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Wissenschaftstheorie

- Zusammenstellung von Dorthe Lübbert -


Achtung:

Dies ist meine private Diplomklausurvorbereitung-Endzusammenfassung, und ich kann für Richtigkeit nicht 100%ig garantieren!
Wenn euch dieser Text nützlich erscheint, würde ich mich über ne gaaanz kurze E-Mail freuen.


Inhaltsverzeichnis

1 Entwicklung von Wahrheitstheorien (Empirismus, Rationalismus)

1.1 Wahrheit
1.2 Empirismus im angelsächsischen Raum:
1.3 Der Rationalismus in Frankreich

2 Induktivismus

2.1.1 Kritik am Induktivismus
2.1.2 Kritik: Induktivismus und Beobachtung
2.1.3 Lösungsansätze für das Induktionsproblem

3 Konventioneller/naiver Falsifikationismus

3.1 Grundlagen
3.1.1 Falsifizierbarkeit, Eindeutigkeit und Präzision
3.1.2 Falsifikationismus und wissenschaftlicher Fortschritt
3.1.3 Ad hoc-Modifikationen
3.1.4 Bewährung im Falsifikationismus
3.1.5 Kühnheit, Neuartigkeit und Hintergrundwissen
3.1.6 Unhaltbarkeit des naiven Falsifikationismus
3.1.7 Basissatzproblem
3.1.8 Raffinierter Falsifikationismus

4 Radnitzkys fallibilistisch-kritizistisch-präferenzalistische Methodologie

5 Lakatos Forschungsprogramm

5.1.1 Die Lakatosschen Forschungsprogramme
5.1.2 Die Methodologie innerhalb eines Forschungsprogramms
5.1.3 Forschungsprogramme im Vergleich

1 Entwicklung von Wahrheitstheorien (Empirismus, Rationalismus)

Mit dem Verschwinden von Offenbarungswissen kommt es zu Säkularisierung (Verweltlichung) als Basis zur Begründung von Wissen. Es entwickeln sich zwei erkenntnistheoretische Hauptströmungen, nämlich vornehmlich im angelsächsischen Bereich der Empirismus, sowie auf dem Kontinent (insbesondere Frankreich) der Rationalismus.

1.1 Wahrheit

Wahrheit ist ein metaphysischer Begriff.

Um von Wahrheit sprechen zu können, müssen drei Voraussetzungen erfüllt sein:

1. Der Sachverhalt, der als wahr klassifiziert wird, darf nicht empirisch sein. Bei den Begriffen "Stuhl" oder "Waschmaschine" stellt sich die Frage nach der Wahrheit nicht.

2. Die Sprache muß eindeutig sein. Das wiederum setzt voraus, daß die Sprachelemente im vornherein eindeutig definiert sind.

3. Ein Problembezug muß vorliegen, d.h. Theorie muß sich auf Probleme, nicht Sachen, beziehen.

Wahrheit im Sinne der analytischen Wissenschaftsheorie bedeutet nicht Letztbegründung, nicht endgültige Wahrheit.

Die Korrespondenztheorie der Wahrheit gibt eine äußerst einfache Antwort auf die Frage, wann eine Aussage die Eigenschaft habe, wahr zu sein: Eine Aussage ist genau dann wahr, wenn sie mit den Sachverhalten, auf die sie sich bezieht, übereinstimmt, wenn sie also mit ihnen korrespondiert. Eine Meta-Aussage ist eine Aussage über einen Sachverhalt, der selbst eine Aussage ist, deren Übereinstimmung mit jenem Sachverhalten festgestellt werden soll.

1.2 Empirismus im angelsächsischen Raum:

Die Vertreter des angelsächsischen Empirismus (John Locke, David Hume) behaupten, daß man letztlich nur durch Erfahrung, d.h. Sinneswahrnehmung auf induktivem Wege zu Wissen kommen könnte. Erkenntnis ist nur a posteriori möglich, also erst, nachdem unverzerrte, reine Erfahrungen gemacht wurden. Sinneswahrnehmungen durch Beobachtungen und Experimente bilden die Basis des Wissens. Der klassische Empirismus verzichtet also auf vorformulierte Theorien, er versucht, ohne metaphysische Grundlage die Welt in Sprache zu überführen und dann zu manipulieren, also Einfluß auf die Welt zu nehmen.

