Fazit: Zur bildungstheoretischen Bedeutung des Internet



Wie einleitend bereits erörtert läßt sich der Begriff Bildung nicht präzise eingrenzen, zu vielschichtig und umfassend ist seine Bedeutung im Lauf der Jahrhunderte geworden, zu mannigfaltig sind die Deutungen des Begriffes. Allenfalls lassen sich, wie im ersten Kapitel skizziert, bestimmte Motive der Bildungstheorie in ihrer Entwicklung bis in die heutige Zeit hinein in ihrer Entwicklung verfolgen, und diese haben, trotz massiver Veränderung der Lebenswelt, der Gesellschaft, und der vorherrschenden Menschenbilder, im Laufe ihrer langen Entwicklung nichts von ihrer Relevanz für die Bildungstheorie verloren. Zentraler Begriff für eine Bildungstheorie der Gegenwart bleibt vor allem das Verhältnis des Menschen zur Welt und das Hineinfinden - sich hineinbilden - des Einzelnen in seine Position in der Welt in der Auseinandersetzung zwischen den Bedürfnissen und Wünschen des Individuums und den Ansprüchen der Welt an dieses.

Grundsätzlich davon ausgehend, daß der Mensch bildsam ist und durch sein ganzes Leben hindurch bleibt (s. Hierzu E. H. Erikson u.a.) insofern als die Persönlichkeit des Einzelnen das ganze Leben hindurch grundsätzlich modifizierbar ist, und nicht starr festgelegt, möchte ich für einen Bildungsbegriff und eine Theorie der Bildung plädieren, die relativ weit gefaßt sind und sich weder zeitlich auf Kindheit, Jugend und Adoleszenz, noch institutionell auf Schul- und Berufsausbildung oder Elternhaus beschränkt: vielmehr sollte Bildung als ein lebenslanger - sich dabei durchaus schubweise sich vollziehender - Prozeß gesehen werden, innerhalb dessen sich das Verhältnis des Einzelnen zu sich selbst, jedoch auch und vor allem zur Welt immer wieder neu bestimmt.

Das Verhältnis des Individuums zu sich selbst und zur Welt wird dabei von so mannigfaltigen Faktoren geprägt, daß man, wenn man den Schwerpunkt zu sehr auf einen bestimmten dieser Faktoren legt, indem man etwa Arbeit allein als den menschenbildenden Faktor postuliert, der Sache nicht gerecht werden kann. Wir sind und werden durch unsere gesamte Lebenswelt geprägt; die Gesellschaft ebenso wie einzelne Faktoren unserer direkten Umgebung haben entscheidenden Einfluß auf das, was wir aus unseren Anlagen entwickeln ebenso wie auf das, was wir verkümmern lassen oder unterdrücken. Unter anderem zählen zu diesen die Lebenswelt entscheidend prägenden Einflüssen in der heutigen Zeit auch die Massenmedien.

Zwar impliziert eine die Gesellschaft prägende Veränderung der Medienlandschaft auch eine Veränderung oder möglicherweise sogar eine umfassende Erneuerung der Sicht und der Position des Individuums in dieser Gesellschaft, wie dies etwa auch bei der Einführung der Schrift der Fall war, doch bedeutet dies nicht, daß sämtliche historischen Konzepte einer Bildungstheorie mit jeder neuen gesellschaftsprägenden Entwicklung verworfen werden müssen. Vielmehr gilt es, die in einer Bildungstheorie enthaltenen Ideen stets anhand der neuen Entwicklungen zu überprüfen und gegebenenfalls zu redigieren, um mit den gesellschaftlichen Entwicklungen Schritt halten zu können, denn nur eine Bildungstheorie, die die aktuell vorherrschenden Umstände und Einflüsse einer Gesellschaft und ihrer Individuen berücksichtigt, kann eine Basis für Konzepte bieten, die greifen und funktionieren. Dies bedeutet nicht, sich jeder Modeerscheinung anzubiedern; vielmehr fordert es von der Pädagogik, ein Auge auf Entwicklungen zu haben, die in der Gesellschaft Veränderungen hervorrufen und damit das Leben auch des Einzelnen prägen und formen.

Die stetige Überprüfung von Konzepten läßt sich sinnvoll jedoch nur dann durchführen, wenn die neu sich entwickelnden Aspekte der Gesellschaft, etwa die Medien, genau beobachtet und untersucht werden, und wirklich fruchtbar kann eine solche Untersuchung nur dann sein, wenn sie im interdisziplinären Zusammenhang vollzogen wird, und damit den komplexen, die Fächer nun einmal sprengenden Zusammenhängen der Lebenswelt Rechnung getragen wird. Nur, wenn die Mechanismen und Zusammenhänge, innerhalb derer Individuen in einer Gesellschaft leben, möglichst gut durchschaut werden, kann eine Bildungstheorie diesen Zusammenhängen gerecht werden. Diese Arbeit versucht, diesem Sachverhalt im Ansatz Rechnung zu tragen, indem in die Betrachtungen nicht allein pädagogische, sondern auch medienwissenschaftliche und andere Perspektiven mit einbezogen werden.

