetzt."
Jean-Jacques Rousseau, Èmile, Stuttgart: RUB, S.733
d) "So muss sich die ganze Erziehung der Frauen im Hinblick auf die Männer vollziehen. Ihnen gefallen, ihnen nützlich sein, sich von ihnen lieben und achten lassen, sie großziehen, solange sie jung sind, als Männer für sie sorgen, sie beraten, sie trösten, ihnen ein angenehmes und süßes Dasein bereiten: das sind die Pflichten der Frauen zu allen Zeiten, das ist es, was man sie von Kindheit an lehren muss."
Jean-Jacques Rousseau: Èmile, Stuttgart: RUB, S.733
e) "Die Frau ist dazu geschaffen, dem Mann nachzugeben und selbst seine Ungerechtigkeit zu ertragen. Knaben kann man nie dahin bringen; ihr innerstes Gefühl erhebt und empört sich gegen die Ungerechtigkeit; die Natur schuf sie nicht, Ungerechtigkeit zu dulden." Jean-Jacques Rousseau: Émile, Stuttgart: RUB, S.795
"Aber mir wäre ein einfaches und derb erzogenes Mädchen hundertmal lieber als ein Blaustrumpf und Schöngeist, der in meinem Hause einen literarischen Gerichtshof etabliert und sich zu dessen Präsidentin macht. Eine schöngeistige Frau ist die Geißel ihres Mannes, ihrer Kinder, ihrer Freunde, ihrer Diener, aller Welt [...]. Außerhalb des Hauses wirkt sie überall lächerlich und setzt sich einer sehr gerechten Kritik aus, denn diese kann nicht ausbleiben, wenn man seinen Stand verlässt und einen annehmen möchte, für den man nicht geschaffen ist. All diese hochbegabten Frauen machen nur den Dummen Eindruck. Man weiß immer, wer der Künstler oder der Freund ist, der die Feder oder den Pinsel hält, wenn sie arbeiten; man weiß, wer der diskrete Gelehrte ist, der ihnen insgeheim ihre Orakel diktiert. Diese ganze Scharlatanerie ist einer ehrbaren Frau unwürdig. [...] Ihre Würde ist es, nicht gekannt zu sein; ihre Ehre ist die Achtung ihres Mannes, ihre Freuden liegen im Glück ihrer Familie. [...] Gäbe es nur vernünftige Männer auf Erden, so müsste jedes gelehrte Mädchen sein Leben lang Mädchen bleiben."
Jean-Jacques Rousseau: Èmile, Stuttgart: RUB, S.777

g) "Aus diesem gewohnheitsmäßigen Zwang [zur Unterwerfung unter den Mann] entsteht eine Gefügigkeit, deren die Frauen ihr ganzes Leben bedürfen, da sie niemals aufhören, unterworfen zu sein, sei es einem Mann oder dem Urteil der Männer, und es ihnen nie erlaubt ist, sich über dieses Urteil zu erheben. Die erste und wichtigste Qualität einer Frau ist die Sanftmut."
Jean-Jacques Rousseau: Èmile, Stuttgart: RUB, S.733

2) Nietzsche: Die fröhliche Wissenschaft (Zweites Buch)

"Die Frauen und ihre Wirkung in die Ferne. - Habe ich noch Ohren? Bin ich nur noch Ohr und nichts weiter mehr? Hier stehe ich inmitten des Brandes der Brandung, deren weiße Flammen bis zu meinem Fuße heraufzüngeln - von allen Seiten heult, droht, schreit, schrillt es auf mich zu, während in der tiefsten Tiefe der alte Erderschütterer seine Arie singt, dumpf wie ein brüllender Stier: er stampft sich dazu einen solchen Erderschütterer-Takt, dass selbst diesen verwetterten Felsunholden hier das Herz darüber im Leibe zittert. Da, plötzlich, wie aus dem Nichts geboren, erscheint vor dem Tore dieses höllischen Labyrinthes, nur wenige Klafter weit entfernt - ein großes Segelschiff, schweigsam wie ein Gespenst dahergleitend. Oh diese gespenstische Schönheit!
Mit welchem Zauber fasst sie mich an! Wie? Hat alle Ruhe und Schweigsamkeit der Welt sich hier eingeschifft? Sitzt mein Glück selber an diesem stillen Platze, mein glücklicheres Ich, mein zweites verewigtes Selbst? Nicht tot sein und doch auch nicht mehr lebend? Als ein geisterhaftes, stilles, schauendes, gleitendes, schwebendes Mittelwesen? Dem Schiffe gleichend, welches mit seinen weißen Segeln wie ein ungeheurer Schmetterling über das dunkle Meer hinläuft! Ja! Über das Dasein hinlaufen! Das ist es! Das wäre es! - - Es scheint der Lärm hier hat mich zum Phantasten gemacht? Aller großer Lärm macht, dass wir das Glück in die Stille und Ferne setzen. Wenn ein Mann inmitten seines Lärms steht, inmitten seiner Brandung von Würfen und Entwürfen: da sieht er auch wohl stille zauberhafte Wesen an sich vorübergleiten, nach deren Glück und Zurückgezogenheit er sich sehnt - es sind die Frauen. Fast meint er, dort bei den Frauen wohne sein besseres Selbst: an diesen stillen Plätzen werde auch die lauteste Brandung zur Todesstille und das Leben selber zum Traume über das Leben. Jedoch! Jedoch! Mein edler Schwärmer, es gibt auch auf dem schönsten Segelschiffe so viel Geräusch und Lärm, und leider so viel kleinen erbärmlichen Lärm! Der Zauber und die mächtige Wirkung der Frauen ist, um in der Sprache der Philosophen zu reden, eine Wirkung in die Ferne, eine actio in distans: dazu gehört aber, zuerst und vor allem - Distanz.!"
Aus der lauten und bewegten "Brandung" seiner historischen Existenz imaginiert der >schwärmende< Mann ein Weibliches, das zum Symbol der Ruhe und der Schönheit wird. Völlig zu Recht weist Nietzsche darauf hin, dass dieses Bild des Weiblichen seine Qualität nur in der Entfernung hat, die zwischen dem Sehnen und dem Alltag besteht - dass es zerrinnt, sobald man sich ihm nähert; und zu Unrecht kreidet er die mit der Annäherung verbundenen Enttäuschungen den Frauen an, die ja an dieser Wunsch- und Bildproduktion gänzlich unbeteiligt waren und deren geschichtslose Existenz lediglich den Anlass zu diesen Imaginationen bildete.

3) Simmel: Weibliche Kultur (Ergänzungstheorie)

"Ihre [der Frauenbewegung, M.Z.] objektive Kulturbedeutung kann nicht dies sein, dass die Lebens- und Leistungsformen, die bisher für die Männer bestanden, nun noch soundso oft von Frauen ausgefüllt werden. Sondern: erheben sich aus dieser Bewegung ganz neue Gebilde, qualitativ von den bisherigen unterschieden, nicht nur Multiplikationen der alten? Wird das Reich der Kulturinhalte dadurch sachlich vermehrt? [...] Die Voraussetzungen wie die Ergebnisse dieser Fragestellung übersieht man erst von der Erkenntnis aus, dass die Kultur der Menschheit sozusagen nichts Geschlechtsloses ist, dass sie keineswegs in reiner Sachlichkeit jenseits von Mann und Weib steht. Vielmehr, unsere Kultur ist, mit Ausnahme ganz weniger Provinzen, durchaus männlich. [...] Dieser maskuline Charakter auch der sachlichen Elemente der Kultur ist die Veranlassung, weshalb unzulängliche Leistungen auf allen möglichen Gebieten mit dem deklassierenden Ausdruck des Femininen belegt werden und weshalb man die Leistung einer Frau auf ebendenselben oft nicht besser zu rühmen weiß, als dass man sie als ‘ganz männlich’ bezeichnet. [...] Die Art, nicht nur das Maß unserer Kulturarbeit wendet sich an spezifisch männliche Energien, männliche Gefühle, männliche Intellektualität. [...] Und ganz allgemein: die Spezialisierung, die unsre Berufe und unsere Kultur überhaupt charakterisiert, ist ganz und gar männlichen Wesens. Denn sie ist keineswegs etwas bloß Äußerliches, sondern ist nur möglich durch die tiefste psychologische Eigenart des männlichen Geistes: sich zu einer ganz einseitigen Leistung zuzuspitzen, die von der Gesamtpersönlichkeit differenziert ist, so dass das sachlich-spezialistische Tun und die subjektive Persönlichkeit, jedes gleichsam ein Leben für sich leben. [...] Die ganze Tiefe und Schönheit des weiblichen Wesens, durch die es vor dem männlichen Geiste als seine Erlösung und Versöhnung steht, gründet sich in dieser Einheitlichkeit, diesem organischen, unmittelbaren Zusammenhang der Persönlichkeit mit jeder ihrer Äußerungen, dieser Unteilbarkeit des Ich, die nur ein alles oder nichts, kennt. [...] Die wunderbare Beziehung, die die weibliche Seele noch zu der ungebrochenen Einheit der Natur zu haben scheint und die die ganze Formel ihres Daseins von dem vielspältigen, differenzierten, in die Objektivität aufgehenden Mann scheidet - eben diese trennt sie auch von der auf sachlicher Spezialisierung ruhenden Arbeit unserer Kultur. [...] Es ist eine der feinsten Aufgaben des Seelenlebens, die Tatsache und den Reiz von Unterschieden auf dem Boden erheblicher Gleichheit zu kultivieren und zu fühlen. Die Bildung spezifisch weiblicher Ideale hat sich bisher immer an die größte und gröbste Unterschiedenheit angeschlossen, an die unmittelbare sexuelle Differenziertheit; der absolute Gegensatz gegen das männliche Wesen, durch den sie zum Gegenstand der Erotik werden, hat ihre näheren wie ihre weiteren Ideale gestaltet und so deren Abstand von dem männlichen Prinzip freilich ganz unüberhörbar gemacht. So absolut und sinnenfällig aber wird innerhalb objektiven Kulturschaffens die weibliche Tonart sich nicht von der männlichen abheben. [...] Jedenfalls aber wird für den Augenblick zuzugeben sein, dass die Bildung und die Rechte der Frauen, nachdem sie so lange den Männern gegenüber in übertriebener Ungleichheit verharrt haben, das Stadium einer gewissen äußeren Gleichheit passieren müssen, ehe sich über diese hinweg eine Synthese: das Ideal einer objektiven Kultur, die mit der Nuance weiblicher Produktivität bereichert ist, erheben kann. [...]
Herr Professor Breysig hat in einer mündlichen Diskussion über diesen Gegenstand einen Gedanken angedeutet, den ich allerdings für eine wesentliche Erweiterung meiner Ausführungen halte. Die originale und objektive Kulturleistung der Frauen, so ungefähr meinte er, bestünde darin dass die männliche Seele zum großen Teil von ihnen gestaltet wird. So gut, wie etwa die Tatsache der Pädagogik oder die rechtliche Einwirkung der Menschen aufeinander oder auch: die Bearbeitung eines Materiales durch einen Künstler zur objektiven Kultur gehören, so gut täten es die Einflüsse, Bildungen und Umbildungen seitens der Frauen, dank deren die männliche Seele gerade so ist, wie sie ist. In der Tat: in der Formung dieser drücken die Frauen sich selbst aus, sie schaffen hier ein objektives und nur durch sie mögliches Gebilde, in dem Sinne, in dem man überhaupt von menschlichem Schaffen reden kann, das immer nur eine Resultante der schöpferischen Einwirkung und der eigenen Kräfte und Bestimmtheiten ihres Gegenstandes bedeutet. Es läge nahe, hierin eine Analogie zu der populären Überzeugung zu sehen: die spezifische Leistung der Frauen sei die Produktion und das Aufziehen der nächsten Generation. In beiden Fällen liegt der Sinn der weiblichen Existenz in ihrer Beziehung auf andere Wesen, in der Entäußerung ihrer selbst zugunsten anderer, die sich durch sie gestalten. Wer lehrt, dass die Frauen dazu da wären, das nächste Geschlecht hervorzubringen und zu erziehen - der lehrt, dass sie als Ganzes überhaupt nur für die Männer da sind. Denn da die weiblichen Wesen unter jener nächsten Generation auch nur wieder die Mittel für die demnächst folgende sind, so bleiben als Zwecke der ganzen Entwicklung eben nur die männlichen Elemente derselben bestehen. Der Breysigsche Gedanke dagegen lehrt nicht das Sich-Aufgeben der Frauen, sondern gerade das Sich-Erhalten ihrer, wie sich der Künstler in seinem Werk erhält, demgegenüber er doch nicht als Mittel bezeichnet werden kann. Vielmehr, dass seine Eigenart und Wirkungskraft sich auslebt und ausprägt, ist und bleibt der Endzweck seines Tuns. Dass die Frauen für die nächste Generation da wären, ist nur die optimistische Verhüllung davon, dass sie bloß um der Männer willen existieren; dass sie ihre Kulturleistung an der qualitativen Fgmmung der Männer haben, bedeutet umgekehrt, dass sie an den Männern gleichsam den Stoff finden, an dem die Besonderheit ihres Wesens und ihrer Kräfte sich objektiviert und ein nur durch sie realisierbares und sie - wenn auch nicht wörtlich -ausdrückendes Gebilde schafft.