Unmittelbar mit dem Empirismus ist das Experiment als Methode entwickelt werden, das universelle Gesetzesaussagen der Art "Wenn a eintrifft, folgt daraus B" ermöglichen soll.

1.3 Der Rationalismus in Frankreich

Die Vertreter des Rationalismus (Decarte, von Leibnitz) sind demgegenüber der Ansicht, daß Wissen über die Welt letztlich durch klares, vernünftiges Denken, also durch reine Spekulation Intellektualismus), gewonnen werden könne. Die Grenzen der Erfahrungswelt könnten gewissermaßen überschritten werden, weil es (vornehmlich in einem metaphysischen Sinne) angeborene Ideen gebe. Erkenntnis sei a priori möglich, also vor jeder Erfahrung. Von den intuitiv erfaßten allgemeinen Wahrheiten, den Prinzipien könne man auf deduktive Weise zu weiteren Erkenntnissen gelangen.

2 Induktivismus

Die Grundlage des naiven Induktivismus ist die Beobachtung. Konventionelle, naive Induktivisten gehen von drei Annahmen aus.

Die erste Annahme der Induktivisten ist es, daß Beobachtung sicherere Grundlage für den Aufbau wissenschaftlicher Erkenntnis ist.

Beobachtung wird nicht im Sinne von "Hinsehen" verstanden, Beobachtung im Sinne der Induktivisten impliziert, daß keine vorgefaßten Meinungen, Theorien, keine Stereotypen Einfluß finden. Beobachtung soll theoriefrei sein. Induktivismus richtet sich also gegen vorgefaßte Theorien.

Die zweite Annahme der Induktivisten besagt, daß wissenschaftliche Erkenntnis aus den Beobachtungsaussagen induktiv abgeleitet wird.

Die dritte. Annahme der Induktivisten legt fest, daß keine Beobachtungsaussage im Widerspruch zu dem entsprechenden Gesetz stehen darf.

Das Prinzip des Induktivismus ist es, von wenigen beobachteten Fällen auf viele zu schließen. Das Induktionsprinzip für den naiven, konventionellen Induktivismus läßt sich folgendermaßen definieren: Wenn eine große Anzahl A's unter einer großen Vielfalt von Bedingungen beobachtet wird, und wenn alle diese beobachteten A's ohne Ausnahme die Eigenschaft B' besitzen, dann besitzen alle A's die Eigenschaft B. Als induktives Schließen bezeichnet man also, wenn man aus einer begrenzten Anzahl von Einzelaussagen zu einer allgemeinen Aussage kommt.

2.1.1 Kritik am Induktivismus

Das Induktionsprinzip kann nicht mit Hilfe der Logik begründet werden, es ist nicht logisch, sondern psychologisch. Induktive Aussagen sind keine logisch gültigen Beweise, bei n Beobachtungen gibt es keinen logischen Beweis, daß die (n+1)-et Beobachtung nicht völlig anders ist. er Induktionsschluß ist somit sachlich falsch.

Die Induktionsstatistik weiß nichts über die Grundgesamtheit, versucht aber, auf sie zu schließen, was nicht funktionieren kann: Der Schluß von endlich auf unendlich ist nicht möglich.

Induktivisten behaupten, daß die induktivistische Beweisführung bei vielen Beispielen, z.B. in der Optik, erfolgreich angewendet wurde. Sie behaupten:

Das Induktionsprinzip war erfolgreich bei der Gelegenheit x1
Das Induktionsprinzip war erfolgreich bei der Gelegenheit x2
Das Induktionsprinzip ist immer erfolgreich

Dieser Beweis an sich aber ist induktiv und kann nicht angewendet werden, um das Induktionsprinzip zu rechtfertigen. Induktivismus, der bewiesen werden soll, wird vorausgesetzt. Dieses Problem heißt Induktionsproblem.