Bei der Betrachtung zu einer möglichen bildungstheoretischen Relevanz eines neuen Mediums wie des Internet geht es hier vor allem um die dem Medium innewohnenden Strukturen, die einen möglichen Bildungsprozeß beeinflussen können. Gerade die im Internet vorliegenden oral geprägten Strukturen scheinen hier insofern von besonderer Bedeutung zu sein, als sie bestimmte Kommunikationsprozesse und -vorgänge ermöglichen, die in ihrer Art insofern einzigartig sind, als sie zwar vermittelte Kommunikation ermöglichen, doch dem Nutzer gleichzeitig ein Gefühl von Unmittelbarkeit und Spontaneität suggerieren. Möglicherweise steht diese Empfindung in engem Zusammenhang mit der Tatsache, daß in der Cyberwelt gewissermaßen etwas zu sagen gleichzusetzen ist damit, etwas zu tun.

Von ganz spezieller Relevanz erscheint im Zusammenhang mit dieser subjektiven Empfindung einer größeren Unmittelbarkeit die Aufhebung der Autorschaft, beziehungsweise die Autorschaft durch die Nutzer zu sein. Indem die Nutzer die virtuelle Welt, innerhalb derer sie sich bewegen, selbst gestalten - und nicht, wie in der realen Welt, in eine von ihnen weitestgehend unbeeinflußbare Umgebung sozusagen hineingeboren werden - entstehen Freiräume, wie sie in der realen Gesellschaft allzu oft nicht gegeben sind: weitaus weniger einengend, weitaus weniger - oder zumindest auf ganz andere Weise - reglementiert. In gewisser Weise können so Nutzer in viel größerem Maße auch Autoren ihrer selbst sein: indem sie sich eine Welt erschaffen, innerhalb derer sie ihre Rolle frei wählen und leben können, befreien sie sich vom gesellschaftlichen Druck zur Selbstreduktion, insofern als sie im Internet auch diejenigen Seiten ihrer Persönlichkeit ausprobieren und leben können, die sie in ihrem richtigem Leben unterdrücken (müssen). Der gesellschaftliche Zwang zur Anpassung, der im RL oftmals die Ausbildung bestimmter Seiten einer Persönlichkeit unterdrückt, indem er den Einzelnen bestimmte Verhaltensweisen als die für ihn oder sie einzig richtigen abverlangt, ist wesentlich geringer, mögliche Sanktionen wegen Regelverstöße oder des Ausbrechens aus einer vorgeschriebenen Rolle sind von relativ geringer Auswirkung.

Die vorliegenden Befragungen und Untersuchungen zeigen, daß in diesem spielerischen Umgang mit der eigenen Identität ein Identitätbildungspotential vorliegt, das nicht zu unterschätzen ist und bei dem getrost von einem Potential zur Selbstbildung - im Sinne eines Wachsens und einer Entfaltung, einer Aus-Bildung der Anlagen einer Person - die Rede sein kann, insofern als die Nutzer zwar Rollen oft nur spielerisch annehmen, dieses spielerischen Erleben neuer Rollen jedoch durchaus tiefgreifende, in ihrer Intensität und Konsequenz den Erlebnissen des realen Lebens in nichts nachstehende Auswirkungen auf die Aus-Bildung des Selbst haben können. Die Stärke und Besonderheit des Internet liegt hierbei wohl vor allem in der Tatsache, daß im Netz ein Raum vorliegt, der eine niedere Hemmschwelle und geringeren Widerstand beim Ausprobieren neuer Aspekte des eigenen Selbst beinhaltet, so daß der Widerstreit zwischen den eigenen Bedürfnissen des Einzelnen und den gesellschaftlichen Anforderungen, wie er im RL oft vorhanden ist, im Internet als weniger massiv und drückend empfunden wird, und damit der erste Schritt zur Verwirklichung bislang unterdrückter Aspekte des Selbst erleichtert wird.