 

Exzerpt zu: Georg Simmel (1858-1918): Weibliche Kultur (1902)
In: Georg Simmel: Schriften zur Philosophie und Soziologie der Geschlechter. es 1333, Ffm 1985, S.159-176

 1. Die Frauenbewegung (zur Zeit Simmels) stellt keine Forderungen, die über die Verbesserung der Lage der Frauen hinausgehen (Gleichberechtigung). Das Stadium äußerer Gleichheit, die Erzeugung der Konkurrenz gleichartiger Leistungen zwischen den Geschlechtern ist sicher ein notwendiger, aber nicht der letzte Schritt. Es kommt dann darauf an, auf dem Boden erheblicher Gleichheit die Unterschiede zwischen den Geschlechtern (die den Reiz des Lebens ausmachen) zu entfalten.
2. Alle bisherige Kultur ist nicht geschlechtslos, sondern, von wenigen Ausnahmen abgesehen, männlich. Männlich ist sie, was ihre Inhalte angeht und was das Geschlecht ihrer Träger angeht.
-Unzulängliche Leistungen in ihr werden als feminin diffamiert.
-Sie entstammt dem Geist und der Arbeit von Männern.
-Sie entspringt männlicher Energie, männlicher Gefühle, männlicher Intellektualität.
-Die Spezialisierung, die unsere Berufswelt prägt, ist durch und durch männlich. Sie zwingt Frauen in eine Situation, in der sie ihre Weiblichkeit nicht leben können.
3. Geschlechtsunterschiede zwischen Mann und Frau in unserer Kultur:

 

MANN

Spaltung der Gesamtpersönlichkeit in das sachlich-spezialistische Tun und die subjektive Persönlichkeit (Privatexistenz).
Der Mann geht in der Objektivität auf.
dauerhafte Leistung
Gegenstand/Idee

FRAU

Unteilbarkeit des Ich, die nur ein alles oder nichts kennt. Beziehung zur ungebrochenen Einheit der Natur
Organischer, unmittelbarer Zusammenhang der Persönlichkeit mit jeder ihrer Äußerungen.
Hineinversetzen in die Gefühlslage und die Zustände anderer, besonderes Wahrnehmungsvermögen.
Frauen kennen manche Seiten der Männer besser als andere Männer.
Fließendes, an den Tag Gebundenes
Person

 

4. Eine neue Kultur, in der die weibliche einen Platz hat, setzt also eine völlige Neugestaltung der Berufswelt voraus, in der die Frauen dann nicht das gleiche leisten wie Männer, sondern etwas, was Männer nicht können.
5. Anregung von Prof. Breysig: Die originale und objektive Kulturleistung der Frauen besteht darin, dass die männliche Seele zum größten Teil von ihnen gestaltet wird. An den Männern finden Frauen ihren Stoff, aus dem sie ein realisierbares und sie - wenn auch nicht wörtlich - ausdrückendes Wesen schaffen.

  

10. Block (A)

Exemplarische Erörterung 1: Der Schluss

Auf jeden Fall sollte das 2. Erörterungsthema von den KollegiatInnen bearbeitet werden. Dies kann entweder in Form einer verpflichtenden Hausarbeit geschehen, dann bietet sich das erste Thema als Übung für den Unterricht an, oder aber es wird auf dieses Thema verzichtet.

 

Thema:

Der Schluss von "Lulu"

Aufgabenart:

Problemerörterung

Aufgabenstellung:

Erörtern Sie die die folgende Position

Zitat:

a) "Der dritte Aufzug, in engl. konzipiert, spielt in England. Er enthält Lulus Ermordung durch den Lustmörder Jack the Ripper. Der seelenlose verbrecherische Trieb wird durch einen anderen verbrecherischen Trieb vernichtet."
H.A. und E. Frenzel, Daten deutscher Dichtung, München: dtv, 1977, Bd. II, S.500

b) Problem des folgenden Zitats: zu viele Aspekte, Gräfin Geschwitz, Aspekt der Tragödie
"Sie wird zwar sinnlos geschlachtet. [...] Sie ist lediglich bewusstloses Opfer eines von ihr nicht durchschauten Verhängnisses, das sowohl den Antinomien der Gesellschaft wie auch ihrer eigenen ‘Natur’ entspringt. Aber indem die Wissende Geschwitz Lulus Verhängnis durchschaut, hebt sie das Sinnlose ihres Todes auf, verleiht ihm einen universellen Sinn: Lulu wird zur ‘ewigen’ Märtyrerin der ewig unverstandenen Frauennatur, deren Leben Liebe ist."
Wilhelm Emrich: Wedekind. Die Lulu-Tragödie (1968). Wieder abgedruckt in: Benno von Wiese: Das deutsche Drama II. Düsseldorf: Bagel, 1962. S.227

c) Problem des folgenden Zitats: Begriff des Tragischen, der Tragödie

"Die Gestaltung dieser Tragödie ist erst die wahre Tragödie der Moderne. Nur in ihr rechtfertigt und rettet sich noch die Gattung Tragödie." (S.230)
Wilhelm Emrich: Wedekind. Die Lulu-Tragödie (1968). Wieder abgedruckt in: Benno von Wiese: Das deutsche Drama II. Düsseldorf: Bagel , 1962. S.230

d) Problem: Vergleich mit dem Naturalismus

"Gegen Hauptmanns Mitleidsmoral und willenlose Charaktere stellt der "Tierbändiger" Wedekind in Lulu den Geschlechtsdämon Weib, der herrschen will und mörderisch in den Abgrund reißt, um endlich selbst in ihm zu versinken."
Fritz Martini: Deutsche Literaturgeschichte. Stuttgart: Kröner, 1991, S.508

 

a) Stundenverlauf

a) Gruppen-/Einzelarbeit

Erstellung einer Gliederung für eine Erörterung

b) Plenum

Zusammentragen und Systematisieren der Ergebnisse

 

b) Tafelbild

"Der dritte Aufzug, in engl. konzipiert, spielt in England. Er enthält Lulus Ermordung durch den Lustmörder Jack the Ripper. Der seelenlose verbrecherische Trieb wird durch einen anderen verbrecherischen Trieb vernichtet."

These/Textarbeit

Das Ende wird von den Autoren als "Versöhnung" in der Form gesehen, dass Lulu, der hier alle menschlichen Eigenschaften abgesprochen werden, ihre gerechte Strafe erhält.

  

Begriffsklärung: "seelenlos verbrecherischer Trieb"

widersprüchliche Begriffsbildung: Trieb im Gegensatz zu Geist/Vernunft ist natürlich seelenlos, kann aber gerade deshalb nicht als "verbrecherisch" angesehen werden, was nur in einem gesellschaftlichen, moralischen (also vernünftigen/freien) Zusammenhang Sinn macht.

Arbeitshypothese: Begrifflichkeit, Wertung und implizite Kausalität des Zitates sind so nicht haltbar.

Argumentation

 

Contra

Pro

a) Charakterisierung von Lulu

Lulu ist seelenlos, da sie z.B. keine Betroffenheit beim Tod ihrer Männer zeigt

Lulu ist verbrecherisch, da sie die Tode ihrer Männer direkt oder indirekt herbeiführt

Lulu ist Triebmensch, zu allen Menschen, mit denen sie zu tun hat, nimmt sie sexuelle Kontakte auf.

Lulu ist nicht seelenlos (im Sinne von "ohne Liebe"), sondern ohne Moral, "unbedingt". Sie verweigert die konventionellen Floskeln/ Trauerrituale/ Institutionen

Sie ist nicht verbrecherisch, da sie die Tode ihrer Männer nicht will.

Sie ist kein Triebmensch. Zum einen besteht sie auf einer Kultur der Erotik, zum anderen ist sie Individuum und will als Individuum gesehen werden.

b) Triebmodell

Das von den Autoren vertretene Triebmodell ist bereits im Prolog angekündigt. Lulu wird hier als "Kreatur" eingeführt, als Unheilstifterin

Dieses Modell ist weder theoretisch noch in Bezug auf das Stück haltbar. Zum einen ist der Prolog nicht realistisch zu sehen, sondern eine mögliche Sichtweise von Lulu. Zum anderen sind Natur und Kultur hier eng verflochten, von Lulu wird "Kunst" (=Selbstverständlichkeit) gefordert.

c) Jack the Ripper/Der Schluss

Jack ist seelenloser Triebmensch. Er zerstört Lulu.

Hier wird Gleiches mit Gleichem vergolten, aber auf einer anderen Ebene: Lulu, Resultat von Kultur und Gesellschaft, wird durch ein anderes Produkt von Zivilisation zerstört. Die intentionale Vorstellung ("Erziehung"), kultivierte Gewalt, geht an der rohen Gewalt zugrunde.

Zusammenfassung

Die Deutung von Frenzel wird dem Schluss nicht gerecht. Es geht hier nicht um Triebmenschentum im Sinne der "Natur", des "Animalischen". Ausgleichende Gerechtigkeit gibt es höchstens in einem anderen Sinne: die gesellschaftlich positiv bewertete Form der Kultur (Erziehung, gesellschaftlicher Aufstieg, subtile Gewalt) geht an der rohen Form der Kultur zugrunde.

 

  

10. Block (B)

Exemplarische Erörterung 2:
Lulu - ein Naturwesen?

 

Thema:

Lulu - ein Naturwesen?

Aufgabenart:

Problemerörterung

Aufgabenstellung:

Erörtern Sie die folgende Position

Zitat:

"An Lulu, die den reinen Geschlechtstrieb verkörpert, scheitern die Männer und werden ihren höheren Aufgaben entfremdet."
H.A. und E. Frenzel, Daten deutscher Dichtung, München 1977, S.500

 

a) Stundenübersicht

 

1. Gruppenarbeit/Einzelarbeit

Entwurf einer Argumentationsskizze

2. Plenum

Systematisierung der Ergebnisse

 

b) Tafelbild

 

These/Textarbeit/Begriffsklärung

Schlüsselwörter: "reiner Geschlechtstrieb", "Entfremdung von höheren Aufgaben"

Die Autoren gehen von dualistischen Menschenbild aus: Auf der einen Seite Trieb/Natur, dessen Kern der Geschlechtstrieb ist, und auf der anderen Seite Kultur/höhere Aufgaben. Ihrer These zu Lulu liegt ein Modell zugrunde, das auf die Psychoanalyse Freuds rekurriert. Der Mensch ist zunächst einmal Geschlechtswesen, wobei der Trieb ein doppeltes Gesicht hat (Eros/Thanatos), die Kulturleistungen sind dieser Natur abgerungen und ständig bedroht.

Dieser Dualismus wird schematisch auf Lulu und die Männer übertragen. Lulu ist bedrohliches Triebwesen, Täterin, die Männer sind Opfer, die Kultur bleibt auf der Strecke. Nach einigen Aussagen von Freud sind Frauen nicht zur Sublimation fähig, also auch nicht zu Kulturleistungen.

Arbeitshypothese:

Diese These von Frenzel ist einseitig in ihrem Menschenbild und vordergründig in ihrer Deutung der Lulu-Figur.

Argumentation

 

Contra

Pro

Frenzels Deutung kann an Teilen des Prologs belegt werden (Lulu als Schlange, Unheilstifterin, Mörderin)

Im Prolog wird nicht Lulu eingeführt, sondern eine Sichtweise von Lulu durch den Tierbändiger. Dabei wird Lulu als doppelte Natur vorgeführt:

- negativ: Verführerin, Unheilstifterin

- positiv: Natürlichkeit, Ungekünsteltheit, Unverstelltheit

Lulu wird von vornherein "gebändigt" vorgeführt, also nicht als "reine Natur". Natur erscheint von Anfang an nur als Produkt von Zivilisation

Auch die Zeitgenossen haben in "Lulu" vor allem das Zerstörerische gesehen.

Die Zeitgenossen standen im Kontext von Naturalismus und Jugendstil. Die "femme fatale" war ein verbreitetes Klischee, das in diesem Stück vordergründig wiedergefunden wurde. Das Stück wurde zu realistisch gesehen. Wedekind wendet sich mit Form und Inhalt gerade gegen dieses Bild (Verfremdung, Montage)

Die Sexualität nimmt in Lulus Leben eine zentrale Rolle ein.

Lulu ist ein sinnliches Wesen, lässt sich aber nicht auf Sexualität reduzieren. Sie will Liebe, sieht sich als Individuum, will als Individuum gesehen werden.

Alle Ehemänner Lulus gehen an ihr zugrunde.

Nur ein Ehemann (Schön) wird von Lulu ermordet, nachdem er vorher Lulu bedroht hat. Alle Männer gehen an sich selbst zugrunde.

Zusammenfassung/Ergebnis: Die Deutung von Frenzel steht in der naturalistischen Tradition der Lulu-Deutung. Sie wird weder den ausdrücklichen Intentionen Wedekinds noch dem Stück gerecht.