2.1.2 Kritik: Induktivismus und Beobachtung

Der Induktivist hat in Bezug auf die Annahme der "theoriefreien Beobachtung" in zweierlei Hinsicht unrecht:

1. Wissenschaft beginnt nicht mit Beobachtungsaussagen, weil ihnen allen irgendeine Theorie vorausgeht. Es existiert keine Theoriefreiheit, jede Beobachtung beruht auf Umwandlung psychologischer Wahrnehmungsprozesse, Denken spielt eine zentrale Rolle in vorbewußten Teil der Wahrnehmung. Die Theorie geht der wissenschaftlichen Wahrnehmung voraus, Beobachtung und Experimente werden ausgeführt, um eine Theorie zu überprüfen.

2. Beobachtungsaussagen bilden, da sie fehlbar sind, keine sichere Grundlage, auf der wissenschaftliche Erkenntnis aufgebaut werden kann

Die Induktivisten schreiben den Beobachtungsaussagen also einen falschen Stellenwert zu.

2.1.3 Lösungsansätze für das Induktionsproblem

1. "skeptischer Ansatz": Wir nehmen an, daß Wissenschaft auf Induktion beruht und Induktion nicht logisch erschlossen werden kann. Wissenschaft ist insgesamt nicht rational zu rechtfertigen, der Glaube an Gesetze und Theorien ist nichts weiter als pure Gewohnheit, die durch die Wiederholungen entsprechender Beobachtungen entstehen.

2. das Induktionsprinzip wird als unmittelbar einleuchtend, als selbstverständlich betrachtet.

Induktion als Grundlage der Wissenschaft wird in Abrede gestellt, es wird nachgewiesen, daß wissenschaftliche Induktion nicht notwendig ist (macht z.B. Karl Popper)

3 Konventioneller/naiver Falsifikationismus

3.1 Grundlagen

Der Falsifikationismus geht davon aus, daß Beobachtung theoriegeleitet ist und Theorie voraussetzt. Er verzichtet auf den Anspruch, daß Theorien auf der Basis von Beobachtung als wahr oder wahrscheinlich wahr betrachtet werden können, so überwindet er die Probleme des Induktivismus.

Nicht die Wahrheit von Theorien wird beweisen, sondern die Falschheit. Theorien können als falsch nachgewiesen werden, wenn entsprechende Befunde aus Beobachtung und Experiment vorliegen: die Falschheit von allgemeinen Aussagen kann von entsprechenden Einzelaussagen abgeleitet werden. Jede wissenschaftliche Hypothese muß falsifizierbar sein.

Theorien sind spekulative und vorläufige Vermutungen, die der Mensch bei dem kühnen Versuch entwirf, Probleme, die vorangegangene Theorien aufgeworfen haben, zu überwinden und um eine adäquate Erklärung des Verhaltens einiger Aspekte der Welt oder des Universums zu erhalten.

Spekulative Theorien müssen rigoros und nach strengen Kriterien durch Beobachtung und Experiment überprüft werden.

3.1.1 Falsifizierbarkeit, Eindeutigkeit und Präzision

Eine Theorie wird mit zunehmender Falsifizierbarkeit besser, da die Ansprüche umfassender werden. Eine sehr gute Theorie ist eine Theorie, die sehr umfassende Aussagen über die Welt macht, die folglich in hohem Maße falsifizierbar ist und die stets einer Falsifizierbarkeit standhält.

Hohe falsifizierbare Theorien sollten weniger falsifizierbaren vorgezogen werden, vorausgesetzt, sie werden nicht tatsächlich falsifiziert.

Theorien, die falsifiziert werden, müssen grundsätzlich zurückgewiesen werden. Wissenschaft besteht darin, hoch falsifizierbare Hypothesen vorzuschlagen, sowie hartnäckig und ganz bewußt zu versuchen, sie zu falsifizieren. Theorien müssen eindeutig und präzise formuliert sein, um sie dem Risiko der Falsifizierbarkeit unterwerfen zu können.

3.1.2 Falsifikationismus und wissenschaftlicher Fortschritt

Wissenschaft macht Fortschritte durch Versuch und Irrtum, durch Vermutungen und Widerlegungen. Nur die besten Theorien überleben. Falsifikationisten verstehen unter dem Fortschritt der Wissenschaft den Kreislauf von der Erstellung von falsifizierbaren Hypothesen Überprüfung bei erfolgter Falsifizierung ist ein neues Problem aufgetaucht, das bereits ein Stück weiter vom Ausgangsproblem entfernt ist neue Hypothesen müssen wg. des neuen Problems aufgestellt werden neue kritische Überprüfung usw.