Da eine mögliche Ablehnung bestimmter Eigenschaften oder Neigungen einer Person im Internet sowohl durch die Vielzahl an Wahlmöglichkeiten zwischen den möglichen communities mit ihrer Unzahl an verschiedensten Schwerpunkten und Regelwerken, als auch aufgrund des Schutzes durch relative Anonymität weitaus weniger folgenschwer ist, als dies im sozialem Umfeld des RL der Nutzer der Fall ist, entsteht Raum für spielerischen Umgang mit dem Selbst und der Vielheit dieses Selbst; es ist in gewissem Sinne einfacher, sich selbst zu behaupten. Wenn es dabei um das Ausleben ganz bestimmter, definierter Neigungen geht, die gesellschaftlich mit Stigmata belegt sind, oder fuer die im Leben einer Einzelperson keine Raum findet, ist ein Effekt dieser vermehrt empfundenen Freiheit im Internet, daß sich viele Gleichgesinnte in online-communities finden, und sich so gegenseitig unterstützen können. Auch in diesem support groups liegt ein Potential, das, ähnlich wie etwa herkömmliche RL-coming-out-groups Bildungsprozesse, im Sinne einer Identitätsbildung und -festigung, fördern und teilweise mittragen kann. Von einer völligen Entgrenzung, von der in den Medien oftmals die Rede ist, kann man jedoch auch im Zusammenhang mit dem Internet nicht sprechen, denn auch hier existieren in der großen Mehrzahl der communities Regeln und Tabus, wie etwa die Ächtung von Aktivitäten mit kinderpornographischem Hintergrund und ähnlichem. Man kann jedoch aus den Befragungen schließen, daß der subjektiv empfundene Freiheitsgrad höher ist, und dementsprechend auch der Mut, sich auszuprobieren, größer.

Letztlich kann man sagen, daß den Nutzern im Internet ein größerer Freiraum zur Verfügung steht, innerhalb dessen sie wählen können wer oder was sie sein wollen. Solche positiven Erfahrungen innerhalb des Netzes, so zeigt sich aus den Befragungen, ermutigt die Nutzer im Idealfall, auch im RL den Mut zu haben, ihre bislang versteckten oder unterdrückten Seiten zu leben und so in größerem Maße und auf bewußtere Weise als bisher letztlich Autor und Werk ihrer Selbst zu werden. Als möglicher Teil eines Prozesses der Selbstwerdung/Selbstfindung sollten diese Abläufe in einer zeitgemäßen Bildungstheorie Raum finden, denn die virtuelle Erfahrung als 'nur Spielerei' abzutun, hieße, die subjektiv wichtigen Erfahrungen, das Wachsen und sich Entwickeln mit Hilfe des virtuellen Raumes, wie sie in den Befragungen aufgezeigt wurden, zu leugnen.

Akzeptiert man jedoch die Berichte und Erfahrung der Nutzer des Cyberspace, so stellt dies auch die Sicht des Menschen in ein neues Licht. Die virtuelle Erfahrung verabschiedet sich endgültig von der Fixierung auf das Subjekt als abgeschlossene Einheit - auf das "einzige und ewige Ich" - und macht erfahrbar, was vor allem Foucault, aber auch viele andere schon längst geäußert hatten: zum einen, daß die fixierte Einheit des Subjektes ein überkommenes, oftmals lediglich dem Erhalt von Machtverhältnissen dienendes Konstrukt ist und zum anderen, und teilweise daraus resultierend, daß vielmehr Vielheit - mit den darin implizierten Brüchen und Widersprüchen - nicht nur gelebt und ausgehalten werden kann, sondern möglicherweise auch den Bedürfnissen des Menschen entgegenkommt, indem sie einengende Rollenmuster aufbricht und neue Freiheiten eröffnet. In sich selbst Vielheit positiv zu erfahren bedeutet gleichzeitig, auch für die Vielheit des anderen aufgeschlossener zu werden, sie nicht länger als etwas bedrohliches wahrzunehmen: darin kann etwas befreiendes liegen, das über den Einzelnen auch ins gesellschaftliche hineinwirkt.

Eine Bildungstheorie die sich mit diesem Bild des Individuums anfreundet, kann noch weniger als die Theorien vor ihr ein Patentrezept geben, das den Einzelnen auf den 'rechten' Weg führt. Insbesondere Angesichts der sich abzeichenden Entwicklung zu einer weiterhin zunehmenden Individualisierung im Medienkonsum, der ja vor allem außerhalb des klassischen pädagogischen Raumes stattfindet, sollte die Aufgabe der Pädagogik hier vor allem in der Vermittlung von Basisfertigkeiten und -fähigkeiten bestehen, die den Einzelnen dazu befähigen, kritisch mit den sich bietenden Möglichkeiten der Medien für die Selbstfindung umzugehen, ohne den egozentrischen Overkill entstehen zu lassen, der die Bedürfnisse des Individuums so hoch stellt, daß die Ansprüche der Gesellschaft an den Einzelnen vollständig vernachlässigt werden.