 

  

2. MATERIALIEN

 2.1 Aus Briefen Wedekinds

 »Was dem Stücke fehlt ist die oder eine Moral, die der auf seinen Gewinn bedachte Philister mit nach Hause tragen kann. Ich würde Ihnen deshalb den Vorschlag machen, es unter einem ganz handgreiflichen Titel wie z.B. dem >Schönheit und Sünde< aufzuführen.
[...] Die Urtheile der Presse sind bei allen Aussetzungen so ziemlich alle darüber einig, dass mein Stück der dramatischen Kunst einen neuen Weg zu einem neuen Stil weist, zur künstlerischen Einfachheit, mit den geringsten Mitteln etwas zu erreichen, was mit Aufbietung der größten Mittel zu erreichen nicht möglich ist. [ . . . ] Das Stück ist s e h r I e i c h t zu spielen, da es keine i n t i m e n Töne hat, die meiner Überzeugung nach nicht auf die Bühne gehören, wo sie verloren gehen, sondern in das Buchdrama, wo die Phantasie sie interpretiert. Von diesem Grundsatz ging ich, entgegengesetzt der ganzen modernen Richtung, beim Schreiben des Erdgeistes aus. Anderseits habe ich auch den Himmel gebeten, mich vor der Charybdis des Symbolismus zu bewahren. Ich wollte nichts anderes als Realist sein.
Was den stellenweis einsylbigen Dialog betrifft [. . .], so sehe ich darin durchaus keine Gefahr für die Wirkung. Er wirkt unverständlich wenn man ihn rasch herunterliest. Da er aber zwischen Personen stattfindet, die sich dabei Bewegung machen und über das was sie sagen einen Augenblick nachdenken, so wird sich die Natürlichkeit ganz von selbst ergeben.«
(An Paul Schlenther. München, 13.IV.1896. DLA, B: Wedekind, 57.252)

 »[ . . . ] mit aufrichtiger großer Bewunderung habe ich soeben Ihren Essay >Réjane< gelesen. Es ist mehrfach darin von >Ironie auf der Bühne< die Rede. Ich müsste Sie falsch verstehen, oder Sie schätzen und Sie verdammen zugleich in dieser Ironie den echten menschlichen Humor, der, quasi in Fäulniss übergegangen, seine positive Seite, seinen erhabenen Standpunkt eingebüßt hat. Eine so verstandene Ironie war mir, - neben meinem ersten und hauptsächlichsten Bestreben, Schönheit auf der Bühne zu creiren - künstlerisches Princip, als ich die Tragödie >Erdgeist< schrieb.«
(An Maximilian Harden. Dresden, 30.X.1897. Bundesarchiv Koblenz, Nl. Harden, 109)

»Selbstverständlichkeit, Ursprünglichkeit, Kindlichkeit hatten mir bei der Zeichnung der weiblichen Hauptfigur als maßgebende Begriffe vorgeschwebt. Aus geistiger Robustheit, aus unbeugsamer Energie und Rücksichtslosigkeit habe ich mir einen Weltmann konstruiert, der an den außergewöhnlichen Naturanlagen einer primitiven Frauennatur in abenteuerlichen Kämpfen zuschanden wird. Ich hatte das menschlich Bewusste, das sich selbst unter allen Umständen immer so maßlos überschätzt, am menschlich Unbewussten scheitern lassen wollen [...]«
(Oaha. Vorrede. Nb 58. 1909. Mü L 3501/58, S. 6V; STA 5)

»In meiner >Lulu< in >Erdgeist< suchte ich ein Prachtexemplar von Weib zu zeichnen, wie es entsteht, wenn ein von der Natur reich begabtes Geschöpf, sei es auch aus der Hefe entsprungen, in einer Umgebung von Männern, denen es an Mutterwitz weit überlegen ist, zu schrankenloser Entfaltung gelangt.«
(Schauspielkunst. Ein Glossarium. München/Leipzig 1910, S. 24; STA 5)

»Statt des Titels Erdgeist hätte ich geradesogut >Realpsychologie< schreiben können, in ähnlichem Sinn wie Realpolitik. Es kam mir bei der Darstellung um Ausschaltung all der Begriffe an, die logisch unhaltbar sind wie: Liebe, Treue, Dankbarkeit. Die beiden Hauptfiguren, Schön und Lulu, haben auch subjektiv nichts mit diesen Begriffen zu tun, sie, weil sie keine Erziehung genossen, er, weil er die Erziehung überwunden hat.
Bei der Schilderung der Lulu kam es mir darauf an, den Körper eines Weibes durch die Worte, die es spricht, zu zeichnen. Bei jedem ihrer Aussprüche fragte ich mich, ob er jung und hübsch mache. Infolgedessen ist die Lulu eine sehr leichte und dankbare Rolle, sobald sich jemand für sie eignet. Zu meinem Bedauern wurde sie von Darstellerinnen, die sich gar nicht dazu eigneten, so verschroben, manieriert und widersinnig dargestellt, dass ich durch das Drama Erdgeist in den Ruf eines Weiberhassers kam.
Die schwere Rolle des Stückes ist der Dr. Schön, der die von ihm selbst geschaffenen ernsten Stimmungen immer wieder zerstören und dem Gelächter des Publikums die Stirn bieten muss. Der Musterdarsteller der Rolle ist Albert Steinrück.«
(»Was ich mir dabei dachte« [1911/12]. - Zit. n.: GW9, S. 426f.)

Die Handschrift des Kommentars zu »Erdgeist« ist im Nachlass nicht mehr erhalten. - Steinrück spielte den Dr. Schön erstmals 1904 in Berlin und setzte seine Interpretation der Rolle mit großem Erfolg seit 1907ff. durch.
»Sie haben die >Personen< von allem Zufälligen befreit und ließen sie als irdische Mächte entstehen, als Faktor unseres Daseins - so wie sie mir bei der Arbeit vor Augen schwebten. [. . .] Der Todeskampf, den die Natürlichkeit und die Selbstverständlichkeit des weiblichen Urwesens mit den überkommenen Grundsätzen der Männlichkeit, die die Welt beherrschen, ausficht, trat deutlich hervor
(An Frantisek Zavrel. München 4. IV. 1914. Als offener Brief in tschech. Sprache wiedergegeben in: Frank Wedekind: Lulu (Erdgeist). [Übers. u. hrsg. v.]
J. Otokara Fischera a Frantiska Zavrela. Praha 1914 S. 5. - Die dt. Rückübersetzung besorgte Katrin Liedtke.)

Wedekind bezieht sich in diesem Brief auf Zavrels »Erdgeist« bzw. »Lulu«-lnszenierung Ende April 1913 im Münchner Künstlertheater.

 

2.2 Zu einigen Motiven (Titel, Figuren usw.)

Büchse der Pandora Den Titel für die Urfassung fand Wedekind vermutlich noch vor seinem Londoner Aufenthalt (1894). Angeregt wurde er vielleicht durch die Behandlung dieser Thematik in der Malerei, etwa bei Gabriel Dante Rossetti, Walter Crane, Henry Howard, William Ettv, Alfred Waterhouse u. a., zumal Wedekind ein ständiger Besucher von Kunstgalerien und Kunstausstellungen war. - In diesem Zusammenhang sei darauf hingewiesen, dass unter dem Namen »Pandora« auch eine lebensgroße Puppe bekannt war, die seit Mitte des 18. Jh.s - monatlich nach der neuesten frz. Mode gekleidet und frisiert - regelmäßig nach London und später in Kopien auch in andere europ. Großstädte versandt wurde. (Napoleon verhinderte 1804 die Verschickung der P. nach England. Wedekind, der sich sehr für Kleidungsfragen interessierte und hin und wieder selbst Theaterkostüme entwarf, dürfte die Modepuppe ein Begriff gewesen sein. - Am tradierten Mythos ist die negative Mission der Pandora offenkundig. Auf Befehl des Zeus wird Pandora von Hephaistos geschaffen, um Prometheus' Vergehen - den Raub des Feuers - zu strafen. Die schöne Pandora, von den Göttern mit einer Büchse ausgestattet, die alle Übel der Welt enthält, wird von Hermes zur Erde begleitet, um das göttergleiche Verlangen des Menschen in die Schranken zu weisen. Als auf Geheiß des Epimetheus, des nach-denkenden Bruders des voraus-denkenden Prometheus, Pandora die Büchse öffnet, entfliegen der Büchse die Übel und verbreiten sich auf der ganzen Welt. Nur die Hoffnung bleibt in der Büchse zurück, da sie der niederfallende Deckel einschließt. - Der Mythos in seiner tradierten Form hat verschiedene Überlieferungsschichten. Diese machen einen Zugang zum Ursprungsmythos möglich. Dem urspr. Mythos zufolge heißt Pandora die »Allgeberin«, als die auch die Göttin Gaia, die Mutter Erde, angerufen wird. Daneben gilt sie als das erste Weib, als Gattin des Prometheus, der sie aus Wasser und Erde schuf und mit Feuer belebte. Mit Prometheus zusammen zeugt sie Deukalion, den ersten Menschen. In der Pithos-Sage (griech. »pithos«: Gefäß) ist die Büchse das Füllhorn, das alle Vorräte für die Menschen enthält und spendet und durch Fruchtbarkeit bzw. »bios« (Leben) charakterisiert ist. Im Zusammenfluss beider Mythen ist Pandora gleich Pithos. - Vom Prozess der Umwandlung des Mythos aus kann auf eine Wandlung innerhalb der Gesellschaftsgeschichte geschlossen werden: auf die Veränderung vom Matriarchat zum Patriarchat. Pandora wird durch Zeus entthront. Die Umformung des Pithos- wie des Pandora-Mythos zu Mythen des Schreckens zeugt noch von dem Schock der Veränderung vom Matriarchat zum Patriarchat. Die Legitimation der Männerherrschaft und die Tilgung der gesellschaftlichen Bedeutung der Frau ist angewiesen auf eine projektive Identifizierung der Herrschaft: Mit dem Erscheinen der Frau kommen von ihr alle Übel dieser Welt. Innerhalb des tradierten Mythos treibt eine seiner Umformungen zu der - verkehrten - Identität: Die Allgeberin Pandora wird durch den Allgeber Zeus Pandoros, ersetzt. Die negative griech. Deutung des Pandora-Mythos - beziehbar auf die Gestalt der Pandora, ihre Büchse wie deren Inhalt - greift z. B. auch Nietzsche in »Menschliches, Allzumenschliches B. (vgl. Nietzsche 2, S. 82) auf. - Literarhistorisch sei auf Voltaires »Pandore«- (1740; 1766 vertont von B. de Laborde), auf Wielands »Pandora. Ein Lustspiel mit Gesang in zwei Aufzügen« (1779) und auf Goethes Festspiel »Pandora« (1808/1810) verwiesen, das Wedekind als gründlicher Goethe-Leser mit Sicherheit kannte. Bei Goethe konkurriert die Rolle des >Tatmenschen< Prometheus mit der des künstlerisch empfindenden >Genussmenschen< Epimetheus. Die Wiederkehr Pandoras soll ein neues glückliches Zeitalter einleiten, aber bis dahin gilt nur: »Treu blieb ihr Bild . . .«, während Pandora selbst »Bild nur und Schein « ist (HGA 5, S. 350 u. S. 358). - in der weiteren literarischen Tradition der Pandora-lnterpretationen sei insbesondere auf Gérard de Nervals »La Pandora« (1854) hingewiesen. Auf einen alchimistischen Text anspielend, umschreibt er die Gestalt der Pandora wie folgt: »>Ni homme, ni femme, ni androgyne, ni fille, ni jeune, ni vieille, ni c h a s t e. ni f o l l e ni pudique, mais tous cela ensemble . . .< Enfin, la P a n d o r a, c'est tout dire, - car je ne veux pas dire tout« (Nerval 1, 1958, S. 733f.), und löst sie dadurch aus den bisher festgelegten Deutungszusammenhängen. »Wir wollen keine bereits geschaffene Pandora«, heißt es bei Jules Michelet, »aber lasst uns eine machen«; »Il faut que tu [I'homme] crées ta femme. Elle ne demande pas mieux« (L'amour. 1858; dt. Leipzig (1859), S. 78). - S. 145,7 (N1), S. 477,7 (BEA), S. 541,7 (BLH).
Dass auch Frank WEDEKIND bei seinen Luludramen die Antike vor Augen stand, ist seinerzeit kaum jemandem klar geworden. Pamela Wedekind umriss die Einstellung ihres Vaters als Moralisten in seiner Zeit und als antikeverbundenem Deuter der Lebenserscheinungen in Worten, die das Bild des Dichters von manchem Missverständnis befreien: »Für den Inbegriff aller Verworfenheit galt damals die Figur der Lulu aus Wedekinds Dramen >Erdgeist< und >Die Büchse der Pandora<. Mit der kindlichen Einfalt aller schöpferischen Menschen hatte er geglaubt, die Leute würden merken, dass ein Stück, das >Die Büchse der Pandora< heißt, vor allem von der Büchse der Pandora handelt. Der Erdgeist ist in der griechischen Mythologie nur eine frühe Erscheinungsform der Pandora... Lulu ist kein dämonischer Teufel, kein Vamp, sie ist überhaupt kein Mensch, sondern ein seelenloses Götterwerkzeug, und das zerstörerische Prinzip ist nicht in ihr, sondem in uns. Der menschliche Selbsterhaltungstrieb und der menschliche Selbstzerstörungstrieb halten einander die Waage... Dr. Schön erinnert an den Empörer Prometheus, AIwa und der Maler Schwarz gleichen Epimetheus und Schigolch, der alte Bettler mit seiner geheimnisvollen Grandiosität, hat zum mythologischen Ahnen den Zeus, den Erschaffer der Pandora. Er ist ein alter Heidengott im Exil.«

Erdgeist Der Mythos vom >Erdgeist< entfaltet in der Tradition ein reiches Vorstellungsfeld. Es wird von antiken und christlich-jüdischen Denkbildern bestimmt. In der naturphilosophischen Auslegung des Mythos dominiert die Vorstellung der materiellen Bestimmtheit des Erdgeists als >anima terrae<. Noch ist unter der Vorstellung Erde die der >anima< (Leben) subsumiert. Die spätere, vor allem durch den Rationalismus der Aufklärung eingeleitete logozentrische Deutung verkehrt die urspr. materielle Bestimmung. Resultat ist die Auslegung der >anima< als Geist, welcher die Widersprüche der Welt sowohl vereinigt als auch disparat inszeniert: Weltgeist. Die Inszenierung des Mythos vom Erdgeist reicht vom Spannungspol >Lebensfluten< bis zum Spannungspol >Tatensturm< (vgl. Goethes »Faust 1«, V. 501). Figuren dieser Inszenierung sind:
Venus (weibl. Prinzip), die als Erdgeist erscheint, wie z.B. Heinrich Heine in seiner 1837 erstmals vollständig veröffentlichten Abhandlung »Elementargeister« darstellt. Er entwickelt im Rückgriff auf Paracelsus' Schriften ein Schema der Wasser-, Feuer-, Luft- und Erdgeister und erinnert im Zusammenhang mit der Tannhäuser-Sage an die zu den Erdgeistern verbannte Göttin Venus, die im Venusberg als Erdgeist leben muss. Vgl. dazu Wagners Musikdrama »Tannhäuser und der Sängerkrieg auf der Wartburg« (1845), das den Stoff populär machte. Der Erdgeist repräsentiert also eine Metamorphose der Venus.
Pandora, Eva, Helena u.a., die als Botinnen bzw. Inkarnationen einer matriarchalen und - nach deren Sturz - einer patriarchalen Welt gelten.
Luzifer (männl. Prinzip), der als Lichtbringer noch an die dunkle Materialität des Chaos erinnert und zugleich dieser Unterwelt entstammt.
Der Magier, der noch mit Mitteln der Natur die Materie ihrer Macht beraubt.
Der Künstler, der mit dem Zauberstab der Phantasie die materielle Welt mit einem Schlag verändert.
Der Weltgeist verbirgt sich in Masken dieser Konfigurationen. Sie verweisen auf die Dialektik von >terra< und >logos<. Durch das Kabinett der Figuren hindurch erscheint jene als eine der Herrschaft, Macht und Gewalt.
Die verschiedenen Ausprägungen der Erdgeister spielen als Ensemble eine gewichtige Rolle z. B. in Goethes »Faust«, in Lord Byrons dramatischem Gedicht »Manfred« (1817), in Heinrich Marschners Oper »Hans Heiling« (1833), in Ibsens Versdrama »Peer Gynt« (1867), alles Werke, mit denen Wedekind zur Zeit der Entstehung der Lulu-Tragödien sehr vertraut war. - Der Titel »Der Erdgeist« steht jedoch erst relativ spät, nämlich seit Frühsommer 1895, fest. Für die zweite Auflage (1903) wird der bestimmte Artikel »Der« zugunsten einer verallgemeinernden Auffassung des »Erdgeists« gestrichen.
S. 319,7 (EEA), S. 401,7 (ELH), S. 555,29 (BLH).