Für den Falsifikationisten besteht wissenschaftliche Tätigkeit also aus dem Versuch, Theorien zu falsifizieren, indem das Zutreffen von Beobachtungsaussagen nachgewiesen wird, die mit den Theorien unvereinbar sind.

Man kann niemals von einer Theorie behaupten, daß sie wahr ist, wie gut sie auch rigoroser Überprüfung standgehalten hat, aber es kann hoffentlich gesagt werden, daß eine gegenwärtige Theorie der vorangegangenen in dem Sinne überlegen ist, daß sie den Überprüfungen standhalten kann, durch die die vorherigen falsifiziert werden.

3.1.3 Ad hoc-Modifikationen

Ad hoc-Modifikationen sind Modifikationen einer Theorie, wie das Hinzufügen einer zusätzlichen Annahme oder eine Veränderung irgendeiner bestehenden Annahme, die keine weiteren überprüfbaren Konsequenzen hat als die nicht modfizierte Theorie.

Falsifikationen schließen Ad-hoc-Modifikationen aus, weil Fortschritt in den Augen der Falsifikationisten ein Mehr an Informationen, eine umfassendere Theorie, voraussetzt. Ad-Modifikationen schränken die Theorie aber ein. Ad-hoc-Modifikationen führen zu keinen neuen Überprüfungen.

3.1.4 Bewährung im Falsifikationismus

Fortschritt im Sinne der Falsifikationisten bedeutet, daß auch kühne Vermutungen vorgeschlagen werden können, die in hohem Maße falsifizierbar sind, gefolgt von rigorosen Versuche, die neuen Vorschläge zu falsifizieren. Ad-hoc-Hypothesen sollen verworfen werden.

3.1.5 Kühnheit, Neuartigkeit und Hintergrundwissen

Eine Vermutung ist kühn, wenn dasjenige, was sie behauptet, angesichts des Hintergrundwissens dieser Zeit unwahrscheinlich ist.

Die Bewährung einer kühnen Vermutung hat die Falsifikation eines Teils des Hintergrundwissens zur Folge, hinsichtlich dessen die Vermutung kühn war.

3.1.6 Unhaltbarkeit des naiven Falsifikationismus

Der naive Falsifikationismus ist unhaltbar, er beruht auf zwei falschen Annahmen:

Die erste Annahme lautet, daß es eine natürliche, psychologische Grenze zwischen theoretischen, spekulativen Sätzen auf der einen Seite und empirischen oder Beobachtungssätzen (oder Basissätzen) auf der anderen Seite gibt. Diese Annahme ist falsch, es gibt und kann keine Wahrnehmung geben, die nicht von Erwartungen durchsetzt ist, und deshalb gibt es auch keine natürliche (d.h. psychologische) Abgrenzung zwischen Beobachtungssätzen und theoretischen Sätzen".

Die zweite Annahme besagt, daß ein Satz, der das psychologische Kriterium der Faktizität oder des Beobachtungcharakters (Basischarakters) befriedigt, auch wahr ist, man kann sagen, daß er durch Tatsachen bewiesen wurde. Aber: Keine Tatsachenaussage kann jemals auf Grund eines Experiments bewiesen werden, Sätze lassen sich nur aus anderen Sätzen herleiten, aus Tatsachen und Erfahrungen folgen sie nicht. Da Tatsachenaussagen unbeweisbar sind, sind sie auch fehlbar. Alle Sätze der Wissenschaft sind theoretisch und fallibel."

3.1.7 Basissatzproblem

Die Frage "Wann ist es rational, einen wissenschaftlichen Satz zu akzeptieren" ist die Zentralfrage der Begründungsphilosophie, und ihrer Unterabteilung der positivistischen Methodologie.

