Einführung in finnische Sitten und Bräuche

Dr. Olli Alho
Programmdirektor des Finnischen Rundfunks

Finnland ist für den ausländischen Besucher ein unkompliziertes Land. Die Sitten und Bräuche sind – mit nur geringen nationalen Abweichungen – von europäischem Zuschnitt, und die Finnen haben zu ihnen eine ziemlich liberale Einstellung. Die Gefahr, dass ein ausländischer Gast aus Versehen gegen die Etikette oder die guten Sitten verstößt und sich oder sein Gegenüber in eine peinliche Lage bringt, ist gering. Über Etikettenverstöße seiner Landsleute sieht der Finne gewöhnlich hinweg, auf andersartige Sitten von Ausländern reagiert er mit Verständnis oder mit leichter Belustigung. Der Kodex – Etikette und Benimmregeln – ist großzügig. Die Beurteilung eines Menschen, sein guter bzw. schlechter Ruf, beruht eher auf dem über einen längeren Zeitraum gewonnenen Bild von seinem Verhalten denn darauf, wie gut sein Benehmen irgendeinem als unveränderlich angesehenen Kodex entspricht. Im Kreise von Finnen ist es nicht leicht, sich binnen einer einzigen Stunde oder in einer einmaligen Situation einen guten Ruf zu verschaffen oder seinen guten Ruf zu verspielen.

Insgesamt gesehen gehört Finnland zu den Ländern, in denen die Botschaft, die man dem anderen übermitteln möchte, mit Worten vermittelt wird – ein ausgesprochenes Wort ist eine zugestellte Botschaft – und der Fremde sich in der Regel nicht über andere mit dem kulturellen Kontext verbundene Faktoren im Klaren zu sein braucht. Das große Gewicht, das die Finnen dem gesprochenen Wort beimessen, äußert sich häufig in Wortkargheit und im Vermeiden von belanglosem Smalltalk. Das chinesische Sprichwort »Was du sagst, sollte besser sein als Schweigen. Wenn nicht, dann schweige« könnte ebenso gut aus Finnland stammen.

Nationale Identität

Die Finnen haben ein stark ausgeprägtes Nationalgefühl. Es ankert in der Geschichte, insbesondere in als ehrenvoll empfundenen Kriegen und bedeutenden sportlichen Erfolgen, und neuerdings auch in den spitzentechnologischen Leistungen des Landes. Obwohl sie selbst nicht besonders gut über die Geschichte anderer Länder informiert sind, irritiert es die Finnen, wenn der Gast nicht die entscheidenden Ereignisse in der Geschichte ihres Landes oder die sportlichen Heldentaten von Paavo Nurmi und Lasse Viren kennt. Der Besucher sollte wissen, wie großartig die finnischen Rallye- und Formel 1- Piloten sind, und man erwartet, dass sie sich darüber im Klaren sind, dass die Fußballstars Jari Litmanen und Sami Hyypiä Finnen sind. Kulturell orientierte Finnen setzen als selbstverständlich voraus, dass ihr gleichgesinnter Gast neben Sibelius auch die zeitgenössischen Komponisten Kaija Saariaho und Magnus Lindberg sowie die Dirigenten Esa-Pekka Salonen, Jukka- Pekka Saraste und Sakari Oramo kennt. In Finnland weiß man, dass Nokia im Ausland manchmal für ein japanisches Unternehmen gehalten wird – für eine solche Ignoranz hat man hier zu Lande bestenfalls wohlwollendes Mitleid übrig.

Der Besucher muss sich darauf gefasst machen, auch mit der Kehrseite des starken Nationalbewusstsein der Finnen Bekanntschaft zu schließen, mit selbstquälerischen Zweifeln, ob man in der übrigen Welt auch wirklich die Leistungen dieser nördlichen Nation kennt. Aus diesem Grunde verfolgen die Finnen aufmerksam, was man im Ausland über sie schreibt und berichtet. Der Besucher hat mithin keinen Grund zur Verlegenheit, falls man ihn fragt, was er über Finnland denkt. Obwohl der Finne selbst das eine oder andere kritische Wort über sein Land zu sagen hat, möchte er die gleiche Kritik nicht unbedingt aus dem Munde seines Besuchers vernehmen.