Frühlingsstürme Als sprachliche Neuschöpfung eingeführt durch Jean Paul und die dt. Romantiker, wird der Ausdruck in der Epoche des Jugendstils zum Bedeutungsträger für eine lebensreformerische kulturelle und politische Aufbruchsstimmung. Wedekind parodiert mit diesem Titel dieses - um die Jahrhundertwende bereits popularisierte und trivialisierte - Lebensgefühl. Sehr bekannt wurde das Bild >Frühlingssturm< (um 1895) von Ludwig von Hofmann. - Mit »Karle« als Parodie auf das naturalistische Drama à la Gerhart Hauptmann hatte bereits im Jahr 1900 das Berliner »Schall und Rauch«-Brettl den Reigen kabarettistischer Satiren über das moderne Drama eröffnet (vgl. Sprengel 1991, S. 13 ff.). - S. 617,7 (Fr).

Jack Am 31. August, am 8. und 10. September und schließlich am 9. November 1888 wurden im Stadtteil Whitechapel des Londoner East End fünf Prostituierte Opfer eines Sexualverbrechers. Der Täter wurde nie gefasst. Die Mordserie und die Tatsache, dass sie nicht aufgeklärt werden konnte, bewegten die viktorianische Öffentlichkeit. Gestützt auf die Obduktionsbefunde, suchten Kriminologen und Psychologen, den Tathergang zu rekonstruieren und die Persönlichkeitstruktur des offenbar anatomisch geschulten Täters zu beschreiben, der aus den Körpern der getöteten Frauen mit einem scharfen Messer oder Skalpell ihre Geschlechtsorgane herausschnitt. Dieses »Monster von Whitechapel« - bald »Jack the Ripper« genannt (Briefe mit dieser Unterschrift gelangten an die Londoner Polizeibehörden und wurden auch in Londoner Tageszeitungen veröffentlicht) - wurde bereits zu jener Zeit als ein psychopathologischer Fall behandelt. Zugleich wurde mit der sensationellen journalistischen Ausschlachtung der Mordfälle als Taten eines abnormen Unholds einer öffentlichen Diskussion über das Thema Sexualität und Gesellschaft der Boden entzogen, und um die Gestalt Jack the Rippers entwickelte sich der moderne Mythos vom mordenden Mann als einem pathologischen, gesellschaftlich ausgrenzbaren Fall. - Aber nicht nur in der Presse, sondern auch auf den Bühnen der Londoner Varietés und Music Halls wurde die Sensationsgeschichte der schrecklichen Frauenmorde vermarktet. Bald war auch ein »Ta-ra-ra-boom-de-ay-Song« (s. Erl. »Tararabumdiäh«) über Jack the Ripper erfolgreich kreiert, und schließlich griff auch das Pariser Grand Guignol-Theater begierig nach der Schauergeschichte. - Wedekind kannte offensichtlich engl. Zeitungsberichte über die Mordserie (vgl. auch die neueren Studien von Donald McCormick (1959), Stephen Knight (1976), Martin Howells/Keith Skinners (1990), David Rumbelow (1993), Shirley Harrison (1994) u.a.) und las Richard von Krafft-Ebings »Psychopathia sexualis« (vgl. u. a. Tb, S. 108, 8. Vlll. 1889), in deren Auflagen nach 1888 (11886) auch dieser Fall dargestellt wird. - Mit starrem Blick auf den historischen Jack the Ripper, erinnert werden muss auch an die zahlreichen von der Sensationspresse ausgeschlachteten Pariser Frauenmorde in den 90erJahren (vgl. Florack 1995, S. 131 f., Anm. 202), wird vielfach übersehen, dass Wedekind auch einen zweiten Fall, einen literarischen Jack, kannte: in Emile Zolas berühmtem Roman »La bête humaine«, 1890 in Buchform und zuvor in der Zeitung »La vie populaire« (1889) als Feuilletonroman erschienen, wird Jacques Lantier zum Sexualmörder an seiner Geliebten, Mme. Séverine Roubaud. Séverine selbst, ein später Typus der »courtisane innocente«, wird zum Werkzeug der Liebe wie zum Werkzeug des Todes erniedrigt, bevor ihr Rächer in Gestalt Jacques' sie mordet: »War dies sein wiedergekehrter Durst nach Rache für uralte Schmach, an die er sich wohl nicht mehr genau erinnern konnte, jener seit dem ersten Betrug in der Tiefe der Höhle von Mannestier zu Mannestier angestaute Groll? Er starrte mit seinen irren Augen auf Séverine, er hatte nur noch das Verlangen, sie sich tot über den Rücken zu werfen wie eine Beute, die man den anderen entreißt. Die Tür des Entsetzens tat sich auf zu jenem schwarzen Abgrund des Geschlechts, die Liebe bis in den Tod, vernichten, um noch inniger zu besitzen. [ . . . ] Und sie war zermalmt, vom Verhängnis des Mordes dahingerafft worden als eine Frau, die sich nichts bewusst ist, die das Leben vom Schmutz ins Blut gewälzt hatte, die trotz allem liebevoll und unschuldig war und die niemals begriffen hatte. [. . .] Er hatte sich also Befriedigung verschafft, er hatte getötet! Ja, er hatte das getan. In der vollen Stillung der ewigen Begierde wühlte ihn eine zügellose Freude, ein unermesslicher Genuss auf. Darüber empfand er eine stolzerfüllte Überraschung, eine Steigerung seines Überlegenheitsgefühls als Mann. Die Frau hatte er getötet, er besaß sie, wie er sie schon so lange zu besitzen begehrte, voll und ganz, bis zur restlosen Vernichtung. Sie gehörte niemandem mehr, sie würde nie wieder jemandem gehören.« (Zola 1977, Kap. 11, S. 499) In der Zeitschrift »Freie Bühne« wurde der Roman im Jahrgang 1890 in Fortsetzungen abgedruckt. - Zola versuchte die >Motive< eines Sexualmörders zu deuten, während diese im Fall der Londoner Mordserie, wie es den Anschein hatte, durch den anonymen Täter verborgen blieben. Wedekinds dramaturgische Technik dagegen zitiert Realität lediglich zu Montagezwecken und verzichtet auf deren »naturalistische« Begründung oder Erklärung. Wie seine Tagebücher dokumentieren (vgl. Tb, S. 38, S. 263, S. 271), darf die Bedeutung des Werkes von Emile Zola (1840-1902) für das literarische Selbstverständnis Wedekinds nicht unterschätzt werden; Zola liest er bereits während der Schulzeit (vgl. Kieser 1989, S. 325ff.). - Zur Jack-Thematik vgl. auch Wedekinds Tagebuchnotiz zur Erzählung einer Pariser Grisette: »ein konfisziertes Gesicht, der reine Bauchaufschneider« (Tb, S. 275; vgl. ebda, S. 277), sowie den Passus in »Zarathustra I«: »lst es nicht besser, in die Hände eines Mörders zu gerathen, als in die Träume eines brünstigen Weibes?« (»Die Reden Zarathustra's«: »Von der Keuschheit«; Nietzsche 4, S. 69); s. auch Erl. »Lustmörder«. - Weiteres Licht auf die Konstruktion der Figur Jack wirft die psychophvsiologische Debatte über das Weib. im 19. Jh., einer Diskussion, mit welcher Wedekind nicht schon allein deshalb vertraut war, weil er aus einer Arztfamilie stammte. Ohne die Thesen des Naturalismus zu teilen, deren Vertreter sich zur Legitimation ihrer literarischen sozialen nalysen auf die neuesten Erkenntnisse der Naturwissenschaften und der Medizin beriefen, sucht auch Wedekind für Handlung und Personal seiner Dramen psychophvsiologische Erklärungsmuster zu liefern (z.B. für die Bordell-Mädchen im »Sonnenspectrum«, s. Erl. »derartige Fälle«, S. 1422f.). Galt noch zu Anfang des 19. Jh.s der Uterus als Ursache aller weiblichen Übel und zugleich als der Ort aller weiblichen Bestimmung, so ändert sich im Verlauf weiterer gynäkologischer Forschung der medizinische Angriff auf den Körper der Frau. Nur nebenbei sei bemerkt, dass u. a. vor allem »liederliche Weibsstücke« in Gebäranstalten oder Bordellen Objekte der forschenden Neugier waren« (Honegger 1991, S. 207): »Der vorsichtige Feldherr erforscht vor der Schlacht das Feld; unser Schlachtfeld ist der weibliche Körper« (Virchow 1856, S. 735). Nicht mehr die Gebärmutter, sondern die Ovarien werden nun als Zentrum des weiblichen >Geschlechtsapparates< erkannt. Virchow bringt diese Entdeckung auf den Begriff: »D a s W e i b i s t e b e n W e i b n u r d u r c h s e i n e G e n e r a t i o n s d r ü s e [...] - kurz, Alles, was wir an dem wahren Weibe Weibliches bewundern und verehren, ist nur eine Dependenz des Eierstocks.« (Ebda, S. 747) Wenn Jack Lulu das nimmt und sich aneignet, was angeblich ihr Wesen bestimmt und ausmacht, so handelt er - cum grano salis - in Übereinstimmung mit Ansichten einer medizinischen Wissenschaft, die die Observierung und Okkupation der weiblichen Geschlechtsorgane als dem eigentlichen Zentrum der Frau sich längst offiziell zur wissenschaftlichen Aufgabe gemacht hatten. - S. auch Erl. "Lulu«. -S. 146,29 (M), S. 478,28 (BEA), S. 548,33 (BLH).