Aber auch der klassische Falsifikationismus schlägt vor, Theorien aufgrund unumstößlicher empirischer Daten zu prüfen, was logisch problemlos zu sein scheint. Nur, wenn wahre Beboachtungsaussagen gegeben sind, dann ist es möglich, die Falschheit von allgemeinen Aussagen logisch abzuleiten.

Sätze können also durch Erfahrung als wahr festgestellt werden. Erfahrung beruht aber auf Beobachtung, so daß sich wiederum die Frage stellt, ob und wie Beobachtungssätze eine sichere Basis bilden können. Jede Beobachtung ist von fehlbar (Begründung: siehe Induktivismus). D.h., wenn eine Theorie oder ein Teilaspekt einer Theorie mit einer Beobachtungsaussage im Widerspruch steht, kann folgerichtig auch die Beobachtungsaussage falsch sein.

Wie also kann man den Einsatz von Beobachtungssätzen rechtfertigen? Die Antwort der Begründungsphilsophen lautet, daß man annimmt, daß es gewisse Arten von Beobachtungssätzen gibt, deren Wahrheit mit Gewißheit erkannt werden kann. Basissätze werden also durch Konvention der scientific communitic festgelegt.

Dagegen spricht, daß Wahrnehmungserlebnisse sprachlich formuliert werden müssen, damit sie für die Wissenschaft verwendbar und intersubjektiv kritisierbar sind. Sprache bringt aber bereits einen begrifflichen Rahmen mit sich. Und: Wenn die Theorien, die notwendig sind, um die (verbalisierten Beobachtungen gleich) Meßinstrumente konstruieren zu können, fallibel sind, dann müssen auch die Datensätze fallibel sein.

Die Begründungsphilosophen argumentieren dagegen, daß die Beobachtungssätze in einer vortheoretischen Sprache abgefaßt sind und sind somit von Theorien unabhängig. Dieses Argument ist wiederum nicht überzeugend, denn es gibt keine singulären Sätze, die von der Beeinflussung durch theoretische Annahmen völlig frei.

Um dieses Problem zu umgehen, haben die kritischen Rationalisten den klassischen oder "naiven" Falsifikationismus zu einem methodologischen Falliblismus/Falsifikationismus weiterentwickelt: Theorien werden immer unter expliziter oder impliziter Zuhilfenahme von Hintergrundtheorien überprüft, die erst die Formulierung von Basissätzen ermöglichen und deren Relevanz festlegen.

Schema des Kommunikationsmodells Basissätze werden nicht aus reinen Fakten, sondern durch theoriegeprägte Wahrnehmungen von Fakten gebildet.

Wie die Abbildung zeigt, wird die zwischen der Realität und einem Basissatz bestehende Beziehung von (psychologischen) Wahrnehmungstheorien beeinflußt. Die Beziehung zwischen einer Aussage der Theorie und dem Basissatz wird demgegenüber von Beobachtungstheorien (Meßtheorien) bestimmt. In diesem Überprüfungsmodell trifft die Theorie nicht mehr auf die ungefilterte Realität, sondern auf andere fehlbare Theorien.

Tritt allerdings nun eine Kritik in Widerspruch zu einem bestimmten Basissatz, stehen mehrere Möglichkeiten zur Verfügung, diese Inkonsistenz zu beseitigen. Man kann entweder den Basissatz (d.h. die Wahrnehmungstheorie), die Beobachtungstheorie, aber auch die empirische Theorie als falsch verwerfen. Was letztlich als "falsifiziert" betrachtet wird, liegt im Ermessen des Forschers. Diese Entscheidung soll rational begründbar und fortschrittsfördernd sein.

3.1.8 Raffinierter Falsifikationismus

Der raffinierte Falsifikationismus unterscheidet sich vom naiven Falsifikationismus durch seine Regeln des Akzeptierens (oder das "Abgrenzungskriterium") und seine Regeln des Falsifizierens oder Eliminierens.

Der raffinierte Falsifikationist sieht die Unzulänglichkeit dieses Vorgehens und erkennt an, daß sowohl das Bestätigen von spekulativen, neuen Theorien, als auch das Falsifizieren von bewährten Theorien eine entscheidende Rolle spielt

Im Gegensatz zum naiven Falsifikationismus kann kein Experiment, keine Beobachtung, keine wohlbestätigte falsifizierende Hypothese niederer Stufe für sich allein zu einer Falsifikation führen. Es gibt keine Falsifikation vor dem Auftauchen einer besseren Theorie.

