Guy de Maupassant
Das Glück
Es war Teezeit, noch bevor die Lampen hereingebracht wurden. Hoch ragte
die Villa über die See, die entschwundene Sonne hatte den Himmel ganz
rosa und mit Goldstaub überhaucht zurückgelassen, und das Mittelmeer,
regungslos und glatt, leuchtete noch einmal auf, da der Tag hinstarb. Es
glich einer ungeheuer großen, schimmernden Metallscheibe.
Weit in der Ferne zeichneten zur Rechten die gezackten Berge ihr schwarzes
Profil auf den verblaßten Purpur des Westens.
Man plauderte über die Liebe, man erörterte dieses alte Thema,
man sagte wieder Dinge, die man schon sehr oft gesagt hatte. Die milde
Melancholie der Abenddämmerung verlangsamte die Worte, ließ
eine Rührung in den Seelen aufkommen, und dieses Wort "Liebe", das
unaufhörlich wieder kam, bald von einer festen Männerstimme ausgesprochen,
bald von einer Frauenstimme mit leichtem Klang gesagt, schien den kleinen
Salon zu erfüllen, hier wie ein Vogel herumzuflattern, dort wie ein
Geist zu schweben.
Kann man mehrere Jahre hindurch ohne Unterbrechung lieben?
"Ja", gaben die einen vor. "Nein", behaupteten die anderen.
Man unterschied die Fälle, man zog Abgrenzungen, man zitierte
Beispiele. Und alle, Männer und Frauen, überließen sich
ihren plötzlich auftauchenden Erinnerungen, die sie nicht anführen
konnten und die ihnen doch auf die Lippen kamen. Sie sprachen über
diese gewöhnliche und mächtige Sache, über die zarte und
geheimnisvolle Übereinstimmung zweier Wesen, mit tiefer Bewegung und
glühender Anteilnahme.
Aber plötzlich rief einer, der die Augen in die Ferne gerichtet
hatte, aus:
"Ah, schauen Sie, was ist das dort drüben?"
Auf dem Meere tauchte am fernen Horizont eine ungeheure und verschwommene
graue Masse auf.
Die Frauen hatten sich erhoben und betrachteten dieses überraschende
Schauspiel, das sie noch nie gesehen hatten.
Irgendeiner sagte: "Es ist Korsika! Man erblickt es so zwei- oder dreimal im Jahr unter
bestimmten atmosphärischen Bedingungen, wenn die Luft von vollkommener
Klarheit ist und jene leichten dunstigen Nebel, die immer die Fernen verschleiern,
die Insel nicht mehr verbergen."
Man unterschied unbestimmt die Bergrücken, man glaubte den Schnee
der Gipfel zu erkennen. Und alle waren überrascht, verwirrt, beinahe
erschreckt durch diese plötzliche Erscheinung einer Welt, durch dieses
aus dem Meer gestiegene Phantom.
Da äußerte sich ein alter Herr, der noch nicht gesprochen
hatte:
"Sehen Sie, ich habe auf dieser Insel, die sich vor uns erhebt, als
wollte sie selbst auf das, was wir sagten, antworten, ich habe da ein wunderbares
Beispiel einer beständigen Liebe gekannt, einer unwahrscheinlich glücklichen
Liebe.
Vor fünf Jahren unternahm ich eine Reise nach Korsika. Diese wilde
Insel ist unbekannter und von uns weiter entfernt als Amerika, obwohl man
sie manchmal, wie heute, von den Küsten Frankreichs aus sieht.
Stellen Sie sich eine Welt noch im Chaos vor, einen Wirbelwind von
Bergen, die enge Klüfte trennen, durch die Sturzbäche fließen;
keine Ebene, aber ungeheure Wogen aus Granit und riesige Erdwellen, mit
Gebüsch oder hohen Kastanien- und Föhrenwäldern bedeckt.
Es ist ein jungfräulicher Boden, ungepflegt und verlassen, obwohl
man manchmal einen Weiler oder ein Dorf gleich einem Haufen Felsen auf
einem Berggipfel wahrnimmt. Kein Ackerbau, keine Industrie, keine Kunst.
Man stößt niemals auf ein Stück bearbeiteten Holzes, ein
Stückchen behauenen Steines, niemals auf zierliche und schöne
Dinge, die an den kindlichen oder verfeinerten Geschmack der Vorfahren
erinnern.
Italien, wo jeder Palast voll von Meisterwerken, ja selbst ein Meisterwerk
ist, wo der Marmor, das Holz, die Bronze, das Eisen, die Metalle und Steine
das Genie des Menschen bezeugen, wo die kleinsten antiken Gegenstände,
die in den alten Häusern herum. liegen, die göttliche Sorge um
Anmut enthüllen, Italien ist für uns alle das heilige Vaterland,
das man liebt, weil es uns die Anstrengung, die Größe, die Macht
und den Triumph schöpferischen Geistes zeigt.