Lulu Unter dem Datum 10. lX. 1893 notiert sich Wedekind in seinem Pariser Tagebuch (Mü L 3502) ausführlich eine Unterhaltung mit einer Kokotte über ein lesbisches Straßenmädchen namens Lulu. Diese Passage ist in der von Gerhard Hay edierten Ausgabe der Tagebücher nicht enthalten, weil der Herausgeber der ausführlicheren uv. Überlieferung die von Wedekind redigierte Fassung »Bei den Hallen« (ED in: »Die Fürstin Russalka«, 1897; STA 5) vorzog. - Lulu, Kurzform von Namen. die mit »Lu« beginnen, stellt eigentlich eine Lallform aus der Kindersprache dar. Ähnliche, an die Kindersprache erinnernde Namen wie z.B. Nini, Gaga, Zizi oder Nana sind in Prostituierten- und Zuhälterkreisen weit verbreitet. - In Frankreich wird Lulu sowohl als weibl. wie als männl. Vorname gebraucht. So wurde z. B. der Sohn Napoleons III., Eugène-Louis-Jean-Joseph (1856-1879), »Lulu« genannt. In dem von J.H. Liebeskind überarbeiteten Feenmärchen »Lulu oder Die Zauberflöte« (1789; s. »Quellen«, S. 968) ist der Titelheld männlich. Raimund lässt, ebenfalls aus der Tradition der Feenmärchen schöpfend, in »Die unheilbringende Zauberkrone oder König ohne Reich, Held ohne Mut, Schönheit ohne Jugend« (1829) mit Lulu und Fanfu zwei geflügelte Genien auftreten. - Aus dem Zirkusmilieu war der Luftakrobat Nino Farini bekannt, der in den 70er Jahren des 19. Jh.s in prächtigen verführerischen Kostümen zunächst unerkannt als »Mademoiselle Lulu« brillierte (s. auch Erl. »Pierrot«). - in der Schreibweise »Loulou« (eine phonetische Differenz lässt sich - von dt. Sprechweise her - nicht unterstellen) gilt in Frankreich das Wort als Kosenamen für Kinder bzw. für junge Frauen, wohl abgeleitet von »Loulouette« (Lerche, kleines Vögelchen). Wie in Zolas »Nana« ist Lulu bzw. Loulou auch als Bezeichnung für kleine Hunde gebräuchlich. - Der Bericht über das Verhalten der Eingeborenen auf Neu-Britannien gegenüber den heimischen Prostituierten, den Ploss in »Das Weib in der Natur- und Völkerkunde« (1885) zitiert, dürfte Wedekind, der dieses Werk eingehend studierte, bekannt gewesen sein: »In gewissen Nächten wird eine Trommel geschlagen, alle Prostituierten laufen in den Wald und werden dort von den jungen Männern gejagt. Dies nennt man >Lu-Lu<, ein Ausdruck, welcher sich auf die Frauen selbst oder auf irgend etwas mit diesem Gebrauche Zusammenhängendes bezieht.« (zit. n. Ploss 1, 101913, S. 652) - Zur Diskussion um die - im 19.Jh. sich etablierende - gynäkologisch begründete (Geschlechterdifferenz, in deren Licht eine Figur wie Lulu zum psycho-physiologischen Urtypus avanciert, sei beispielhaft auf Ausführungen Virchows zum puerperalen Zustand des Wibes verwiesen. Dort heißt es u.a.: »endlich einmal wird der Augenblick kommen, da der Kampf [. . .] zwischen der Schaam und der Wollust seine Endschaft erreicht und die Liebe triumphirend einzieht, jene Frauenliebe, von der die Weiber sagen, dass sie von der Männerliebe verschieden sei. >Wenn eine Frau liebt<, sagt die Verfasserin von St. Roche, >so liebt sie in Einem fort; ein Mann thut dazwischen etwas Anderes.<« (Virchow 1856, S. 752; 5. auch Erl. »Jack«). - Die literarhistorische Dimension dieses Namens ist durch Wedekinds Quelle »Lulu. Pantomime en un acte« von Félicien Champsaur (1888; s. »Quellen«, S. 963f.) belegt, in welcher Lulu als »clownesse danseuse« eingeführt ist. Von einer Cancan-Tänzerin Loulou erzählt Yvette Guilbert noch in ihrem »Der Brettlkönig« (vgl. Guilbert 1902, S. 285f.). Den modernen Mythos einer großen Kokotte kolportierten und inszenierten weitläufig Champsaur in »Lulu, Roman clownesque« (1901) und Zola in »Nana« (1879/80). Dort, im 1. Kapitel, heißt es zum Namen dieser »blonden Venus«: »[...] le nom de Nana sonnait avec la vivacité chantante de ses deux syllabes. Les hommes qui se plantaient devant les affiches, I'épelaient a voix haute; d'autres le jetaient en passant, sur un ton d'interrogation; tandis que les femmes, inquiètes et souriantes, le répétaient doucement, d'un air de surprise. Personne ne connaissait Nana. D'ou Nana tombai-elle? Et des histoires couraient, des plaisanteries chuchotées d'oreille a oreille. C'était une caresse que ce nom, un petit nom dont la familiarité allait a toutes les bouches.« (Zola 1993, S. 14) Zwischen der Geschichte Nanas und der Gestalt Lulus bei Wedekind lassen sich einige Parallelen ziehen: der Aufstieg und der Fall eines Mädchens aus der Gosse, Nanas Beziehungen zum Adel, zur Presse, zur Hochfinanz, zum Theater, ihr Verhältnis zu lesbischen Frauen ihre Kairo-Episode etc. Nana wie Lulu sind Venus-Imaginationen, beide sind eine »babylonische Schöpfung, Mythos und wirkliche Frau in einem« (Hofmann 1987, S. 96). Nanas Name lässt sich überdies auf Nanaea beziehen, einer babylonischen Liebesgöttin aus dem 3. Jahrtausend v. u. Z. (vgl. ebda; S. 66 u. S. 172). Grundsätzlich aber differieren beide Figuren hinsichtlich ihrer Funktion: Nana repräsentiert die große Kokotte als »femme fatale«, sie steht als symbolische Figur für die Dekadenz des Kaiserreichs unter Napoleon lll. Lulu dagegen verköpert entschieden den Typus der »courtisane innovente« und das Schicksal der Hetäre in der Geschichte der Neuzeit. - Das 1897 erstveröffentlichte Gedicht »Die Fürstin Russalka« erhält im Gedichtband »Die Vier Jahreszeiten« 1905 den nun intertextuell beziehungsreichen Titel »Lulu« (s. STA 1).

Pierrot Dummdreiste Dienerfigur aus der Pariser »Comédie italienne« ( 17. Jh.). Er trug eine weiße Maske und ein sackartiges, weißes Kostüm. Der Dummkopf Pierrot bildete eine Gegenfigur zum gescheiten Harlekin und stand als Typus der Maske des Gilles nahe; die Unterschiede zwischen beiden Figuren verwischten sich jedoch allmählich. In der ersten Hälfte des 18. Jh.s wurde die Pierrot-Maske hochberühmt. In Paris übertraf sie schließlich an Popularität sogar den Harlekin. Jean Antoine Watteaus Gemälde »Gilles« (ca. 1718) machte damals bereits großen Eindruck. Der urspr. Name des Bildes lautete »Pierrot«. Noch zu Zeiten Watteaus galt diese komische Figur als derb, obszön und ungehobelt. Erst im 19. Jh. wird der Pierrot-Figur >sensibilité< unterstellt. Über die Deutung des Watteauschen Gemäldes gehen die kunsthistorischen Auffassungen weit auseinander (zum Pierrot vgl. Commedia del-I'arte 1985, S. 138; sowie die Studien von Storev 1978 und Panofsky 1952). - in der frz. Pantomime des 19.Jh.s spielen Figuren wie Colombine, Arlequin und Pierrot bedeutende Rollen; so auch in Champsaurs Pantomime »Lulu« (1888; s. »Quellen«, S. 963f.). Wie das Vorwort betont, gelten alle dort auftretenden Figuren als Clowns, als »Masques d'Italie«. Lulu erobert sich vom »phvsiologiste de l'amour«, Arthur Schopenhauer, ihr Herz zurück und bietet es Arlequin an - in deutlicher Anspielung auf die Eucharistie: »Prends et bois! Ceci est mon corps.« Pierrot erhält seine frz. Wiedergeburt in Molières Komödie »Don Juan oder Der steinerne Gast« (1682). Wedekind, ein guter Kenner der Werke Molières, war aber sicherlich auch vertraut mit Casanovas Abenteuer als Pierrot (vgl. Casanova 4, Kap. V u. Vl). Dort wird als besonderer Vorzug des Pierrot-Kostüms dessen weiter Schnitt gepriesen; er erlaube dem Träger, hinter der Verkleidung unerkannt zu bleiben. - Eine andere, für Wedekind verwertbare Beschreibung liefert das Kapitel »Der letzte deutsche Bajazzo. Ein Beitrag zur Naturgeschichte der Species >Clown<« in Signor Dominos »Der Cirkus und die Cirkuswelt« (1888). Dort heißt es über die verschiedenen Typenvarianten des Bajazzo: »Sie alle waren ursprünglich derselbe Charakter, den für uns am ausgeprägtesten der deutsche Hanswurst zeigt und den wir heut unverändert noch im Pierrot wiederfinden: der Charakter des einstigen altrömischen >Maccus<«: »des dummen, tölpischen, von Allen gehänselten und überall Unsinn begehenden grotesk-komischen Bedienten oder Bauern.« (Signor Domino 1888, S. 228f.) Zum Pierrotkostüm gab Signor Domino eine Wedekinds Vorstellung anregende Skizze: »Selbst das Kostüm hat sich in wahrhaft überraschender Weise unverändert erhalten und ist bis auf unsere Zeit gekommen: es zeigt sich uns in dem wohlbekannten Habit des Pierrot. Der italienische >Bajazzo< trug jenes weiße, übermäßig weite und schlotternde Kostüm mit den übergroßen weißen oder rothen Knöpfen, das weißgefärbte Gesicht mit dem übergroßen rothgemalten Munde und dem hohen trichterförmigen Filzhut, wie es sich seitdem in der Figur des Pierrot erhalten und wie wir es bei dem >deutschen Bajazzo< der kleineren wandernden Künstlertruppen noch bis in die dreißiger Jahre dieses Jahrhunderts finden.« (Ebda, S. 229) - Wedekind selbst beschreibt bereits in seinen »Zirkusgedanken« (1887; STA 5) die Attraktion und Irritation, die der Clown seinem Publikum bereitet, und hebt einleitend zugleich hervor, dass jener bei Frauen »sehr oft ein Gegenstand unübenwindlichen Abscheus« sei: Während »der pathetische Optimist Gottes Ebenbild in ihm entwürdigt sieht, bietet er dem Pessimisten im Gegenteil eine gut getroffene Karrikatur des eigenen Ichs. [...] Denn der Pessimist [...] findet eben noch ganz andere Tatsachen als nur Harlequinsfarcen erschütternd lächerlich. Wenn er somit irgend jemand eine haarsträubende Dummheit begehen sieht, so fühlt er sich im ganzen Umfang seines eigenen Daseins betroffen. Er wird nachdenklich, seine unheilbare Wunde klafft und beginnt zu bluten. Um die jäh hervorbrechenden Tränen vor der verständnislosen Menge zu verbergen, [...] verlässt er den Ort des Vergnügens, schleicht sich heimlich hinaus zum Ufer des nahen Sees, um die Wolken, den Wind und die Wellen mit seinen ungelösten Rätseln zu behelligen - >und ein Narr wartet auf Antwort<« (Neue Zürcher Zeitung, Nr. 210 v. 30.VII. 1887). - Auf eine andere literarische Deutung. speziell des Pierrot, bezieht sich Wedekind in einem Brief an Karl Henckell vom 9.1.1893: »Zu Weihnachten erhielt ich einen sehr hübschen Brief von Erich Hartleben, in dem er mir seine Freundschaft ankündigt. Er schickt mir zugleich seinen Pierrot Lunaire.« (GB 1, S. 246) Ob Hartlebens Übersetzung (Mai 1892) von Albert Girauds Werk Wedekinds Auffassung des Pierrot-Motivs für die »Monstretragoedie« noch beeinflusste, bleibt jedoch zweifelhaft. - Wenn Lulu zuerst dem Zuschauer im Pierrotkostüm (und später im Pagenkostüm) gezeigt wird, so wird auch an die besonders im Varieté und im Zirkus beliebte Vorstellung der Artistinnen >en travesti< erinnert und der erotische Reiz des Androgvnen evoziert (s. auch Erl. »Lulu«). »Die Aufhebung der gesellschaftlich fixierten Grenzen zwischen Mann und Frau« bildete »ein ganz wesentliches Charakteristikum der Artistik des 19.Jahrhunderts<. (Schmitt 1993, S. 163). Selbstverständlich soll das männliche Pierrotkostüm als Kontrastmittel die Feminität Lulus besonders hervorheben. Auf einen die Geschlechterdifferenz transzendierenden ideellen Aspekt der Pierrot-Figur verweist Oscar Gellers zeitgenössische: Deutung: »Der Pierrot ist ein Schemen, ein Hauch, ein Gedanke bloß. Er ist das Nichts, aus dem sich erst das Menschliche im Menschen herauskristallisiert, das reine Menschliche in reiner Naivität, Ursprünglichkeit und grenzenloser Wahrheit. Also ist der Pierrot das Gefäß für die gesamte Skala menschlicher Empfindungen, von der ungetrübten Heiterkeit bis zur erschütternden Tragik, - vom Anbeginne der Kindlichkeit bis zum Tode. Sein Erscheinen ist die Geburt, das Ende immer der Tod. Was dazwischen, ist das Menschliche der Menschheit.« (Geller 1902, S.52) -S.148,32 (M), S. 322,33 (EEA), S. 496,30 (BEA), S. 408,21 (ELH), S.570,35 (BLH).

Pierrotkostüm Zum Kostüm vgl. Signor Dominos Darstellung (s. Erl. »Pierrot«). - Zur Deutung der »Pierrot-Maske«, welcher Lulu zugeordnet ist, sei an Nietzsches Stichwort »Masken« erinnert: »Es giebt Frauen, die, wo man bei ihnen auch nachsucht, kein Inneres haben, sondern reine Masken sind. Der Mann ist zu beklagen, der sich mit solchen fast gespenstischen, nothwendig unbefriedigenden Wesen einlässt, aber gerade sie vermögen das Verlangen des Mannes auf das stärkste zu erregen: er sucht nach ihrer Seele - und sucht immer fort.« (»Menschliches, Allzumenschliches I«; Nietzsche 2, S. 270) - S. 494,1 (BEA), S. 405,6 (ELH), S. 567,J0 (BLH)

Prolog Den »Prolog« zum »Erdgeist« schrieb Wedekind erst nach der Uraufführung (25.II.1898) von >Der Erdgeist< Ende Mai 1898. Gesprochen wurde er vom Autor erstmals gelegentlich der 10. Aufführung in Leipzig am 24. V1. 1898. Der »Prolog« stellt im Gegensatz zu Ruggero Leoncavallos »Prolog«, naturalistisches Credo seiner Oper »Bajazzo« (UA 1892; s. Erl. »Bajazzo«), ein antinaturalistisches Manifest dar. Verwiesen sei aber auch auf die dämonische Eröffnung zu Anfang des 1. Akts von Heinrich Heines »Doktor Faust. Ein Tanzpoem«, in welcher nacheinander Tiger, Schlange und Ballettänzerin apostrophiert werden, und auf Baudelaires Prolog »Au lecteur« zu den »Fleurs du Mal« (s. Erl. »Verehrtes Publikum«). - S. 313,8 (Pr), S. 403,7 (ELH).