Raffinierte Falsifikationisten legen den Schwerpunkt auf den Vergleich von aufeinanderfolgenden Theorien. Anstatt zu fragen: "Ist diese Theorie falsifizierbar" oder "Wie falsifizierbar ist dies Theorie" oder "Ist diese Theorie falsifiziert worden" wird gefragt "Ist die neu vorgeschlagene Theorie ein tragfähiger Ersatz für die Theorie, die sie anficht".

Die Falsifikation bekommt einen historischen Charakter, da nicht mehr die Theorie mit der empirischen Basis, sondern vielstellige Relationen zwischen konkurrierenden Theorien, der ursprünglichen "empirischen Basis" und dem empirischen Wachstum, zu dem der Wettstreit der Theorien führt.

Naive Falsifikationisten verstanden unter Falsifikation "bewährte Gegenevidenz". Raffinierte Falsifikationisten gehen davon aus, daß eine Theorie trotz hunderter Anomalien nicht falsifiziert wurde, solange sie nicht durch eine "bessere" Theorie ersetzt wurde.

Naive Falsifikationisten haben das Problem, daß es sehr schwierig ist, den Falsifizierbargrad einer Theorie zu bestimmen und nachzuweisen. Die Anzahl der Falsifikationsmöglichkeiten ist stets unendlich. Andererseits ist es häufig möglich, den Falsifizierbarkeitsgrad von Gesetzen oder Theorien miteinander zu vergleichen.

4 Radnitzkys fallibilistisch - kritizistisch - präferenzalistische Methodologie

Das Scheitern der klassischen Theoriebegründung im Induktivismus (vgl. Induktionsproblem, Basissatzproblem) führt von dem mehr oder minder erfolglosen Versuch, Theorien zu beweisen, zur Theorienkonkurrenz. Man akzeptiert die prinzipielle Fallibilität von Wissen und setzt damit der Idee der Falschheit der Idee der Wahrheit voraus. Die Forderung nach Gewißheit von Wissen wird so aufgegeben: In der Methodologie geht es nicht mehr um Begründung, sondern um Präferenzen.

Der präferenzialistischen Methodologie geht es darum, Regeln für die rationale Präferenz fallibler Theorien anzugeben. Um die Frage zu klären, wann eine Theorie einer anderen, konkurrierenden Theorie überlegen und daher vorzuziehen ist, entwickelt Radnitzky Pre- und Post-Test-Kriterien.

Ausgangspunkt jeder Theorienkonkurrenz sind n Theorien, die sich mit bei unterschiedlichen Ausgangsstellungen mit dem gleichen Problemkomplex beschäftigen (Überschneidung von Fragekomplexen). Ziel ist es festzustellen, welche Theorie der Wahrheit am nächsten kommt.

Die zur Theorienkonkurrenz verwendeten Kriterien lassen sich in drei Blöcke differenzieren. Der erste Block enthält unter Bezugnahme auf Popper die Abgrenzungskriterien zwischen wissenschaftlichen Theorien und Alltagstheorien, die sogenannten Demarkationskriterien. Wissenschaftliche Theorien zeichnen sich dadurch aus, daß sie falsifizierbar sind, nicht tautologisch und auch keine metaphysischen Aussagen enthalten. Sprich: Jede wissenschaftliche Theorie muß falsifizierbar sein, es muß möglich sein, eine der Aussage widersprechende Aussage zu formulieren.

Der zweite Kriterienblock umfaßt die Pre-Test-Kriterien: Pre-Test-Kriterien ermöglichen den Gehaltsvergleich von Theorien. Mit ihrer Hilfe ist es möglich, bereits im Vorfeld der empirischen Prüfung Theorien "auszusortieren". Fortschritt besteht in der fallibilistisch-kritizistisch-präferenzialistischen Methodologie im Erkenntnisfortschritt, d.h. mit Hilfe der Pre-Test-Kriterien muß man den Erkenntnisfortschritt von Theorien "messen" können.