Und ihm gegenüber ist das wilde Korsika so wie in seinen ersten
Tagen geblieben. Der Mensch lebt dort in seiner rohen Behausung, gleichgültig
gegenüber allem, was nicht seine Existenz oder seine Familienfehden
berührt. Und er ist so mit den Fehlern und Vorzügen der unkultivierten
Rassen geblieben, aufbrausend, jähzornig und blutdürstig, aber
auch gastfreundlich, freigebig und kindlich.
Seit einem Monat also irrte ich durch diese großartige Insel,
mit dem Gefühl, daß ich am Ende der Welt sei. Keine Gasthäuser,
keine Schenken, keine Landstraßen. Man erreicht auf Maultierpfaden
die Weiler, die an den Berghängen kleben und gewundene Abgründe
überragen, von wo man am Abend die dumpfe und tiefe Stimme des Sturzbaches
heraufsteigen hört. Man klopft an die Türen der Häuser.
Man bittet um Unterkunft für die Nacht und um etwas zum Leben bis
zum nächsten Tag. Und man setzt sich an den bescheidenen Tisch und
schläft unter dem bescheidenen Dach; am andern Morgen drückt
man dann die ausgestreckte Hand des Gastgebers, der einen noch bis zur
Grenze des Dorfes geführt hat.
Ich erreichte an einem Abend nach zehn Marschstunden eine kleine Behausung,
die einsam in einem engen, kleinen Tal lag. Die beiden steilen Berghänge,
mit Gebüsch, Felsen und großen Bäumen bedeckt, umschlossen
wie zwei dunkle Mauern diese beklagenswert traurige Schlucht.
Um die Hütte wuchsen einige Weinreben in einem kleinen Garten,
und weiter weg ein paar mächtige Kastanienbäume, die in dem armen
Land ein wahres Vermögen darstellen.
Die Frau, die mich empfing, war alt, ernst und ausnahmsweise sauber.
Der Mann, der auf einem Korbsessel saß, erhob sich, um mich wortlos
zu begrüßen, hierauf setzte er sich wieder. Seine Gefährtin
sagte mir:
»Entschuldigen Sie ihn, er ist taub. Er ist jetzt zweiundachtzig
Jahre alt.«
Sie sprach Französisch, wie man es in Frankreich spricht. Ich
war überrascht.
»Sie sind nicht aus Korsika?« fragte ich.
»Nein, wir kommen vom Festland; aber wir leben schon fünfzig
Jahre hier.«
Ein Gefühl der Beklemmung und Furcht packte mich bei dem Gedanken
an diese einsamen fünfzig Jahre. Ein alter Hirt kam herein, und man
machte sich daran, das einzige Gericht zu essen, eine dicke Kartoffelsuppe
mit Speck und Kohl.
Als die kurze Mahlzeit beendet war, setzte ich mich vor die Türe,
bedrückt durch die düstere Landschaft, ergriffen von der melancholischen
Stimmung, die manchmal die Reisenden an traurigen Abenden und an einsamen
Orten ergreift. Es scheint, als ob alles bald zu Ende sei, das Leben wie
auch die Welt. Man durchschaut plötzlich das schreckliche Elend des
Lebens und die dunkle Einsamkeit des Herzens, das sich in Träumen
wiegt und sich bis zum Tod betrügt.
Die alte Frau setzte sich zu mir, und gequält durch diese Neugierde,
die immer noch in den entsagenden Seelen lebt, fragte sie:
»Sie kommen aus Frankreich, nicht wahr?«
»Ja, ich reise zu meinem Vergnügen.«
»Sind Sie vielleicht aus Paris?«
»Nein, ich bin aus Nancy.«
Es schien mir, daß sie eine außerordentliche Erregung ergriffen
hätte.
Sie wiederholte mit langsamer Stimme:
»Sie sind aus Nancy?«
Der Mann erschien an der Tür, teilnahmslos wie taube Menschen
es sind.
Sie begann wieder:
»Kümmern Sie sich nicht um ihn, er hört nichts.«
Dann, nach einigen Sekunden:
»Sie kennen also Leute in Nancy?«
»Ja, fast Jedermann.«
»Die Familie Saint-Allaize?«
»O ja, sehr gut; sie waren Freunde meines Vaters.«
»Wie heißen Sie?«
Ich sagte meinen Namen. Sie betrachtete mich starr, dann sprach sie
mit jener leisen Stimme, die die Erinnerungen wachrufen, aus:
»Jaja, ich erinnere mich gut. Und die Brisemare, was ist aus
ihnen geworden?«
»Sie sind alle gestorben.«
»Ah, und die Sirmont, Sie kannten sie?«
»Ja, der letzte ist General.«
Nun sagte sie, zitternd vor Aufregung, Angst und ich weiß nicht
welch verworrenem, mächtigem und heiligem Gefühl, aus ich weiß
nicht welchem Verlangen heraus zu gestehen, alles zu sagen, von all dem
zu sprechen, was sie bis jetzt im Grunde ihres Herzens verschlossen gehalten
hatte.