Religion

Der Besucher stößt gewöhnlich auch in jenen Bereichen des Lebens, die bei Berührungen zwischen verschiedenen Kulturen besonders sensibel sind, nicht auf Schwierigkeiten. Von ihrer Religion her sind die meisten Finnen evangelisch-lutherisch (ca. 84 % der Bevölkerung); 1,1 % gehören der griechisch- orthodoxen Kirche an. Ein großer Teil der Bevölkerung ist ausgesprochen weltlich eingestellt, die Religion drückt dem Alltagsleben der Finnen keinen sichtbaren Stempel auf. Dennoch genießen die Kirche und ihre Diener hohe Wertschätzung, und die religiöse Überzeugung der Mitbürger wird respektiert. Die Unterschiede zwischen den bekennenden Gläubigen und den anderen sind im Alltag schwer zu erkennen; sie äußern sich hauptsächlich in Form eines zurückhaltenderen Lebenswandels. Die Finnen wissen nur wenig über andere Religionen. Deshalb müssen Besucher aus anderen Kulturkreisen darauf gefasst sein, dass selbst die bekanntesten Sitten und Ge-/Verbote ihrer Religion nicht immer verstanden werden.

Geschlecht

Das Verhältnis zwischen den Geschlechtern ist in Finnland von Gleichberechtigung geprägt. Das zeigt sich beispielsweise in der relativ großen Zahl von Frauen in politischen und anderen gesellschaftlichen Ämtern. Zum Zeitpunkt der Niederschrift dieser Zeilen hat eine Frau das einflussreiche und hoch profilierte Amt des Staatspräsidenten inne, Tarja Halonen, die zuvor, ebenfalls als erste Frau, dem Außenministerium des Landes vorgestanden hatte.

Auch in bedeutenden akademischen Funktionen sind Frauen heute keine Ausnahme mehr, und in den letzten Jahren haben sich Geschäftsreisende aus dem Ausland daran gewöhnen müssen, dass am anderen Ende des Konferenztisches immer häufiger eine Vertreterin des »schöneren Geschlechts« Platz nimmt.

Männlicher Chauvinismus und eine herablassende Behandlung von Frauen gelten als Verstoß gegen die mehrheitlich akzeptierte Etikette. Zwar mögen die Finninnen Höflichkeit der »alten Schule «, aber letztlich beurteilen sie einen Mann danach, wie er es in der Praxis mit der Gleichberechtigung hält. In Gelddingen sind die Frauen in der Regel selbständig, und es ist keinesfalls ungewöhnlich, wenn beispielsweise eine Frau in einem Restaurant den Wunsch äußert, ihren Anteil an der Rechnung selbst zu zahlen. Der Mann darf dieses Ansinnen ablehnen, aber nicht minder höflich ist es, den Wunsch der Frau zu akzeptieren.

In der Kommunikation mit Anderssprachigen bemühen die Finnen sich um einen geschlechtlich korrekten Sprachgebrauch. Dazu gehört, dass maskulin gefärbte Wörter durch neutrale Ausdrükke ersetzt werden (im Englischen z.B. Chairperson). Beim Personalpronomen der dritten Person Einzahl werden vielfach beide Formen (er/sie) angegeben. In ihrer eigenen Sprache kennen die Finnen dieses Problem nicht, denn das finnische »hän« ist geschlechtsneutral. Zwar gibt es im Finnischen eine ganze Reihe von Begriffen, die auf die Silbe -mies (-Mann) enden, aber sie werden nicht als diskriminierend empfunden. So stößt sich niemand daran, dass der finnische Parlamentspräsident auf finnisch ein Puhemies (= Chairman) ist, obwohl den Hammer des Präsidenten derzeit eine Frau schwingt. Nichtfinnen stellt man es anheim, solche Begriffe gemäß der landesüblichen Praxis in ihre eigene Sprache zu übertragen.

Reden

Die Auffassung, die Finnen seien ein wortkarges und schweigsames Volk, ist alt, trifft aber nicht mehr unbedingt zu, besonders nicht in der jungen Generation. Dennoch kann man sagen, dass auch die jungen Leute ein spezielles Verhältnis zu Wörtern und zum Reden haben: Wörter und das, was ein Mensch sagt, wird ernst genommen – »das Pferd beim Zaume, den Mann beim Wort« lautet ein finnisches Sprichwort. Aus dieser Einstellung folgt, dass der Finne seine Worte gewöhnlich sorgsam abwägt und davon ausgeht, dass auch andere dies tun. Mündliche Vereinbarungen und Versprechungen sieht er im allgemeinen als für beide Seiten verbindlich an, egal, in was für einer Situation sie zu Stande gekommen sind. Den Finnen leuchtet es nicht ein, dass die gleichen Worte je nach Zusammenhang, in dem sie ausgesprochen werden, verschiedene Bedeutung haben können – der ausländische Gast sollte sich vor Augen halten, dass er mit leichthin vorgetragenen Höflichkeitsfloskeln nach dem Muster »wir müssen mal zusammen essen gehen« leicht beim Wort genommen werden kann. »Smalltalk«, eine Kunst, die den Finnen notorisch abgeht, ist vielen schon per se suspekt, und die Fähigkeit zu leichter Konversation rangiert auf der Werteskala des Durchschnittsfinnen nicht besonders hoch.