Gemessen wird der Erkenntnisfortschritt mit Hilfe des Kriteriums "Darstellungsleistung", also der Fähigkeit einer Theorie, verstanden zu werden. Die beiden Indikatoren für die Darstellungsleistung sind der "empirischer Gehalt" und der "Informationsgehalt".

Der Informationsgehalt bezieht sich auf die Tiefe von Aussagen, die aus der Theorie abgeleitet werden können.

Nach Popper ist der empirische Gehalt die Informationsmenge der potentiellen Falsifikatoren der Theorie, d.h. derjenigen Sätze, die Sachverhalte beschreiben, die von der Theorie als empirisch unmöglich deklariert werden. Je mehr Sachverhalte ausgeschlossen sind, also unmöglich sind, nicht vorkommen dürfen, desto "besser" ist die Theorie. Anders ausgedrückt: je universeller die Aussage formuliert ist, desto leichter ist es, die Aussage zu widerlegen.

Der dritte Block enthält die Post-Test-Kriterien. Diese ermöglichen den Theorienvergleich durch empirische Prüfung. Sie machen den Vergleich von Aussagen über Daten möglich. Die empirische Prüfung einer Theorie besteht in der Konfrontation der Theorie mit der Wirklichkeit durch den Vergleich von Datensätzen. Zu den Post-Test-Kriterien gehört die Erklärungsleistung, die Prognoseleistung sowie die Bewährung ( colloberation) einer Theorie. Bewährung heißt in dem Zusammenhang, daß man von unabhängigen Theorien ausgehend zu gleichen Ergebnissen gelangt. Die Bewährung findet also durch Korrespondenz und Stützung mit anderen Theorien statt.

Radnitzky verteilt für die Leistungen der Theorie in den einzelnen Kriterien Plus- und Minuspunkte, Punkte für Erfolg und Mißerfolg. Damit erweitert er Poppers Verständnis, der nur den Erfolg einer Theorie honorierte. Diese Erweiterung begründet Radnitzky zum einen damit, daß Falsifikation selbst fallibel ist und damit eine Theorie nie sicher falsifiziert werden kann. Unter Umständen ist eine Theorie im entscheidenden Punkt, im Kern zutreffend, obwohl sie strenggenommen als falsifiziert betrachtet werden müßte (beispielsweise wurde Einsteins Relativitätstheorie durch die Millerschen Experimente streng betrachtet falsifiziert, erst 25 Jahre später entdeckte man, daß Millers experimentelle Resultate falsch waren, daß sein Falsifikationsargument in der Randbeschreibung Fehler enthielt). Das zweite Argument für die Verteilung von Plus- und Minuspunkten ist, daß eine Theorie auch für die erbrachte Erklärungsleistung honoriert werden sollte: Popper bewertet - nach Ansicht von Radnitzky etwas einseitig - die Prognoseleistung, nicht aber die Erklärungsleistung.

5 Lakatos Forschungsprogramm

5.1.1 Die Lakatosschen Forschungsprogramme

Imre Lakatos umgeht mit seinem Konzept des Forschungsprogramms die Schwierigkeit von Popper, daß Theorien nach einem einzigen Mißerfolg falsifiziert, verworfen werden. Er erweitert und dynamisert die Präferenzregeln von Radnitzky und stellt die Entwicklung von Theorien (u.a. durch die Tätigkeit des/der Forscher) in den Mittelpunkt. Das Lakatossche Forschungsprogramm wird zur "Evolutionstheorie des Wissens".

Lakatos bietet mit seinem Forschungsprogrammkonzept eine (psychologische) Strategie, die die Verteidigung der eigenen Theorie immer und auch immer logisch ermöglicht, die es dem Forscher ermöglicht, mit dem Scheitern seiner eigenen Theorie umzugehen.

Forschungsprogramm

Ein Forschungsprogramm ist nach Lakatos eine Struktur, die sowohl auf positive, als auch auf negative Art und Weise einen Leitfaden für zukünftige Forschung bietet. Ziel ist es, die Richtigkeit der Kerntheorie zu beweisen.

