BASTA ! - 5 / 95 - Seiten 6-7 - Hochschule

Vom Slum Belt zum Sun Belt?

Hochschulen und Strukturwandel im Ruhrgebiet

Von Andreas Hippin

Ein flächendeckendes, wohnortnahes und allen sozialen Schichten zugängliches Studienangebot - Ziel der bildungspolitischen Offensive der 60er - ist die klassische Aufgabe demokratischer Bildungspolitik.

Mit dem Argument, die Deutschen müßten ihre Position als "Exportweltmeister" gegen die nordamerikanische und ostasiatische Konkurrenz verteidigen, halten kleinkrämerische Kosten-Nutzen-Rechnungen nicht erst seit gestern Einzug in die Bildungspolitik - auch in die spezialdemokratische.

"Innovation, technischer Fortschritt und Qualifikation sind der Schlüssel zur Zukunft unseres Landes. Deshalb müssen Forschung, Entwicklung, Bildung und Wissenschaft (...) sich stärker als bisher an der ökonomischen Verwertbarkeit ihrer Arbeit orientieren", so Oskar Lafontaine schon im Januar 1994 auf dem wirtschaftspolitischen Kongreß der SPD (in: Kratz 1995, S.20).

So verabschiedet man sich von der Emanzipation des Individuums sowie von der Möglichkeit zur allseitigen Entwicklung der Persönlichkeit - den sozialdemokratischen Zielen der 70er. Die Feinarbeit überläßt man den Experten.

Zum Beispiel dem Bochumer Professor Paul Klemmer: "Angesichts der sinkenden Beschäftigungschancen von Hochschulabsolventen bzw. des strukturellen Überhangs von Hochschulabsolventen ist es um diese spezifische (regionale) Bildungsaufgabe der Hochschulen inzwischen ruhig geworden. Auf die teure Hochschulausbildung folgt nämlich vielfach eine (ebenfalls teure) Nachqualifizierung, wobei der Einstieg ins Berufsleben immer weiter hinausgeschoben wird. Mancher hätte die gleiche betriebliche Position, die er nach der Hochschulausbildung bzw. nach der Nachqualifizierung einnimmt, früher und billiger haben können, hätte er nur direkt nach dem Abitur den Schritt in die Praxis gewagt" (Klemmer 1995, S.403). Die Versuchung ist groß, denen, die geneigt sind Klemmer zuzustimmen, nahezulegen, die Hochschule doch endlich zu verlassen und auf diese Weise Platz zu schaffen für eine lebendige Diskussion darüber, wohin sich die Gesellschaft entwickeln soll, was für technische Möglichkeiten es gibt und wie sie eingesetzt werden sollen.

Leider orientieren sich auch viele Studierende an den wieder in Mode gekommenen sozialdarwinistischen Vorstellungen - survival of the fittest - die ihnen tagtäglich präsentiert werden. Das Zauberwort der nordrhein-westfälischen Landesregierung, der "Strukturwandel", erscheint mehr und mehr als ein rasanter Wettlauf von Wirtschaft und Technik, in dem nur die Stärksten und Intelligentesten bestehen. Um nicht als "Dr. Arbeitslos"(DER SPIEGEL) zu enden, nahmen viele in Kauf, daß die Hochschule vom Lebensraum wieder zur Lernfabrik gemacht worden ist.

Nicht zuletzt als solche wurden sie im Ruhrgebiet gegründet. Nachdem 1818 die letzte Hochschule geschlossen wurde, da sich Preußens Soldatenkönig von der Kombination von Arbeitern und Studenten nichts als sozialen Unfrieden versprach, ging es der Landesregierung in den 60ern nicht zuletzt darum, Führungspersonal für das Ruhrgebiet auch im Ruhrgebiet auszubilden und dem andauernden Technologietransfer in die Region durch eigene Forschungszentren ein Ende zu bereiten. Heute sollen sie der Ansiedlung neuer Wachstumsbranchen förderlich und bei der Sanierung der alten Industriestrukturen behilflich sein, keinen tatsächlichen Wandel der überkommenen gesellschaftlichen Strukturen, sondern lediglich eine Aufwertung der Industriestruktur bewirken.

"Dem sozialpolitischen Ziel entsprechend, die neugeschaffenen Hochschulen für Töchter und Söhne aus Arbeiterfamilien zu öffnen, beträgt ihr Anteil an den Studierenden im Ruhrgebiet 20% gegenüber 11% im übrigen NRW" (KVR 1993, S.68). Das ist nicht gerade viel, verglichen mit dem Anteil, den Arbeiter und niedere Angestellte an der Sozialstruktur der Region haben.