Es ist nicht Sache der Finnen, mit Unbekannten ein Gespräch anzuknüpfen, es sei denn, sie treibe ein ungewöhnlich starker Impuls. Ausländischen Besuchern fällt denn auch die Schweigsamkeit der Finnen in der U-Bahn, im Bus und in der Straßenbahn ins Auge. In Aufzügen verfallen die Finnen in die gleiche stumme Verlegenheit wie die Menschen überall in der Welt. Hingegen wird ein Besucher, der auf der Straße mit seinem Stadtplan kämpft, keine Schwierigkeiten haben, hilfsbereite Seelen zu finden, denn die Gastfreundlichkeit der Finnen gewinnt leicht Oberhand über ihre Wortkargheit.

Zuhören kann der Finne besser als reden. Er empfindet es als unhöflich, anderen ins Wort zu fallen. Er wird nicht unruhig, wenn der Gesprächsfluss einmal abreißt – auch Schweigen empfindet er als eine Art der Kommunikation. Er spricht gewöhnlich behäbig, auch in seiner Muttersprache, (Ausländer amüsieren sich über den schleppenden Sprechrhythmus der TV-Nachrichtenmoderatoren) und an Fremdsprachen, von denen er vielleicht eine ganze Reihe beherrscht, irritiert ihn am meisten das Tempo, mit dem sie gesprochen werden. Je nach Situation kann auch ein Finne in Fahrt und aus sich herausgehen. So mancher Ausländer hat über den Effekt gestaunt, den die Sauna auf Finnen hat – in dieser vertrauten Umgebung können sie sich dem Fremden in einer Weise öffnen, die auf den Ausländer manchmal frappant wirken mag.

Handys

Der immer weiter um sich greifende Gebrauch von Handys hat viel zur Erneuerung des Bilds von der Kommunikationsfähigkeit der Finnen beigetragen. Die allerorten zu hörenden, zeitweilig zur Kakophonie ausartenden Klingeltöne der Mobiltelefone berichten vom Drang der Finnen, miteinander zu kommunizieren – besonders dann, wenn der Gesprächspartner unsichtbar ist. Ein ausländischer Journalist bezeichnete einen Anblick, der sich ihm in einer Bierkneipe dartat, als Schlüsselerlebnis zum Verständnis des finnischen Wesens: Ein einsam an der Theke sitzender Mann, der in ein Telefon sprach. Vielleicht ist diese Kommunikation ohne Intimität die finnische Version des Smalltalks?

Mit der Verbreitung des Handys hat sich auch eine lockere Etikette entwickelt, die darauf abzielt, störende oder gar riskante Formen des mobilen Telefonierens zu minimieren. In Flugzeugen und Krankenhäusern ist der Handy-Gebrauch verboten, während Besprechungen und Konferenzen gilt er als unschicklich, in Konzerten, Theatern oder Kirchen als barbarisch.

Die Invasion der Handys hat zweifellos die Vorstellungen verändert, die Ausländer von den Finnen haben. Während Besucher des Landes noch vor zwei Jahrzehnten von einem sturen, wortkargen und verschlossenen arktischen Stamm berichteten, kann der Reisende unserer Tage seinen Leuten daheim von einem hyperkommunikativen Volk erzählen, das schon jetzt ein Zukunftsszenario verwirklicht, das die einen befürchten, die anderen erhoffen: eine Gesellschaft, in der jeder jeden zu jeder Zeit und an jedem Ort erreichen kann.