Das Forschungsprogramm hat folgende Struktur

Struktur eines Forschungsprogrammes

Die negative Heuristik enthält die Bedingung, daß die Grundannahmen, die dem Programm zugrunde liegen, ihr harter Kern, weder verworfen, noch verändert werden dürfen.

Der harte Kern besteht also aus einigen, sehr allgemeinen theoretischen Hypothesen, die die Grundlage bilden, von der aus das Programm entwickelt werden muß (Bsp.: Kopernikus: Annahme, daß die Erde und die Planeten um die feststehende Sonne kreisen, die Erde dreht sich in einem Tag einmal um ihre eigene Achse).

Der harte Kern wird "aufgrund der methodologischen Entscheidung seiner Protagonisten" (Lakatos) unfalsifizierbar gemacht. Jeder Wissenschaftler, der den harten Kern verändert, schließt sich selber aus diesem bestimmten Forschungsprogramm aus.

Dieser harte Kern wird gegen die Falsifikation durch einen Schutzgürtel aus Hilfshypothesen, Anfangsbedingungen etc. geschützt: Die positive Heuristik enthält grobe Richtlinien, die angeben, wie das Forschungsprgramm weiterentwickelt werden könnte. Positive Heuristik besteht also aus einer partiell artikulierten Reihe von Vorschlägen oder Hinweisen, wie man die "widerlegbaren Fassungen" des Forschungsprogramms verändern und entwickeln soll und wie der "widerlegbare" Schutzgürtel modifiziert und raffinierter gestaltet werden soll

In der positive Heuristik sind die "biegsamen, metaphysischen" Prinzipen festgehalten, sie beschäftigt sich nicht mit Anomalien, also der Theorie entgegenstehende Theorien.

Die positive Heuristik weist darauf hin, wie der harte Kern ergänzt werden muß, damit er imstande ist, reale Phänomene zu erklären und vorherzusagen (Erweiterung durch Hilfshypothesen und experimentelle Programme).

Der Schutzgürtel besteht nicht nur aus expliziten Hilfshypothesen, die den harten Kern ergänzen, sondern auch aus Annahmen, die der Beschreibung der Anfangsbedingungen und ebenso den Beobachtungsaussagen zugrunde liegen.

5.1.2 Die Methodologie innerhalb eines Forschungsprogramms

Jeder Schritt, der den Schutzgürtel verändert, ist zulässig, solange er nicht ad hoc ist. Veränderungen und Ergänzungen eines Schutzgürtels müssen nämlich überprüfbar sein, was ad-hoc Hypothesen nicht sind.

D.h. Ad-Hoc-Hypothesen sind verboten und Veränderungen des harten Kerns.

5.1.3 Forschungsprogramme im Vergleich

Erfolgreiche Forschungsprogramme führen nun zu einer progressiven Problemverschiebung, Ein progressives Forschungsprogramm zeichnet aus, daß es zur Entdeckung neuartiger Phänomene beigetragen hat. Jeder Schritt eines progessiven Forschungsprogrammes muß im Sinne Lakatos konsequent gehaltvermehrend sein.

Degenerative Forschungsprogramme tragen demgegenüber nicht zur Entdeckung neuer Phänomene bei.

Ein wissenschaftliches Forschungsprogramm zeichnet sich neben der Entdeckung neuer Phänomene noch durch eine zweite Eigenschaft aus: Es muß außerdem ein gewisses Maß an Kohärenz besitzen, das die Ausarbeitung eines bestimmten Programms für zukünftige Forschung mit sich bringt.

Ein Problem innerhalb des Lakatosschen Ansatzes ist, daß man letztlich niemals definitiv und uneingeschränkt behaupten kann, daß ein Forschungsprogramm besser ist als ein anderes, weil Lakatos die Variable Zeit ins Spiel bringt. Es ist für ein Forschungsprogramm immer möglich, aus einer degenerativen Phase ein Comeback zu starten.

Ein Comeback ist die Formulierung der n+kten gehaltsvermehrenden Fassung und die Verifikation eines Teils von diesem neuen Gehalt. Man kann über den jeweiligen Wert zweier Programme, wenn überhaupt, fast immer erst aus der Retrospektive entscheiden.


©1997 Post Dorthe

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