Heute stehen 142000 Studenten nur noch 42593 Bergleute unter Tage und 62340 Stahlarbeiter gegenüber (vgl: Behrenbeck 1994), was aber nicht bedeutet, daß Arbeiterkinder jetzt Karriere machen. Beamtenkinder liegen deutlich vorn.

Die in der Region eingerichteten Hochschulen haben ihre Wirkung lediglich in unmittelbarer Nähe entfaltet: "Mit nahezu 2000 Studenten an den vier Ruhrgebietshochschulen je 100000 Einwohner führt Bochum das Feld deutlich an, gefolgt von Essen (1576), Mülheim (1452) und Dortmund (1358). Extrem niedrige Werte weisen der Kreis Unna (689) und damit auch die Städte Bergkamen, Lünen und Kamen sowie der Kreis Recklinghausen (809) mit den IBA-Städten Waltrop, Gladbeck und Recklinghausen auf. Auch Bottrop, Duisburg, Gelsenkirchen und Oberhausen liegen noch unter dem KVR-Durchschnitt von 1080 Studenten auf 100000 Einwohner an den Universitäten und Gesamthochschulen des Ruhrgebiets ohne Privat- und Fernuniversität" (Eismann/Waluga 1994, S.268).

Insbesondere das nördliche Ruhrgebiet, das vom Niedergang der Montanindustrie am härtesten betroffen ist, weist erschreckend niedrige Studierendenzahlen auf, geht man davon aus, daß die Bildungsoffensive der 60er mehr als eine bloße Worthülse war. So wird sich die von den Sozialtechnologen erwünschte "soziale Durchmischung" der Armutsregion durch die Herausbildung einer bildungsorientierten Mittelschicht nicht herstellen lassen.

Angesichts der leeren Landeskasse lohnt sich ein Blick darauf, wofür die freie Wirtschaft Geld ausgibt, welcher "Strukturwandel" damit angestrebt wird. Über 70 An-Institute gibt es in NRW: Charakteristisch für das Forschungsprofil der Hochschule, der sie angegliedert sind, betreiben sie Grundlagen- und anwendungsorientierte Forschung, wie sie Einrichtungen der Hochschulen nicht betreiben könnten: Auftragsforschung nach dem Willen ihrer Geldgeber. Als rechtlich selbstständige Forschungseinrichtungen können sie private Mittel einwerben, die an Hochschulen nicht vergeben werden, und engen Kontakt zur gewerblichen Wirtschaft halten. Bis auf wenige Ausnahmen - wie das Duisburger Salomon-Ludwig-Steinheim-Institut für deutsch-jüdische Geschichte e.V. -werden sie ganz oder überwiegend aus Mitteln finanziert, die nicht aus dem Etat der Hochschule stammen. So sind dann auch drei Fünftel der An-Institute den Natur-, Ingenieur- und Biowissenschaften zuzuordnen, während die restlichen zwei Fünftel von den Wirtschaftswissenschaften dominiert werden. Vom Forschungsinstitut für Leasing an der Universität Köln bis hin zum Forschungsinstitut für wirtschaftlich-technische Entwicklungen in Japan und im Pazifikraum an der Gesamthochschule Duisburg wird für die Optimierung der Kapitalverwertungsbedingungen am Standort Deutschland geforscht, oder bahnbrechende technologische Neuerungen wie die Alarmanlage, die gleichzeitig die Raumtemperatur regelt, entwickelt

Betrachtet man das aus Drittmitteln - also privatwirtschaftlich - finanzierte Personal an den NRW-Hochschulen nach Fächergruppen, liegen 1990 die Ingenieurwissenschaften mit 1608,7 Vollzeitarbeitsplätzen (VAP) klar vorn, gefolgt von Mathematik und Naturwissenschaften mit 1472,3 VAP. Auf Wirtschafts- und Gesellschaftswissenschaften entfallen ganze 230,8 VAP, wobei von einem deutlichen Übergewicht der Wirtschaftswissenschaften ausgegangen werden kann, auch wenn der Forschungsbericht des MWF hier nicht weiter in Details geht. 9,5 VAP stehen am Standort Nordrhein-Westfalen für Kunst bzw. Kunstwissenschaften zur Verfügung - ein Armutszeugnis für die Drittmittelgeber (vgl. MWF 1993, S.136).

Um es mit Schiller zu sagen: "Der Lauf der Begebenheiten hat dem Genius der Zeit eine Richtung gegeben, die ihn je mehr und mehr von der Kunst des Ideals zu entfernen droht. Diese muß die Wirklichkeit verlassen und sich mit anständiger Kühnheit über das Bedürfnis erheben; denn die Kunst ist eine Tochter der Freiheit, und von der Notwendigkeit der Geister, nicht von der Notdurft der Materie will sie ihre Vorschrift empfangen. Jetzt aber herrscht das Bedürfnis und beugt die gesunkene Menschheit unter sein tyrannisches Joch. Der Nutzen ist das große Idol der Zeit, dem alle Kräfte frönen und alle Talente huldigen sollen. Auf dieser groben Waage hat das geistige Verdienst der Kunst kein Gewicht, und, aller Aufmunterung beraubt, verschwindet sie von dem lärmenden Markt des Jahrhunderts" (Schiller, S.17).