Namen und Titel

Wenn er sich vorstellt, nennt der Finne zuerst seinen Vor- und danach seinen Nachnamen. Verheiratete Frauen, die einen Doppelnamen benutzen, nennen zuerst ihren Geburtsnamen und danach den Namen ihres Ehemanns. Obwohl Finnen es genau nehmen mit Titeln und Berufsbezeichnungen, nennen sie diese nur selten, wenn sie sich vorstellen. Hingegen erwarten sie, dass man sie in beruflichen oder offiziellen Kontexten mit ihrem Titel anspricht: Doktor Virtanen, Architekt Pohjanpalo, Generaldirektor Kannisto. Von Ausländern erwartet man jedoch nicht, dass sie sich an diese Etikette halten, ausgenommen vielleicht akademische Titel. Der Ausländer kann Finnen getrost mit Herr bzw. Frau ansprechen.

Das Duzen ist in Finnland sehr verbreitet, nicht nur unter Freunden und Bekannten, sondern auch unter Fremden. Es ist der Normalfall, dass Menschen am selben Arbeitsplatz einander duzen, auch in Großunternehmen und über alle Rangunterschiede hinweg – der Dienstbote duzt den Boss. Nichts Ungewöhnliches ist es auch, wenn Dienstleistungsberufler ihre Kunden mit du anreden, eine Praxis, die allerdings von manchen älteren Menschen als kränkend empfunden wird.

Das Duzen erfolgt durch Anrede in der zweiten Person Singular. Die Verwendung des Vornamens hingegen setzt schon nähere und persönlichere Beziehungen voraus. Eine solche entsteht heutzutage im Nu, besonders wenn es voraussehbar ist, dass beide auch in Zukunft wieder miteinander zu tun haben werden, entweder beruflich oder in der Freizeit. Es ist jedoch schicklich – und zugleich ein Zugeständnis an die Sitten früherer Tage –, sich förmlich über das Ansprechen mit dem Vornamen zu einigen. Nach dem Verständnis der Finnen ist eine einmal ausdrücklich getroffene Duzfreundschaft von Dauer.

In den neunziger Jahren kam, auch im Kreise der jüngeren Generation, ein Trend auf, zu förmlicheren Umgangsformen einschließlich des Siezens zurückzukehren und das Du nur für engere Beziehungen zu reservieren. Das Anknüpfen einer engeren Bekanntschaft hat einen eigenen Charme, wenn es nach der alten skandinavischen Etikette erfolgt: Vorgeschlagen wird es von der älteren oder höhergestellten Person, im Falle zweier Personen gleichen Alters und Rangs, aber verschiedenen Geschlechts, wird es von der Frau vorgeschlagen; bekräftigt wird es durch Handdruck, Augenkontakt – beide nennen ihren Vornamen – und eine leichte Verbeugung. Noch stilvoller ist es, wenn zur Krönung des Augenblicks mit einem Schnaps-, Wein- oder Sektglas angestoßen werden kann. Das Vergessen einer förmlich geschlossenen Duzfreundschaft gilt als ernster Faux-pas, ebenso das Vergessen des Namens des Duzfreunds.

Ansonsten stellen die Finnen das Namensgedächtnis von Mitbürgern und Ausländern nicht auf eine so harte Probe wie viele andere Völker. Beim Begrüßen wird, je nach Grad der Bekanntschaft, nicht unbedingt der Name des anderen genannt, auch nicht im Verlauf eines normalen Gesprächs. Aufgrund des Einflusses anderer Kulturen, insbesondere der amerikanischen, hat das Ansprechen mit dem Namen in diesem Kontext zugenommen, aber obwohl es ein nettes Detail ist, den eigenen Namen zu hören, nimmt es einem der Gesprächspartner nicht übel, nicht mit Namen angeredet zu werden.

Von einer Person, die ein Unternehmen vertritt oder ein öffentliches Amt bekleidet, erwartet man, dass sie dem Gegenüber mit Visitenkarten hilft, ihren Namen und Titel zu behalten. Finnen, die von Beruf her persönlich mit Ausländern zu tun haben, lassen von ihrer Visitenkarte gewöhnlich zumindest auch eine englische Version anfertigen. Mit dem Austauschen von Visitenkarten ist in Finnland keine besondere Etikette verbunden. Dem Ausländer bietet das Entgegennehmen einer Visitenkarte eine gute Gelegenheit zu fragen, wie der Name des Gebers ausgesprochen wird und, falls ihm der Titel oder die Berufsbezeichnung kryptisch vorkommen (z.B. Bergrat), sich zu erkundigen, was er in der Praxis bedeutet.