Schwarz Den weitverbreiteten Familiennamen Schwarz trug auch eine angesehene Lenzburger Familie. - Am 4.II.1890 machte Wedekind in München außerdem die persönliche Bekanntschaft des Afrikareisenden Bernhard Schwarz (1844-1901; vgl. Tb, S. 166), der in den 80erJahren durch zahlreiche Veröffentlichungen zur Kolonialpolitik und durch Reiseberichte über Afrika bekannt geworden war. - Die Zeichnung der Maler-Persönlichkeit legt jedoch nahe, den Namen als metaphorisch-symbolischen - i.S.v. »Schwarzmaler« - zu verstehen und in der Figur des Schwarz Wedekinds kritische Vorbehalte gegen die Theorie und die Repräsentanten des Naturalismus verkörpert zu sehen: Trotz der photographischen Vorlage und trotz praktischer Recherchen nach "reelle[n] Anhaltspunkte[n]« (s. S. 148,7) fehlt nach Meinung Schönings den Arbeiten des Malers der Ausdruck des >Wesentlichen< (s. S. 147,28). Der Repräsentant der Moderne, der selbst kaum »aus seinen vier Wänden heraus[ge]kommen« (s. S. 149,39f.) ist, plant nicht von ungefähr eine »Reise nach Norwegen« (s. S. 168,20f.), also in die Heimat der berühmten Naturalisten Ibsen und Björnson bzw. des 1892 erstmals international Aufsehen erregenden Malers Edvard Munch, aber der >wahren<, der >fleischlichen< Realität ist er gar nicht gewachsen. Mit seiner Persönlichkeit korrespondiert denn auch, dass er sich später von der aktuellen und populären Kunst distanziert und sich - wie das Iphigenie-Motiv andeutet - der klassizistisch-idealisierenden Richtung zuwendet. - S. auch Erl. »Raffael«. - Modell steht dem Autor für diese Figur auch Professor Crampton. Lehrer an einer Kunstakademie, in Gerhart Hauptmanns Komödie >Kollege Crampton< (1892; vgl. Vinçon 1989, S. 110f ). Das Motiv des verblendeten Malers findet sich auch bereits in Nikolaj Gogols Erzählung »Der Njewski-Prospekt« (1835): Der idealistische Maler Piskarjow glaubt in einer schönen Passantin Seelenadel verkörpert zu sehen, muss aber entdecken, dass der schöne Schein täuscht und es sich um eine Prostituierte handelt. Dies treibt ihn zu Verzweiflung und Selbstmord. - In seiner Novelle »Die Lügnerin« behandelt Alphonse Daudet (1840-1897) ein ähnliches Motiv: Fünf Jahre verbringt ein Maler glücklich mit seiner Geliebten, ohne je zu erfahren bzw. zu begreifen, wer sie eigentlich ist (zu Wedekinds Daudet-Lektüre vgl. Tb, S. 204 u. S. 207). - Von einem »Kampf« im Atelier erzählt bereits in »Frühlings Erwachen« (Il/7; STA 2) Ilse dem an seiner Nichtversetzung verzweifelnden Schüler Moritz. - Den »Stoff zu einem Schauspiel« (STA 2), in welchem ein Maler sein Modell aushält, sich in es verliebt und fürchtet, am Ende wahnsinnig zu werden, notiert sich Wedekind ausführlich bereits 1889 in München (vgl. Tb, S. 145f.). - S. 146,14 (M), S. 320,12 (EEA), S. 402,12 (ELH).

Urgestalt des Weibes Namen wie Lulu, Eva, Helena erinnern an sie. Erinnert sei aber auch an die im philosophischen Diskurs vor allem durch Nietzsche angefachte moderne Diskussion über die Frau. In >Jenseits von Gut und Böse< heißt es, für den Nietzsche-Leser Wedekind als bekannt vorauszusetzen: »Das, was am Weibe Respekt und oft genug Furcht einflößt, ist seine N a t u r, die >natürlicher< ist als die des Mannes, seine ächte, raubthierhafte listige Geschmeidigkeit, seine Tigerkralle unter dem Handschuh, seine Naivetät im Egoismus, seine Unerziehbarkeit und innerliche Wildheit, das Unfassliche, Weite, Schweifende seiner Begierden und Tugenden...« (Nietzsche 5, S. 78). - S. 405,16 (ELH).

Venus belletristica Die schöngeistige Venus. S. Erl. >Verwandlungen der Venus<. - S. 940,9f. (H'3).

Venus Madonna Titel eines Gedichts aus dem Zyklus »Die Verwandlungen der Venus« (1893) von Richard Dehmel. - S. 940,8 (H13).

Venus suggestiva Die verfängliche Venus. S. Erl. »Verwandlungen der Venus«. - S. 940,8 (H13).

Venus vastatrix Die Allzerstörerin Venus. S. Erl. »Verwandlungen der Venus«. - S. 940,8 (H13).

»Verwandlungen der Venus« Wedekind zitiert hier einen Gedichtzyklus Richard Dehmels, der unter diesem Titel innerhalb des. Ehemanns- und Menschenbuches »Aber die Liebe« 1893 erstveröffentlicht wurde. Nur bei einem der vier (s. Erl. »Venus belletristica«, »Venus suggestiva« »Venus vastatrix«) in H13 erwähnten Titel handelt es sich um einen von Dehmel benutzten (s. Erl. »Venus Madonna«). Wedekind ironisiert einerseits dessen Gedicht-Zyklus als in sich beliebig erweiterbar, andererseits ordnet er sowohl den Tänzen Lulus als auch jedem Akt seiner Tragödie eine Venus-Figur zu und erläutert jeweils mit einem dieser Titel ironlsch einen der vier Akte des »Erdgeists«. - S. 938,35 (H13).

 

Der bis heute beste Aufsatz über "Lulu":

2.3 Karl Kraus: Die Büchse der Pandora (29.05.1905)

. . . Die Liebe der Frauen enthält wie die Büchse der Pandora alle Schmerzen des Lebens, aber sie sind eingehüllt in goldene Blätter und sind so voller Farben und Düfte, dass man nie klagen darf, die Büchse geöffnet zu haben. Die Düfte halten das Alter fern und bewahren noch in ihrem Letzten die eingeborene Kraft. Jedes Glück macht sich bezahlt, und ich sterbe ein wenig an diesen süßen und feinen Duften, die der schlimmen Büchse entsteigen, und trotzdem findet meine Hand, die das Alter schon zittern macht, noch die Kraft, verbotene Schlüssel zu drehn. Was ist Leben, Ruhm, Kunst! Ich gebe alles das für die benedeiten Stunden, die mein Kopf in Sommernächten auf Brüsten lag, geformt unter dem Becher des Königs von Thule, - nun wie dieser dahin und verschwunden . . .

Félicien Rops.

"Eine Seele, die sich im Jenseits den Schlaf aus den Augen reibt." Ein Dichter und Liebender, zwischen Liebe und künstlerischer Gestaltung der Frauenschönheit schwankend, hält Lulus Hand in der seinen und spricht die Worte, die der Schlüssel sind zu diesem Irrgarten der Weiblichkeit, zu dem Labyrinth, in dem manch ein Mann die Spur seines Verstandes verlor. Es ist der letzte Akt des "Erdgeist". Alle Typen der Mannheit hat die Herrin der Liebe um sich versammelt, damit sie ihr dienen, indem sie nehmen, was sie zu spenden hat. Alwa, der Sohn ihres Gatten, spricht es aus. und dann, wenn er sich an diesem süßen Quell des Verderbens vollberauscht, wenn sich sein Schicksal erfüllt haben wird, im letzten Akt der "Büchse der Pandora", wird er, vor dem Bilde Lulus delirierend die Worte finden: "Diesem Porträt gegenüber gewinne ich meine Selbstachtung wieder. Es macht mir mein Verhängnis begreiflich. Alles wird so natürlich, so selbstverständlich, so sonnenklar, was wir erlebt haben. Wer sich diesen blühenden, schwellenden Lippen, diesen großen unschuldsvollen Kinderaugen, diesem rosig weißen, strotzenden Körper gegenüber i n s e i n e r b ü r g e r l i c h e n S t e l I u n g s i c h e r f ü h I t, der werfe den ersten Stein auf uns." Diese Worte, vor dem Bilde des Weibes gesprochen, das zur Allzerstörerin wurde, weil es von allen zerstört ward, umspannen die Welt des Dichters Frank Wedekind. Eine Welt, in der die Frau, soll sie ihrer ästhetischen Vollendung reifen, nicht verflucht ist, einem Mann das Kreuz sittlicher Verantwortung abzunehmcn. Die Erkenntnis, welche die tragische Kluft zwischen blühenden Lippen und bürgerlichen Stellungen begreift, mag heute vielleicht die einzige sein, die eines Dramatikers wert ist. Wer die "Büchse der Pandora", die im "Erdgeist" zwar ihre stoffliche Voraussetzung hat, aber das gedankliche Verständnis des Ganzen erst erschließt, wer diese Tragödie Lulu begriffen hat, wird der gesamten deutschen Literatur, so da am Weibe schmarotzt und aus den "Beziehungen der Geschlechter" psychologischen Profit zieht, mit dem Gefühle gegenüberstehen, das der Erwachsene hat, wenn ihm das Einmaleins beigebracht werden soll. Ich würde mich nicht scheuen, diese große Revue psychologischer Kindereien mit manchem Klassiker zu eröffnen. Die tiefsten Erforscher männlichen Gefühlslebens haben vor dem Augenaufschlag ihrer eigenen Heldinnen zu stammeln begonnen, und die unsägliche Tragik;, der sie Worte liehen, war durch alle Zeiten die Tragik der verlorenen Virginität. Ein "Werde du zur Dirne", oft auch bloß ein verschämtes "Werde du zur -", von irgendeinem Knasterbart gemurmelt, wir hören es durch alle dramatischen Entwicklungen bis in unsere Tage: immer wieder sehen wir den dramatischen Knoten aus einem Jungfernhäutchen geschürzt. Nie haben sich hier die Dichter als Erlöser der Menschheit gefühlt, sondern sich mit ihr unter das Damoklesschwert gebeugt, das sie in christlicher Demut freiwillig über sich aufgehängt hat. Den Irrwahn, dass die Ehre der Welt vermindert wird, wenn sie ihre Freude vermehrt, haben sie gläubig nachgebetet. Und sie schrieben Tragödien über das, "worüber kein Mann wegkann". Dass man über die knorrigen Plattheiten eines denkenden Tischlermeisters viel weniger wegkönnen sollte als über das Abenteuer seiner Maria Magdalena, ist ja eine literarische Angelegenheit für sich. Aber dem dramatischen Gejammer über die Verminderung des weiblichen Marktwertes hat erst Frank Wedekind entsagt und abgesagt. In seiner Bekenntnisdichtung "Hidalla" erhebt sich Fanny turmhoch über den Freier, der sie verschmäht hat, weil ihr "der Vorzug" mangelt, der ihre Geschlechtsgenossinnen erst preiswert macht: "Deswegen also bin ich jetzt nichts mehr?! Das also war die Hauptsache an mir?! Lässt sich eine schmachvollere Beschimpfung für ein menschliches Wesen ersinnen? - als deswegen, um eines solchen - Vorzugs willen geliebt zu werden?! - - Als wäre man ein Stück Vieh !" . . . Und dann die gewaltige Doppeltragödie, deren zweiten Teil Sie heute schauen werden, die Tragödie von der gehetzten, ewig missverstandenen Frauenanmut, der eine armselige Welt bloß in das Prokrustesbett ihrer Moralbegriffe zu steigen erlaubt. Ein Spießrutenlauf der Frau, die vom Schöpferwillen dem Egoismus des Besitzers zu dienen nicht bestimmt ist, die nur in der Freiheit zu ihren höheren Werten emporsteigen kann. Dass die flüchtige Schönheit des Tropenvogels mehr beselige als der sichere Besitz, bei dem die Enge des Bauers die Pracht des Gefieders verwundet, hat sich noch kein Vogelsteller gesagt. Sei die Hetäre ein Traum des Mannes. Aber die Wirklichkeit soll sie ihm zur Hörigen - Hausfrau oder Maitresse - machen, weil das soziale Ehrbedürfnis ihm selbst über den Traum geht. So will auch jeder, der die polyandrische Frau will, diese für sich. Solchen Wunsch, nichts weiter, hat man als den Urquell aller Tragödien der Liebe zu betrachten. Der Erwählte sein wollen, ohne der Frau das Wahlrecht zu gewähren. Und dass vollends Titania auch einen Esel herzen könne, das wollen die Oberone nie begreifen, weil sie gemäß ihrer höheren Besinnungsfähigkeit und ihrer geringeren Geschlechtsfähigkeit nicht imstande wären, eine Eselin zu herzen. Darum werden sie in der Liebe selbst zu Eseln. Ohne ein vollgerüttelt Maß von sozialer Ehre können sie nicht leben: und darum Räuber und Mörder! Zwischen den Leichen aber schreitet eine Nachtwandlerin der Liebe dahin. Sie, in der alle Vorzüge der Frau eine in sozialen Vorstellungen befangene Welt zu "Lastern" werden ließ.