»Ja, Henri de Sirmont! Ich weiß es wohl. Er ist mein Bruder.«
Und ich hob die Augen zu ihr auf, außer mir vor Erstaunen. Und
plötzlich erinnerte ich mich wieder.
Es hatte einst einen großen Skandal im adeligen Lothringen gegeben.
Ein schönes und reiches Mädchen, Suzanne de Sirmont, war von
einem Husaren-Unteroffizier des Regimentes, das ihr Vater befehligte, entführt
worden.
Es war ein hübscher Junge, ein Bauernsohn, dem aber der blaue
Dolman gut stand. Sie hatte ihn zweifellos gesehen, bemerkt; geliebt, als
sie die Schwadronen defilieren sah. Aber wie hatte sie mit ihm gesprochen,
wie hatten sie sich sehen und verstehen können? Wie hatte sie es gewagt,
ihm zu verstehen zu geben, daß sie ihn liebte?
All das erfuhr man nie.
Man hatte nichts geahnt, nichts vorhergefühlt. An einem Abend,
als der Soldat seine Dienstzeit beendet hatte, verschwand er mit ihr. Man
suchte sie, man fand sie nicht wieder. Man bekam von ihnen niemals Nachricht
und hielt sie für tot.
Und ich fand sie in dieser unheimlichen Talschlucht.
Nun sprach ich.
»Ja, ich erinnere mich wohl. Sie sind Fräulein Suzanne.«
Sie nickte 'ja' mit dem Kopfe. Tränen stürzten aus ihren
Augen. Sie zeigte mit einem Blick auf den unbeweglichen Greis und sagte:
»Der ist's.«
Und ich verstand, daß sie ihn immer noch liebte und ihn mit ihren
verzauberten Augen sah. Ich fragte:
»Sind Sie wenigstens glücklich gewesen?«
Sie antwortete mit einer Stimme, die von Herzen kam:
»O ja, sehr glücklich. Er hat mich sehr glücklich gemacht.
Ich habe nie etwas bedauert.«
Ich betrachtete sie traurig, erstaunt, verwundert über die Macht
der Liebe. Dieses reiche Mädchen war einem Bauern gefolgt. Sie war
selbst zur Bäuerin geworden. Sie hatte sich in ein Leben ohne Luxus,
sie hatte sich seinen einfachen Gewohnheiten gefügt. Und sie liebte
ihn immer noch. Sie war eine Bäuerin mit Kopftuch und Leinenkittel
geworden. Sie aß aus einer irdenen Schüssel an einem Holztisch
und saß dabei auf einem Strohsessel. Sie schlief auf einem Strohsack
an seiner Seite.
Sie hatte nur an ihn gedacht! Nie hatte sie Schmuckstücke oder
Stoffe, noch die weichen Stühle oder die parfümierte, lässige
Atmosphäre der Salons, noch die schmiegsamen Daunen, in die die Körper
zum Ausruhen sinken, vermißt. Sie hatte immer nur nach ihm Verlangen
getragen.
Ganz jung, hatte sie das Leben und die Gesellschaft und jene, die sie
erzogen und geliebt hatten, verlassen. Sie war allein mit ihm in diese
wilde Schlucht gekommen, und er war alles für sie gewesen, alles,
was man ersehnt, alles, von dem man träumt, alles, was man ohne Unterlaß
erwartet, alles, was man ohne Ende er. hofft. Er hatte ihr Sein vom Anfang
bis zum Ende mit Glück erfüllt.
Sie hätte nie glücklicher sein können.
Und die ganze Nacht dachte ich an dieses seltsame Erlebnis, an dieses
so vollkommene und einfache Glück, während ich das schwere Atmen
des alten Soldaten hörte, der auf seiner elenden Lagerstätte
an der Seite jener lag, die ihm auf so weitem Wege gefolgt war.
Und ich schied bei Sonnenaufgang, nachdem ich die Hand der beiden alten
Eheleute gedrückt hatte."
Der Erzähler schwieg. Eine Frau meinte:
"Was bedeutet das schon? Sie hatte ein leicht erreichbares Ideal, zu
primitive Bedürfnisse und zu einfache Forderungen. Das konnte nur
eine dumme Gans sein."
Eine andere sprach mit langsamer Stimme:
"Das macht nichts aus, sie war glücklich."
Und weit draußen am Horizont versank Korsika in der Nacht, kehrte
langsam wieder ins Meer zurück, verwischte seinen großen Schatten,
der aufgetaucht war, wie um selbst die Geschichte zweier demütig Liebender,
die sein Gestade beherbergte, zu erzählen.
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