Grüßen

Beim Grüßen ist es üblich, sich die Hand zu geben und einander in die Augen zu blicken. Eine Verbeugung ist ein Zeichen für besonderen Respekt – ansonsten reicht ein leichtes Nicken mit dem Kopf. Der finnische Handschlag ist kurz und fest, und er wird nicht von anderen Gesten begleitet wie etwa gegenseitigem Berühren der Schulter oder des Ellenbogens. Beim Begrüßen eines Ehepaars wird zuerst der Frau die Hand gereicht, außer bei sehr offiziellen Empfängen, bei der die Person, an die die Einladung adressiert wurde, die Gastgeber zuerst begrüßt. Es ist Sitte, auch kleinen Kindern die Hand zu schütteln. Umarmt wird in Finnland nur selten. Auf der Straße lüftet der Mann beim Begrüßen den Hut; im Winter, bei kaltem Frost, tut’s auch ein Tippen an die Kopfbedeckung.

Die Finnen küssen einander ebenso wie andere Völker, jedoch nur selten beim Begrüßen. Handküsse sind ungewöhnlich, wenngleich nach Ansicht vieler Frauen eine charmante Sitte. Küsse auf die Wange sind im Kreise von Freunden und Bekannten nicht unüblich, aber diese Sitte hat einen urbanen Charakter und ist in ländlichen Gebieten deutlich weniger anzutreffen. Die Etikette bestimmt nicht die Zahl der Wangenküsse; nach Meinung der meisten Finnen grenzen jedoch drei Küsse schon an Übertreibung. Männer begrüßen einander gewöhnlich nicht mit Küssen, schon gar nicht, wie ihre östlichen Nachbarn, durch Mundküsse.

Essen

Die finnische Speisekultur ist eine Mischung aus europäischen, skandinavischen und östlichen Elementen; die Tischsitten sind europäisch. Den Tag leitet ein Frühstück ein, das manchmal recht deftig sein kann. Zu Mittag wird zwischen 11 und 13 Uhr gegessen, im normalen Arbeitsleben dauert die Mittagspause gewöhnlich weniger als eine Stunde. Auch die früher in der Geschäftswelt üblichen ausgedehnten Mittagessen haben sich auf anderthalb, zwei Stunden verkürzt. Das Abendessen wird zu Hause gegen 17-18 Uhr eingenommen, in Restaurants beginnt es vielfach um 19-20 Uhr. Den Zeitpunkt für ein spätes Abendessen begrenzen häufig die Öffnungszeiten der Restaurants (nach diesen sollte man sich schon beim Reservieren eines Tisches erkundigen). Konzerte und Theateraufführungen beginnen in Finnland gewöhnlich um 19-19.30 Uhr, und wenn sie gegen 22 Uhr enden, füllen sich die Restaurants.

Der in ein Restaurant oder privat zum Essen eingeladene westliche Ausländer wird auf seinem Teller nur selten Speisen finden, die ihm völlig unbekannt sind. Die Kost der Finnen, von Tradition her ziemlich schwer und fetthaltig, ist im Zuge des gewachsenen gesundheitlichen Bewusstseins deutlich leichter geworden, und die besseren Restaurants können auch spezielle Diätwünsche erfüllen. Weitere Auswahlmöglichkeiten bietet die wachsende Zahl der Spezialitätenrestaurants. Der Genuss von alkoholhaltigen Getränken bei gemeinsamen Essen, früher fast selbstverständlich und häufig ziemlich ausführlich praktiziert, ist zunehmend einer minimalistischen oder alkoholfreien Linie gewichen.

Am Tisch bestimmt der Gastgeber die Sitzordnung, wenn er dies denn für notwendig hält. Der Ehrengast sitzt rechts von der Dame des Hauses oder, in reiner Herrengesellschaft, rechts vom Platz des Gastgebers. Der Gastgeberplatz ist bei den schweigsamen Finnen nicht sehr begehrt, da von seinem Halter erwartet wird, dass er zum Abschluss des Essens ein paar Dankesworte an die Tischgäste richtet. Mit dem Essen wird begonnen, nachdem allen serviert worden ist – den Auftakt macht der Gastgeber, indem er, wie häufig üblich, das Glas hebt und guten Appetit wünscht. Davor schickt es sich nicht, zu trinken, es sei denn, der Beginn des Mahls hat sich aus irgendeinem Grund stark verzögert.

Während des Speisens halten Finnen nur selten Reden, außer bei förmlichen Gelegenheiten; dann fallen die Reden auf die Pausen zwischen den Gängen. Hingegen können die Tischgäste einander während des Essens grüßen, indem sie sich, bei gleichzeitigem Blickkontakt, zuprosten; bevor das geleerte Glas auf dem Tisch abgesetzt wird, wird der Blickkontakt wiederholt.

