Mitreißend: Herbert Grönemeyer im Braunschweiger Stadion

Harte Schicht für den Rock-Malocher

Von Martin Jasper
Halb neun. Das Stadion brütet noch in der Hochsommerhitze. Tief im Westen versackt die Sonne im Dunst. Plötzlich quillt Nebel aus den Ritzen zwischen den Vorhangbahnen der gewaltigen Bühne. Nervös pulsierende Drumrhythmen, dumpf peitschender Baß. Dann fällt der Vorhang, und er ist da. Ohne große Show. Läuft am Bühnenrand auf und ab wie ein Raubtier im Käfig. Mühsam gebändigte Energie. Grönemeyer in Braunschweig.
Wie ist der Mann drauf - Frau und Bruder gerade durch Krebs verloren und mit diesem Ballast wochenlang auf kraft- und nervenraubender Tour? Um es gleich zu sagen: Dieser Abend ist unergiebig für Seelenvoyeure und Küchenpsychologen. Nach dem ersten Lied "Nach mir" sagt Grönemeyer, was er bei jedem Konzert seiner "Alles bleibt anders"-Tournee gesagt hat: "Trauern, aber nicht leiden - so hätte Anna es gewollt - deshalb bin ich heute hier." Knapp, unsentimental. Einfach eine notwendige Information. Und dann läßt die Raubkatze ihren Energien freien Lauf.
Was Grönemeyer abliefert, ist ein engagiertes, geradliniges, hartes Konzert, ohne Mätzchen, ohne übermäßig viel Raffinesse, aber mit mitreißender Steigerung gegen Ende. Seine Band schafft ihm dazu eine Basis aus solidem Gitarrenrock, dynamisch wenig differenziert und arm an musikalischen Überraschungen, aber mit unheimlich viel Drive und rhythmisch sehr variabel. Herausragend der Saxophonist, der mit seinem klaren, schnörkellosen Tenorton und der aggressiven Phrasierung fast eine instrumentale Version von Grönemeyers Stimme abgibt und sich in seinen besten Momenten spannungsvolle Duelle mit dem Sänger liefert.
Es wird eine schwere Schicht für den ehrlichen Rock-Malocher. Grönemeyer rackert sich ab. Rennt über einen Steg auf die Fans zu, brüllt ihnen kehlig seine Songfetzen zu, stampft mit den Füßen, reißt die Arme hoch, tobt, belfert, schreit, fällt vom Dröhn-Staccato ins Satchmo-Knarzen, vom ruppigen Falsett ins sonore Röhren (wobei mitunter, vor allem in den weniger melodischen Passagen, dieser heftige Stimm-Ausstoß eine etwas brachiale teutonische Wucht bekommt).
Das "relativ bekannte Lied" (O-Ton) "Alkohol" wird zum ersten exzessiven Höhepunkt des Abends. Zu Grönemeyers Mißfallen bleibt allerdings die Mitsing-Phonzahl der Braunschweiger - die ja zum Großteil nicht bloß seinetwegen ins Stadion gekommen sind - recht mickrig. "Hat Euch das Spiel wenigstens gefallen?", fragt er leicht indigniert - und meint die Lions.
In die ersten verstreuten Herbie-Herbie-Rufe läßt er von seinem Keyboard melancholische Akkorde tropfen: "Ich dreh mich um dich", den Hit seiner neuen CD, dieses anrührende Beisteh-Lied. Aber auch hier kein Weichspül-Sound, kein Druck auf die Tränendrüsen. Herbie, der Meister des einsilbigen Gesangs (weil er den Silbenrest längerer Wörter sowieso verschluckt), haut's raus, wie wir ihn kennen: Herb, rockig, rumpelig - und doch durchzogen von einem Unterstrom beinahe trotziger Traurigkeit.
A propos: "Männer" knallt er bald hinterher. Überhaupt eine kluge Mischung aus den gewöhnungsbedürftigen Titeln des neuen Albums und den alten Krachern, die das inzwischen aufgelockerte Publikum schon beim Intro mit Jubel begrüßt und sodann selig mitsingt.
Grönemeyers Bühnengebaren habe "ungefähr den Sex-Appeal eines Oskar Lafontaine auf dem Trimm-Dich-Pfad", lästerte jüngst die Süddeutsche Zeitung. Das ist Schmäh. Dennoch verrät seine immer noch etwas hölzerne Körpersprache, daß der Mann kein geborener Massenperformer ist. Um so respektabler die ungeheure Intensität, in die er sich im üppigen Zugabenteil steigert. Da entfaltet im tintenblauen Sommerabend der unspektakuläre, aber effektive Bühnezauber aus rhythmischen Scheinwerfergarben, blaugrünem Laserlicht und rasenden Projektionen seine suggestive Wirkung. Und der Star packt sein Publikum. Er reißt es mit bis an die Grenzen der Ekstase.
Ob beim zartbitter geschnodderten "Bloß geliebt" die Feuerzeuge und Wunderkerzen wabern, ob bei den Fetzern "Sie mag Musik nur, wenn sie laut ist" und "Kinder an die Macht" die Massen lustvoll gegen die magenschlagenden Bässe anschmettern, oder ob bei der poetischen "Marie" die schwankenden Arme im Bühnenlicht aussehen wie ein Feld überdimensionaler Ähren im Wind - das Konzert bekommt seine unvergeßliche Atmosphäre.
"Ihr habt euch ja erst sehr langsam angewärmt", ruft der abgekämpfte Rocker am Ende, "aber dann wurde es noch ein richtiger Klasse-Abend!" Das haut hin, Herbie.