Homoeostase


Ong geht von einer traditionalistischen und konservativen Qualität oraler Kultur aus . Obgleich orale Kulturen Wissen bewahren und von Generation zu Generation weiterreichen, ist das Wissen kein statisches: Veränderungen geschehen langsam, als Prozeß. Ong bezeichnet orale Kulturen daher als "homeostatic" .Traditionen, die als überholt empfunden werden, werden revidiert oder als unnötig abgestreift, und nicht länger benötigte Erinnerungen werden vergessen, während auf der anderen Seite neues Wissen hinzukommt. Ong argumentiert, daß orale Traditionen eher die gegenwärtigen kulturellen Werte einer Gesellschaft widerspiegeln, als bloße Neugierde der Vergangenheit gegenüber .

Durch das Aufschreiben von Traditionen und traditionellem Wissen - dies kommt einer Fixierung gleich - wurde es schwieriger, diese Traditionen neuen Gegebenheiten anzupassen, sie zu ergänzen oder gar abzuschaffen. Mit der Printkultur wurde die Datierung von Traditionen möglich, ein neues Zeitbewußtsein entstand: tradiertes Wissen stammte nicht länger nur aus unbestimmter und unbestimmbarer Vorzeit. Es entwickelte sich ein historisches Bewußtsein, ein Bewußtsein für Stufen der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft.

In den elektronischen Medien ist diese bewahrende Fixiertheit von Wissen potentiell aufgehoben. Die Flüchtigkeit, die der elektronischen Kommunikation innewohnt, beinhaltet auch das Potential ständiger Veränderung, ständiger Anpassung an aktuelle Gegebenheiten. Texte im WWW werden zum Beispiel ständig aktualisiert, Hypertextdokumente werden - oft von Autor und Nutzer gleichermaßen - ergänzt, kommentiert, neu verknüpft, rearrangiert oder aktualisiert. Digitale Information, digital gespeichertes Wissen, elektronische Texte haben so eher kontinuierlich prozeßhaften Charakter als statischen, und sie entsprechen in dieser Qualität eher den sich kontinuierlich wandelnden Erzählungen präliteraler Kulturen, als Büchern. Ähnlich der von Ong konstatierten Wandelbarkeit und Anpassungsfähigkeit oral tradierten Wissens an gegenwärtige Anforderungen werden sich im Cyberspace Geschichten und Informationen, also das Wissen der Kultur(en) die sich des Internet als Wissensspeicher bedienen, und das Wissen der Cyberkultur, also der Kulturen die innerhalb des Cyberspace, ohne direkten Rückgriff auf die 'realen' Kultursysteme, den jeweiligen Gegebenheiten der Gegenwart anpassen ( Ein besonders deutliches Beispiel hierzu sind die unzähligen newsgroups zu "urban legends", besonders auch die subgroups zu computer legends: nach dem Pentium-Skandal dauerte es nur wenige Tage bis alte computer legends so umgeformt waren, daß der Intel-Prozessor im Mittelpunkt der Geschichte stand. Diese Newsgroups können als direkte Fortführung oralen Geschichtenerzählens im Cyberspace verstanden werden).

Mit dieser ständigen Wandlung und Wandelbarkeit des Textes wird auch das Problem der Autorschaft deutlich: wie in primär oralen Kulturen ist elektronischer Text nie "frozen in print". Ein Anrecht des Erzählers auf seine Geschichte war in oralen Kulturen nicht geschützt oder auch nur anerkannt, da die Geschichte an den nächsten Erzähler weitergegeben wurde und von ihm wieder eine neue Form erhielt. So waren viele der tradierten Geschichten nicht auf einen bestimmten Autor zurückzuführen, sondern stammten aus unbestimmter Vorzeit. Dieses Zurückgreifen auf kontinuierliche Formen der Informationsvermittlung wird wohl die Bedeutung des Autors, zusätzlich zu den vorab bereits beschriebenen Faktoren, weiter schmälern (J. P. Barlow in Wired 2:03 1994) .

Eine homöostatische Eigenschaft elektronischen Textes zeigt sich auch in der Form, in der Hypertext präsentiert wird: innerhalb der letzten drei Jahre hat sich HTML, die 'Sprache' des Web intensiv weiterentwickelt, andere Programmiermöglichkeiten, wie zum Beispiel JAVA und die erweiterten Möglichkeiten zur Einbindung von Skripten allgemein haben dazu geführt, daß sich das Gesicht des WWW in den letzten Jahren massiv verändert hat. Dies entspräche etwa, um die Analogie zur präliteralen Kultur fortzuführen, der Präsentation einer Geschichte in anderer Form durch einen anderen Erzähler. Der Inhalt einer Website mag beinahe unverändert geblieben sein, doch die veränderte Präsentation hat auch auf diesen Einfluß: die Präsentation mag heute andere Aspekte hervorheben, als noch vor sechs Monaten, andere Links gesetzt haben, graphisch anders gestaltet sein, das interaktive Potential der Site gesteigert worden sein. All dies könnte man als analog zu Ongs Beschreibung von Homöostase beschreiben: die Anpassung des Tradierten - in diesem Fall eben der herkömmlichen Form - an neue Gegebenheiten.

So kann man mit Ong argumentieren, daß orale Kulturen sowohl bewahrende als auch wandelnde Eigenschaften in sich bergen. Möglicherweise kann die elektronische Medienkultur wieder diese Dualitäten vereinigen: einerseits das Bewahren der Wurzeln der Kultur - gepaart mit schier unendlich erscheinender Speicherkapazität - andererseits die Offenheit für künftige Anforderungen und neue Ideen, und, bedingt durch die oben beschriebenen Eigenschaften, die Möglichkeit, das bestehende den aktuell existierenden Anforderungen anzupassen. Für J. D. Bolter kann das Schreiben im elektronischen "writing space" so auch nur ein kollektiver Prozeß sein:

"the writer creates some connections, which pass to the first reader, who may add new connections and pass results on to another reader, and so on." (1991)

Dieses Weitergeben des Textes, mit den damit einhergehenden Veränderungen am und im Text durch diejenigen, die mit dem Text umgehen, ihn verändern, ihn in neue Zusammenhänge setzen, ihn ergänzen, relativieren etc., erkennt Bolter als die buchstäbliche Bedeutung des Wortes Tradition. Sie entspricht der Tradition in oralen Kulturen und birgt somit das von Ong als homöostatisch bezeichnete Element der Veränderung und Anpassung.


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