Einer der dramatischen Konflikte zwischen der weiblichen Natur und einem männlichen Dummkopf hat Lulu der irdischen Gerechtigkeit ausgeliefert, und sie müsste in neunjähriger Kerkerhaft darüber nachdenken, dass Schönheit eine Strafe Gottes sei, wenn nicht die ihr ergebenen Sklaven der Liebe einen romantischen Plan zu ihrer Befreiung ausheckten, einen, der in der realen Welt nicht einmal in fanatisierten Gehirnen reifen, auch fanatischem Willen nicht gelingen kann. Mit Lulus Befreiung aber - durch das Gelingen des Unmöglichen zeichnet der Dichter die Opferfähigkeit der Liebessklaverei besser als durch die Einführung eines glaubhafteren Motivs - hebt die "Büchse der Pandora" an. Lulu, die Trägerin der Handlung im " Erdgeist", ist jetzt die Getragene. Mehr als früher zeigt sich, dass ihre Anmut die eigentliche leidende Heldin des Dramas ist; ihr Porträt, das Bild ihrer schönen Tage, spielt eine größere Rolle als sie selbst, und waren es früher ihre aktiven Reize, die die Handlung schoben, so ist jetzt auf jeder Station des Leidensweges der Abstand zwischen einstiger Pracht und heutigem Jammer der Gefühlserreger. Die große Vergeltung hat begonnen, die Revanche einer Männerwelt, die die eigene Schuld zu rächen sich erkühnt. "Die Frau", sagt Alwa, "hat in diesem Zimmer meinen Vater erschossen; trotzdem kann ich in dem Morde wie in der Strafe nichts anderes als ein entsetzliches Unglück sehen, das sie betroffen hat. Ich glaube auch, mein Vater hätte, wäre er mit dem Leben davongekommen, seine Hand nicht vollständig von ihr abgezogen." In dieser Empfindensfähigkeit gesellt sich dem überlebenden Sohn der Knabe Alfred Hugenberg, dessen rührendes Schwärmen im Selbstmord endet. Aber zu einem Bündnis, das ergreifender nie erfunden wurde, treten Alwa und die opferfreudige, seelenstarke Freundin Geschwitz zusammen, zum Bündnis einer heterogenen Geschlechtlichkeit, die sie doch beide dem Zauber der allgeschlechtlichen Frau erliegen lässt. Das sind die wahren Gefangenen ihrer Liebe. Alle Enttäuschung, alle Qual, die von einem geliebten Wesen ausgeht, das nicht zu seelischer Dankbarkeit erschaffen ist, scheinen sie als Wonnen einzuschlürfen, an allen Abgründen noch Werte bejahend. Ihre Gedankenwelt ist, mag er sie auch noch so sehr in einzelnen Zügen von der seinen absondern, die Gedankenwelt des Dichters, jene, die schon in dem Shakespeareschen Sonett zu tönen anhebt:

Wie lieblich und wie süß machst Du die Schande,
Die wie ein Wurm in duftiger Rose steckt
Und Deiner Schönheit Knospenruf befleckt -
Du hüllst die Schuld in wonnige Gewande!
Die Zunge, die wohl Deinen Wandel tadelt.
Wenn sie leichtfertig deutend, von Dir spricht,
Lässt ohne Lob doch selbst den Tadel nicht,
Weil schon Dein Name bösen Leumund adelt.
welche Wohnung ward den Fehlern, die
Zu ihrem Aufenthalt Dich auserlesen!
Die reinste Schönheit überschleiert sie
Und tadellos erscheint Dein ganzes Wesen.

Man kanns auch - mit dem albernen Roman-Medizinerwort - Masochismus nennen. Aber der ist vielleicht der Boden künstlerischen Empfindens. Der "Besitz" der Frau, die Sicherheit des beatus possidens ist es, ohne was Phantasiearmut nicht glücklich sein kann. Realpolitik der Liebe! Rodrigo Quast, der Athlet. hat sich eine Nilpferdpeitsche angeschafft, mit der wird er sie nicht nur zur "zukünftigen pompösesten Luftgymnastikerin der Jetztzeit" machen, sondern auch zum treuen Eheweib, das bloß jene Kavaliere bei sich zu empfangen hat, die er selbst bestimmt. Mit diesem unvergleichlichen Philosophen der Zuhältermoral beginnt der Zug der Peiniger: nun werden die Männer an Lulu durch Gemeinheit vergelten, was sie durch Torheit an ihr gesündigt haben. Die Reihe der verliebten Alleinbesitzer wird naturnotwendig von der Reihe der Praktiker der Liebe abgelöst. In ihr folgt auf Rodrigo, der leider die Fähigkeit verlernt hat, "zwei gesattelte Kavalleriepferde auf seinem Brustkorb zu balancieren", Casti Piani, dessen Schurkengesicht eine bösere sadistische Gewalt über Lulus Sexualwillen erlangte. Um dem einen Erpresser zu entrinnen, muss sie sich dem andern an den Hals werfen, jedermanns Opfer, jeden opfernd, bis der Erschöpften als der letzte und summarische Rächer des Mannsgeschlechts - Jack the Ripper in den Weg tritt. Von Hugenberg, dem Seelischesten, führt der Weg bis zu Jack, dem sexuellsten Manne, dem sie zufliegt wie die Motte dem Licht - dem extremsten Sadisten in der Reihe ihrer Peiniger, dessen Messeramt ein Symbol ist: er nimmt ihr, womit sie an den Männern gesündigt hat. -
Aus einer losen Reihe von Vorgängen, die eine Kolportageromanphantasie hätte erfinden können, baut sich dem helleren Auge eine Welt der Perspektiven, der Stimmungen und Erschütterungen auf, und die Hintertreppenpoesie wird zur Poesie der Hintertreppe, die nur jener offizielle Schwachsinn verdammen kann, dem ein schlecht gemalter Palast lieber ist als ein gut gemalter Rinnstein. Aber nicht auf solcher Szene liegt hier die Wahrheit, sondern noch hinter ihr. Wie wenig Platz fände in Wedekinds Welt, in der die Menschen um der Gedanken willen leben, ein Realismus der Zustände! Er ist der erste deutsche Dramatiker, der wieder dem Gedanken den langentbehrten Zutritt auf die Bühne verschafft hat. Alle Natürlichkeitsschrullen sind wie weggeblasen. Was über und unter den Menschen liegt, ist wichtiger, als welchen Dialekt sie sprechen. Sie halten sogar wieder - man wagt es kaum für sich auszusprechen - Monologe. Auch wenn sie miteinander auf der Szene stehen. Der Vorhang geht auf, und ein gedunsener Athlet spinnt seine Zukunftsträume von fetten Gagen und Zuhältergewinsten, ein Dichter zetert wie Karl Moor über das tintenklecksende Säkulum, und eine leidende Frau träumt von der Rettung ihrer abgöttisch geliebten Freundin. Drei Menschen, die aneinander vorbeisprechen. Drei Welten. Eine dramatische Technik, die mit einer Hand drei Kugeln schiebt. Man kommt dahinter, dass es eine höhere Natürlichkeit gibt als die der kleinen Realität, mit deren Vorführung uns die deutsche Literatur durch zwei Jahrzehnte im Schweiße ihres Angesichtes dürftige Identitätsbeweise geliefert hat. Eine Sprache, die die verblüffendste Verbindung von Charakteristik und aphoristischer Erhöhung darstellt. Jedes Wort zugleich der Figur und ihrem Gedanken, ihrer Bestimmung angepasst: Gesprächswendung und Motto. Der Zuhälter spricht: "Bei ihrer praktischen Einrichtung kostet es die Frau nicht halb so viel Mühe, ihren Mann zu ernähren, wie umgekehrt. Wenn ihr der Mann nur die geistige Arbeit besorgt und den Familiensinn nicht in die Binsen gehen lässt." Wie hätte das ein sogenannter Realist ausgedrückt? Szenen wie die zwischen Alwa und Lulu im ersten, zwischen Casti Piani und Lulu im zweiten und vor allem jene im letzten Akt, in der die Geschwitz mit Lulus Porträt in das Londoner Elend hineinplatzt, hat ein anderer deutscher Dramatiker mit kunstvollster Stimmungstechnik nicht zustande gebracht, und keine andere Hand hätte heute Mut und Kraft zu solchem Griff in das Menscheninnerste. Shakespearisch grotesk wie das Leben selbst ist diese Abwechslung clownhafter und tragischer Wirkungen bis zu der Möglichkeit, beim Stiefelanziehen von stärkster Erschütterung durchwühlt zu sein. Diese visionär gewendete Moritat, diese vertiefte Melodramatik des "Von Stufe zu Stufe" ist außen Lebensbild, innen Bild des Lebens. Wie ein Fiebertraum - der Traum eines an Lulu erkrankten Dichters - jagen diese Vorgänge. Alwa könnte am Schluss sich über die Augen fahren und in den Armen einer erwachen, die sich erst im Jenseits den Schlaf aus den Augen reibt. Dieser zweite, der Pariser Akt, mit seinen matten Farben eines schäbigen Freudenlebens: alles wie hinter einem Schleier, bloß eine Etappe auf den parallelen Leidenswegen Lulus und Alwas. Sie, vorne, das Blatt eines Erpressers zerknitternd, er hinten im Spielzimmer, ein schwindelhaftes Wertpapier in der Hand. Im Taumel der Verlumpung hastet er über die Szene. Alles drängt dem Abgrund zu. Ein Gewirr von Spielern und Kokotten, die ein gaunerischer Bankier betrügt. Alles schemenhaft und in einer Sprache gehalten, die einen absichtlich konventionellen Ton muffiger Romandialoge hat: "Und nun kommen Sie, mein Freund! Jetzt wollen wir unser Glück im Baccarat versuchen!" Der "Marquis Casti Piani" - nicht als die Charge eines Mädchenhändlers, sondern als die leibhaftige Mission des Mädchenhandels auf die Bühne gestellt. In zwei Sätzen soziale Schlaglichter von einer Grelligkeit, die nur der Schleier der Vorgänge dämpft, ein Ironiegehalt, der hundert Pamphlete gegen die Lügnerin Gesellschaft und gegen den Heuchler Staat überflüssig macht. Ein Mensch, der Polizeispion und Mädchenhändler zugleich ist: "Die Staatsanwaltschaft bezahlt demjenigen, der die Mörderin des Dr. Schön der Polizei in die Hand liefert, 1000 Mark. Ich brauche nur den Polizisten heraufzupfeifen, der unten an der Ecke steht, dann habe ich 1000 Mark verdient. Dagegen bietet das Etablissement Oikonomopulos in Kairo 60 Pfund für Dich. Das sind 1200 Mark also 200 Mark mehr als der Staatsanwalt bezahlt." Und, da ihn Lulu mit Aktien abfertigen will: "Ich habe mich nie mit Aktien abgegeben. Der Staatsanwalt bezahlt in deutscher Reichswährung und Oikonomopulos zahlt in englischem Gold." Die unmittelbarste Exekutive staatlicher Sittlichkeit und die Vertretung des Hauses Oikonomopulos in einer und derselben Hand vereinigt.... Ein gespenstisches Huschen und Hasten, ein Grad dramatischer Andeutung, den Offenbach festgehalten hat, da er die Stimmungen E. T. A. Hoffmanns vertonte. Olympia-Akt. Wie Spalanzani, der Adoptivvater eines Automaten, beschwindelt dieser Puntschu mit seinen falschen Papierwerten die Gesellschaft. Seine dämonische Verschmitztheit findet in ein paar Monologsätzen einen philosophischen Ausdruck, der den Unterschied der Geschlechter tiefer erfasst als alle Wissenschaft der Neurologen. Er kommt aus dem Spielsaal und freut sich diebisch, dass seine Judenmoral um soviel einträglicher ist als die Moral der Huren, die dort um ihn versammelt waren. Sie müssen ihr Geschlecht, ihr "Josaphat", vermieten - er kann sich mit seinem Verstand helfen. Die armen Frauenzimmer setzen das Kapital ihres Körpers zu; der Verstand des Spitzbuben erhält sich frisch: "braucht er sich nicht zu baden in Eau de Cologne!" so triumphiert die Unmoral des Mannes über die Nichtmoral der Frau. Der dritte Akt. Hier, wo Knüppel, Revolver und Schlächtermesser spielen, aus diesen Abgründen einer rohen Tatsachenwelt klingen die reinsten Töne. Das Unerhörte, das sich hier begibt, mag den abstoßen, der von der Kunst nichts weiter verlangt als Erholung oder dass sie doch nicht die Grenze seiner eigenen Leidensmöglichkeit überschreite. Aber sein Urteil müsste so schwach sein wie seine Nerven, wollte er die Großartigkeit dieser Gestaltung leugnen. Mit realistischen Erwartungen freilich darf man diese Fiebervision in einer Londoner Dachkammer so wenig miterleben wollen, wie die "unwahrscheinliche" Befreiungsgeschichte im ersten Akt und die Beseitigung Rodrigos im zweiten. Und wer in diesem Nacheinander von vier Liebeskunden der als Straßenmädchen verendenden Lulu eine rohe Pikanterie und nicht in diesem Wechsel grotesker und tragischer Eindrücke, in dieser Anhäufung schrecklicher Gesichte den Einfall eines Dichters sieht, darf sich über die niedrige Schätzung seiner eigenen Erlebnisfähigkeit nicht beklagen. Er verdient es, Zeitgenosse jener dramatischen Literatur zu sein, über die Frank Wedekind durch den Mund seines Alwa so bitter abspricht. Aber man kann im Ernst nicht glauben, dass einer so kurzsichtig sein könnte, über der "Peinlichkeit'' des Stoffes die Größe seiner Behandlung und die innere Notwendigkeit seiner Wahl zu verkennen. Vor Knüppel, Revolver und Messer zu übersehen, dass sich dieser Lustmord wie ein aus den tiefsten Tiefen der Frauennatur geholtes Verhängnis vollzieht; über der lesbischen Verfassung dieser Gräfin Geschwitz zu vergessen, dass sie Größe hat und kein pathologisches Dutzendgeschöpf vorstellt, sondern wie ein Dämon der Unfreude durch die Tragödie schreitet. Zwar, die unendlichen Feinheiten dieser groben Dichtung erschließen sich dem Leser erst bei genauerer Bekanntschaft: Lulus Vorahnung ihres Endes, das schon auf den ersten Akt seine Schatten wirft, dieses Dahinschweben unter einem Bann und dieses Vorübergleiten an den Schicksalen der Männer, die ihr verfallen sind: auf die Nachricht vom Tode das kleinen Hugenberg im Gefängnis fragt sie, ob denn "der auch im Gefängnis ist", und Alwas Leichnam macht ihr die Stube bloß unbehaglicher. Dann die blitzartige Erkenntnis des extremsten Mannes, Jacks, der dem unweiblichsten Weibe "wie einem Hunde den Kopf streichelt" und sofort die Beziehung dieser Geschwitz zu Lulu und damit ihre Nichteignung für sein fürchterliches Bedürfnis mitleidig wahrnimmt. "Dies Ungeheuer ist ganz sicher vor mir", sagt er, nachdem er sie niedergestochen hat. Sie hat er nicht zur Lust gemordet, bloß als Hindernis beseitigt. Zu seiner Befriedigung könnte er ihr höchstens das Gehirn herausschneiden. -
Nicht eindringlich genug kann davor gewarnt werden, das Wesen der Dichtung in ihrer stofflichen Sonderbarkeit zu suchen. Eine Kritik, deren hausbackene Gesundheit sich über Dinge der Liebe den Kopf nicht zerbricht, hat schon im "Erdgeist" nichts weiter als ein Boulevard-Drama sehen wollen, in dem der Autor "Krasses mit Zotigem gemengt" habe. Ein führender Berliner Geist hat die Ahnungslosigkeit, mit der er der Welt des Doppeldramas gegenübersteht, durch den Rat bewiesen, der begabte Autor möge nur schnell ein anderes Stoffgebiet wählen. Als ob der Dichter "Stoffe wählen" könnte, wie der Tailleur oder der Wochenjournalist, der auch fremden Meinungen sein stilistisches Kleid borgt. Von der Urkraft, die hier Stoff und Form zugleich gebar, hat heute die deutsche Kritik noch keine Ahnung. Dass die offizielle Theaterwelt ihr Modernitätsideal im jährlichen Pensum ihrer geschickten Ziseleure erfüllt wähnt, dass der Tantièmensegen immerzu die Mittelmäßigkeit befruchtet und die Persönlichkeit die einzige Auszeichnung genießt, keinen Schiller-, Grillparzer - oder Bauernfeldpreis (oder wie die Belohnung für Fleiß, gute Sitten und Talentlosigkeit sonst heißen mag) zu bekommen - man ist gewohnt, es als etwas Selbstverständliches hinzunehmen. Aber nachgerade muss es erbittern, einen Dramatiker, der keine Zeile geschrieben hat, die nicht Weltanschauung und Theateranschauung zu absoluter Kongruenz brächte, und dessen perspektivische Gedankenreihen endlich über das armselige Milieugeschäft emporweisen, von der offiziellen Kunstwelt als ein Kuriosum behandelt zu sehen. Er ist "grotesk". Und damit glauben die Gerechten, die in der Literatur immer zwei Fliegen mit einem Schlagwort treffen, ihn abgestempelt zu haben. Als ob das Groteske immer Selbstzweck einer Artistenlaune wäre! Sie verwechseln die Maske mit dem Gesicht und keiner ahnt, dass der groteske Vorwand hier nichts geringeres bedeuten könnte, als das Schamgefühl des Idealisten. Der auch Idealist bleibt, wenn er in einem Gedichte bekennt, dass er lieber eine Hure wäre "als an Ruhm und Glück der reichste Mann", und dessen Schamgefühl in viel tiefere Sphären langt, als das Schamgefühl derer, die an Stoffen Anstoß nehmen.
Der Vorwurf, dass man in eine Dichtung etwas "hineingelegt" habe, wäre ihr stärkstes Lob. Denn nur in jene Dramen, deren Boden knapp unter ihrem Deckel liegt, lässt sich beim besten Willen nichts hineinlegen. Aber in das wahre Kunstwerk, in dem ein Dichter seine Welt gestaltet hat, können eben alle alles hineintun. Was in der "Büchse der Pandora" geschieht, kann für die ästhetische wie - hört, hört - für die moralistische Betrachtung der Frau herangezogen werden. Die Frage, ob es dem Dichter mehr um die Freude an ihrem Blühen oder mehr um die Betrachtung ihres ruinösen Waltens zu tun ist, kann jeder wie er will beantworten. So kommt bei diesem Werke schließlich auch der Sittenrichter auf seine Rechnung, der die Schrecknisse der Zuchtlosigkeit mit exemplarischer Deutlichkeit geschildert sieht und der in dem blutdampfenden Messer Jacks mehr die befreiende Tat erkennt als in Lulu das Opfer. So hat sich ein Publikum, dem der Stoff missfällt, wenigstens nicht über die Gesinnung zu entrüsten. Leider. Denn i c h halte die Gesinnung für arg genug. Ich sehe in der Gestaltung der Frau, die die Männer zu "haben" glauben, während sie von ihr gehabt werden, der Frau, die Jedem eine andere ist, Jedem ein anderes Gesicht zuwendet und darum seltener betrügt und jungfräulicher ist als das Püppchen domestiker Gemütsart, ich sehe darin eine vollendete Ehrenrettung der Unmoral. In der Zeichnung des Vollweibes mit der genialen Fähigkeit, sich nicht erinnern zu können, der Frau, die ohne Hemmung, aber auch ohne die Gefahren fortwährender seelischer Konzeption lebt und jedes Erlebnis im Vergessen wegspült. Begehrende, nicht Gebärende; nicht Genus-Erhalterin, aber Genuss-Spenderin. Nicht das erbrochene Schloss der Weiblichkeit; doch stets geöffnet, stets wieder geschlossen. Dem Gattungswillen entrückt, aber durch jeden Geschlechtsakt selbst neu geboren. Eine Nachtwandlerin der Liebe, die erst "fällt", wenn sie angerufen wird, ewige Geberin, ewige Verliererin - von der ein philosophischer Strolch im Drama sagt: "Die kann von der Liebe nicht Ieben, weil ihr Leben die Liebe ist." Dass der Freudenquell in dieser engen Welt zur Pandorabüchse werden muss: diesem unendlichen Bedauern scheint mir die Dichtung zu entstammen. "Der nächste Freiheitskampf der Menschheit", sagt Wedekind in seinem programmatischeren Werke "Hidalla", "wird gegen den Feudalismus der Liebe gerichtet sein ! Die Scheu, die der Mensch seinen eigenen Gefühlen gegenüber hegt, gehört in die Zeit der Hexenprozesse und der Alchymie. Ist eine Menschheit nicht lächerlich, die Geheimnisse vor sich selber hat?! Oder glauben Sie vielleicht an den Pöbelwahn, das Liebesleben werde verschleiert, weil es h ä ß l i c h sei?! Im Gegenteil, der Mensch wagt ihm nicht in die Augen zu sehen, so wie er vor seinem Fürsten, vor seiner Gottheit den Blick nicht zu heben wagt! Wünschen Sie einen Beweis? Was bei der Gottheit der Fluch, das ist bei der Liebe die Zote! Jahrtausende alter Aberglaube aus den Zeiten tiefster Barbarei hält die Vernunft im Bann. Auf diesem Aberglauben aber beruhen die d r e i b a r b a r i s c h e n L e b e n s f o r m e n, von denen ich sprach: Die wie ein wildes Tier aus der menschlichen Gemeinschaft hinausgehetzte Dirne, das zu körperlicher und geistiger Krüppelhaftigkeit verurteilte, um sein ganzes Liebesleben betrogene alte Mädchen; und die zum Zweck möglichst günstiger Verheiratung bewahrte Unberührtheit des jungen Weibes. Durch dieses Axiom hoffte ich den Stolz des Weibes zu entflammen und zum Kampfgenossen zu gewinnen. Denn von Frauen solcher Erkenntnis erhoffte ich, da mit Wohlleben und Sorglosigkeit einmal abgerechnet war, eine frenetische Begeisterung für mein Reich der Schönheit."
Nichts ist billiger als sittliche Entrüstung. Ein kultiviertes Publikum - nicht nur die Vorsicht der Polizeibehörde, auch der Geschmack der Veranstalter sorgt für seine Zusammensetzung - verschmäht billige Mittel der Abwehr. Es verzichtet auf die Gelegenheit, seiner eigenen Wohlanständigkeit applaudieren zu können. Das Gefühl dieser Wohlanständigkeit, das Gefühl, den auf der Bühne versammelten Spitzbuben und Sirenen moralisch überlegen zu sein, ist ein gefesteter Besitz, den nur der Protz betonen zu müssen glaubt. Bloß er möchte auch dem Dichter seine Überlegenheit zeigen. Dies aber könnte uns nie abhalten, auf die fast übermenschliche Mühe stolz zu sein, die wir daran wandten, dem starken und kühnen Dramatiker unsere Achtung zu beweisen. Denn keinem haben sich wie ihm die Striemen, die seelisches Erleben schlug, zu Ackerfurchen dichterischer Saat gewandelt.
Veröffentlicht: Die Fackel 7 (1905), S.1-14 (Die Fackel 22 (1925), S.43-55; Kraus, Karl: Literatur und Lüge. Werke, hrsg. v. Heinrich Fischer. München 1958, S.9-21)