Dabei haben sich die "Existenzgründer", die sich nach dem Studium in den "Gründerzentren" und "Technologieparks" rund um die Universitäten ansiedelten oft als nicht "marktfähig" erwiesen. Es mag daran liegen, daß sie sich im Inneren des Elfenbeinturms Hochschule, wo sich die Konfrontation mit dem 1989 siegreichen Wirtschaftssystem weitgehend vermeiden läßt, ihre Menschlichkeit erhalten konnten, die sie davon abhielt, Profilierungssucht, kurzfristige Rentabilitätserwägungen und Profitmaximierung um jeden Preis an erste Stelle zu setzen. Und so warnt Professor Klemmer vor der Überschätzung von "Spin-off-Effekten": "Die meisten Unternehmensgründer kommen bei uns aus breit diversifizierten und florierenden Großunternehmen, wo sich gerade Mitarbeiter im Bereich des mittleren Managements mit einer Produktidee selbstständig machen. Sie besitzen bereits Kundenkontakte und Kenntnisse von der laufenden Geschäftsführung und scheitern nicht an den Marketingproblemen, die man bei den Gründern aus der Universität vorfindet " (Klemmer 1995, S.407).

Wer Kenntnisse der laufenden Geschäftsführung besitzt, weiß, was es bedeutet, wenn Ulrich Potthast, der Vorstandvorsitzende der VEBA Kraftwerke Ruhr, zum Aufsichtsratsvorsitzenden des Zentrums für innovative Energieumwandlung und Energiespeicherung ZEUS gewählt wird. Richard Klein, Vorstandsmitglied der RWE Energie und H.W.Riemer, Vorstandsmitglied von VEW Energie, sitzen im Aufsichtsrat des Forschungszentrums, das im Wissenschaftspark Rheinelbe eingerichtet wurde, einem Projekt der Landesregierung, das das nördliche Ruhrgebiet zum vielgerühmten "sustainable development" führen soll.

Für Studierende im Ruhrgebiet bedeutet "Strukturwandel" nicht, daß sich eine Vielzahl neuer Möglichkeiten auftun, sondern daß an allem gespart wird, was nicht den kurzfristigen Verwertungsinteressen der Unternehmen in der Region dient. Neue Technologien kommen nur soweit zum Zuge, wie sie die kapitalintensiven Produktionsanlagen der Großbetriebe nicht entwerten. Für 1,9 Liter-Autos, kompostierbare Babywindeln, etc. gibt es unter diesen Voraussetzungen keine Chance. An der verlängerten (Forschungs-)Werkbank der Industrie ist kein Platz für Selberdenker. Geistlose Zeiten brauchen keine Geisteswissenschaftler.

Literatur

Behrenbeck, Sabine (1994). Wandel. In: Borsdorf, Ulrich (Hg.)(1994).Feuer und Flamme. 200 Jahre Ruhrgebiet. Eine Ausstellung im Gasometer, Oberhausen. (S.266-294) Essen: Klartext.

Eismann, Rainer/Waluga, Stefan (1994). Sozio-ökonomische Daten zum IBA-Planungsraum. In: Kreibich/Schmid/Siebel/Zlonicky (Hg.)(1994). Bauplatz Zukunft. Dispute über die Entwicklung von Industrieregionen. (S.260-277) Essen: Klartext.

Klemmer, Paul (1994). Hochschule und regionale Strukturentwicklung. In: MWF (Hg.)(1995). Wir im Gespräch: Wissenschaft und Forschung. "Motoren des Strukturwandels". (S.401-410) Düsseldorf: MWF.

Kommunalverband Ruhrgebiet KVR (Hg.)(1993). Strukturwandel im Ruhrgebiet. Essen: KVR.

Kratz, Peter (1995). Rechte Genossen. Konkret, 1995 (9), 20-24.

Ministerium für Wissenschaft und Forschung des Landes Nordrhein-Westfalen MWF (Hg.)(1993). Forschung in Nordrhein-Westfalen! Forschungsbericht. Düsseldorf: MWF.

Schiller, Friedrich. Über die ästhetische Erziehung des Menschen, in einer Reihe von Briefen. Zweiter Brief, Zeile 12-25.


Dieser Artikel erschien in dem Duisburger Studierendenmagazin BASTA !

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