Es wird in zunehmendem Maße unmöglich sein, zu kontrollieren, welche Art von Information der Einzelne, insbesondere Kinder oder Jugendliche, im Internet beziehen. Um so wichtiger ist es, dem Einzelnen zu vermitteln, daß es eine Wahl gibt, daß nicht alles, was geschrieben oder abgebildet ist, zu billigen oder zu glauben ist, daß kritisches Hinterfragen vonnöten ist; dies gilt bereits für die vorherrschenden Medien, doch gewinnt dieses Anliegen, angesichts der Flut an Information, auf die der Einzelne als einzelner zugreift, im Internet zusätzliche Brisanz. Hier kann nur eine ästhetische Bildung, eine Wahrnehmungsbildung im Sinne einer Hinführung zu einer umfassenden aisthesis wie sie Welsch (1960) skizziert , vor einem unreflektierten Komsumieren von Information und vor einer Informationsüberflutung, einer abgestumpften, empfindungslosen Anästhetik schützen; eine solche Anästhetik kann sich ansonsten, entstehend in der vorherrschenden medialen Überflutung, in sozialer Desensibilisierung, oder gar in der Abwendung von der im Vergleich zur glitzernd-bunten Medienwelt "uneigentlichen, sekundären, scheinhaft-farblosen Realität"(Welsch 1960) niederschlagen.

Die Konsequenz aus der Erfahrung einer durch und durch ästhetisierten Welt muß sein, den Ästhetikbegriff zu erweitern auf seine ursprüngliche, weitere, facettenreichere Bedeutung als eine "Thematisierung von Wahrnehmungen aller Art, sinnenhaften ebenso wie geistigen, alltäglichen wie sublimen, lebensweltlichen wie künstlerischen"(Welsch 1960) . Aus diesem Ästhetikbegriff heraus gilt es auch für Pädagogen, zu agieren, wenn sie ihren Beitrag zu ästhetischer Bildung zu leisten versuchen und ein Bewußtsein für Wahrnehmung und die Strukturen von Wahrnehmungsphänomenen zu wecken. Da Selbst-Bildung wie gezeigt im Internet auch Autorschaft des Selbst und Teilhabe an der Autorschaft des Mediums bedeutet, liegt es nahe, in der Wahrnehmungsschulung nicht nur das von außen wahrgenommene, sondern auch die wahrnehmende Person zu betrachten und auch die Selbst-Wahrnehmung - in die ästhetische Bildung mit einzubeziehen. Ein kritischer Umgang mit dem Medium Internet bedeutet nicht nur, bezogene Information zu filtern, sondern auch, einen kritischen Blick auf das zu werden, was man selbst mit diesem Medium und innerhalb dieses Mediums anstellt; für die pädagogisch handelnden gilt es, dies gilt es zu vermitteln.

Da Kontrolle nicht möglich - und auch nicht immer wünschenswert - ist, können Pädagogen in diesem Zusammenhang nur Berater sein, die auf möglichst viele Situationen vorbereiten, indem sie das Wissen um die Struktur von Wahrnehmung und zum Beispiel die Struktur der einzelnen Medien vermitteln, indem sie - in Theorie und Praxis - zu einer sinnvolle Medienpraxis anleiten, vor allem aber, indem beratend zur Verfügung stehen. Es gilt, dem Einzelnen den Gleichgewichtssinn zu vermitteln für den Balanceakt zwischen Selbstverwirklichung - im virtuellen Raum wie im richtigen Leben, denn wie die bislang gemachten Erfahrungen zeigen, greifen diese ineinander über - und dem Funktionieren im sozialen Gefüge des RL.

Ethische und Ästhetische Grundlagen - im Sinne einer Schulung und Schärfung der Wahrnehmung - im Sinne eines der Abstumpfung und der Anästhetisierung entgegenwirkenden Bemühens, nicht im Sinne einer Verordnung von 'gutem Geschmack', in die falsch verstandene Ästhetikbegriffe münden können - im weiteren Sinne also eine umfassende, den gegebenen Realitäten angemessene ästhetische Bildung sollten daher vornehmlich Ziel und Inhalt des pädagogischen Eingreifens im Zusammenhang mit dem Internet sein. Nur so kann gewährleistet werden, daß der Einzelne in diesem neuen Sinne mündig sich entwickelt und aus-bildet: daß er in einer so stark medial geprägten Welt bewußt das Medium sich aneignet und es zu seinem Vorteil, seiner Bildung im weitesten Sinne, nutzt, ohne sich in der Flut der Möglichkeiten zu verlieren.

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