2.4 Aus: Dr. P.J.Möbius, Über den physiologischen Schwachsinn des Weibes. 8., veränderte Auflage, Halle 1905 (1. Auflage 1903), S.29-35

 Demnach ist es also nachgewiesen, dass für das geistige Leben außerordentlich wichtige Gehirnteile, die Windungen des Stirn- und des Schläfenlappens, beim Weibe schlechter entwickelt sind als beim Manne, und dass dieser Unterschied schon bei der Geburt besteht.
Gleich wie Mann und Weib dieselben Gehirnwindungen haben, nur von verschiedener Größe, so haben auch beide dieselben geistigen Eigenschaften, ein Mehr oder Minder macht den Unterschied, keine Eigenschaft kommt einem Geschlechte ausschließlich zu. Die Sinne scheinen bei beiden Geschlechtern ungefähr gleich scharf zu sein.
[…]
Einer der wesentlichsten Unterschiede ist wohl der, dass der Instinkt beim Weibe eine größere Rolle spielt als beim Manne. Man kann in der Idee eine Reihe bilden, am einen Ende stehen Wesen, die ausschließlich instinktiv handeln, am anderen solche, bei denen jede Handlung auf Reflexion beruht. Im allgemeinen ist der geistigen Entwickelung eigentümlich, dass der Instinkt immer weniger, die Überlegung immer mehr zu bedeuten hat, dass das Gattungswesen mehr und mehr Individuum wird. Wir sprechen dann von Instinkt, wenn eine zweckmäßige Handlung ausgeführt wird, ohne dass der Handelnde weiß, warum; sobald wie gewisse Umstände wiederkehrten, arbeitet in uns ein Apparat, und wir vollziehen eine Handlung, als ob eine fremde Vernunft uns dazu antriebe. Wir sprechen aber auch von instinktiver Erkenntnis, wenn wir zu Urteilen gelangen, ohne zu wissen wie. Im Grunde ist keine Handlung und Erkenntnis ohne Instinkt, denn ein Teil des Prozesses fällt immer in das Unbewusste, aber es gibt doch Gradunterschiede. Je mehr Anteil das individuelle Bewusstsein am Erkennen und Handeln hat, um so höher ist das Individuum entwickelt, um so selbständiger ist es. Einen Zwischenzustand zwischen dem rein Instinktiven und dem klar Bewussten nennen wir Gefühl. Aus Gefühl handeln, aus Gefühl etwas für wahr halten, heißt es halb instinktiv tun. Der Instinkt hat große Vorzüge, er ist zuverlässig und macht keine Sorgen; das Gefühl nimmt zur Hälfte an diesen Vorzügen teil. Der Instinkt nun macht das Weib tierähnlich, unselbständig, sicher und heiter. In ihm ruht ihre eigentümliche Kraft, er macht sie bewundernswert und anziehend. Mit dieser Tierähnlichkeit hängen sehr viele weibliche Eigentümlichkeiten zusammen. Zunächst der Mangel eignen Urteils. Was für wahr und gut gilt, das ist den Weibern wahr und gut. Sie sind streng konservativ und hassen das Neue, ausgenommen natürlich die Fälle, in denen das Neue persönlichen Vorteil bringt, oder der Geliebte dafür eingenommen ist. Wie die Tiere seit undenklichen Zeiten immer dasselbe tun, so würde auch das menschliche Geschlecht, wenn es nur Weiber gäbe, in seinem Urzustande geblieben sein. Aller Fortschritt geht vorn Manne aus. Deshalb hängt das Weib vielfach wie ein Bleigewicht an ihm; sie verhindert manche Unruhe und vorwitzige Neuerung, sie hemmt aber auch den Edlen, denn sie vermag das Gute vom Bösen nicht zu unterscheiden und unterwirft schlechtweg alles der Sitte und "dem Sagen der Leute". Der Mangel an Kritik drückt sich auch in der Suggestibilität aus. Der Instinkt herrscht nicht wie beim Tiere fast ganz allein, sondern er ist mit individuellem Denken verbunden, dieses aber ist nicht kräftig genug, allein zu gehen, muss sich auf fremdes Denken stützen, das Voreingenommenheit, Liebe oder Eitelkeit als vertrauenswert erscheinen lassen. So ergibt sich der scheinbare Widerspruch, dass die Weiber, als Hüterinnen alter Sitte, doch jeder Mode nachlaufen, konservativ sind und doch jede Absurdität aufnehmen, wenn geschickt suggeriert wird. Mit der Ablösung vom ursprünglich Instinktiven, mit dem Ichwerden und dem Wachsen des individuellen Denkens wächst zunächst der Egoismus, oder richtiger, das seiner Natur nach egoistische Einzelwesen, das solange, wie es nur seinen Trieben gehorcht, unbewusst auch zum Vorteile der Anderen handelt, wird, wenn es anfängt zu denken, den sozialen Trieben zuwider handeln. Erst eine hohe geistige Entwickelung gibt die Einsicht, dass durch Förderung des allgemeinen Wohles auch das eigene Wohl gefördert wird. Die meisten Weiber bleiben in dem Mittelzustande: Ihre Moral ist durchaus Gefühlsmoral oder unbewusstes Rechttun, die Begriffsmoral ist ihnen unzugänglich, und die Reflexion macht sie nur schlechter.