Das Mahl wird gewöhnlich mit Kaffee beschlossen, zu dem vielfach ein alkoholisches Getränk wie etwa Kognak serviert wird. Vorausgesetzt, dass die Gastgeber in ihren eigenen vier Wändern über-haupt das Rauchen gestatten, ist dies der natürliche Zeitpunkt für Raucher, Zigarren oder Zigaretten zu entzünden – es sei denn, der Gastgeber hat dies schon vorher vorgeschlagen oder erlaubt. Beim Aufstehen oder sobald sich eine Gelegenheit dazu bietet, sprechen die Gäste dem Gastgeber und der Frau des Hauses einen kurzen Dank für das Essen aus – unabhängig davon, ob der Ehrengast dies schon früher getan hat. Selbst im Kreise der Familie ist es üblich, beim Aufstehen »kiitos«– danke – zu sagen.

Wie überall auf der Welt, ist das Essen in Finnland eine zentrale Form des Beisammenseins. Pflicht der Gastgeber ist es, für die Qualität des Mahls sowie für seinen geruhsamen, aber zügigen Verlauf zu sorgen. Von den Gästen wird erwartet, dass sie zu einer guten Stimmung beitragen, indem sie, besonders ihren Nachbarn und Damen, amüsante und interessante Gesprächspartner sind. Die für Finnen etwas zu typische Neigung, an der Tafel über berufliche Dinge zu sprechen, dürfen die ausländischen Gäste guten Gewissens gnadenlos sabotieren, indem sie das Gespräch in andere Bahnen lenken.

Trinken

Die Finnen konsumieren im Durchschnitt etwas über 9 Liter reinen Alkohol im Jahr, das ist europäischer Mittelwert, und das tun sie hauptsächlich gemäß der skandinavischen und europäischen Tradition. Nationale Besonderheiten gibt es weniger, als man erwarten könnte angesichts des Rufs, der den Finnen als Säufernation anhaftet.

Die Auffälligste ist der relativ große Anteil von hochprozentigen Getränken sowie die damit verbundene Tendenz, sich einen Rausch anzutrinken. Der Gebrauch milderer Getränke hat in den letzten Jahren deutlich zugenommen, und damit hat das Trinkverhalten auch kultiviertere Züge angenommen. Bei Geschäftsessen wird heute wesentlich mäßiger mit Alkohol umgegangen als früher; in der Beamtenkultur ist der Verzehr von Alkohol beim Mittagessen noch seltener.

Die Formen des Alkoholgenusses variieren je nach Sozialschicht und Geographie; so ist die Weinkultur mitteleuropäischen und mediterranen Zuschnitts bislang noch typischerweise vor allem bei urbanen, der Mittel- und Oberschicht angehörenden jungen Erwachsenen sowie bei älteren Jahrgängen mit höherer Ausbildung anzutreffen. Wein verdrängt vielfach Spirituosen, Weinclubs haben wachsenden Zulauf, zu Hause werden Weinproben veranstaltet, und positive Bewertungen in den Weinkolumnen von Zeitungen und Zeitschriften schlagen sich in den Verkaufszahlen der empfohlenen Tropfen nieder.

Der Import und Verkauf von Weinen und anderen alkoholischen Getränken liegt zu einem großen Teil bei einem staatlichen Unternehmen namens Alko – private Verbraucher können diese Getränke, mit Ausnahme von Bier und Cider, nur in Alko-Läden kaufen. Alko ist auch nach internationalem Maßstab ein Großeinkäufer von Wein, deshalb ist das Weinangebot in den Läden reichhaltig, hinsichtlich der geographischen Herkunft recht breit gefächert und enthält auch Spitzenqualitäten. Viele Restaurants machen von ihrem relativ neuen Recht Gebrauch, Weine an Alko vorbei direkt bei ausländischen Erzeugern zu kaufen.

Zu Hause wird hauptsächlich an Wochenenden Wein zum Essen gereicht, aber bei der Beköstigung von Gästen sowie beim Speisen in Restaurants ist Wein auch sonst ein wichtiger Bestandteil des Mahls. Oft – falls es sich bei den Gastgebern um Finnlandschweden handelt meistens – wird dem Gast gleich mit der Vorspeise ein Schnaps serviert, ein Gläschen Wodka oder Aquavit, besonders wenn es sich bei der Speise um kalten Fisch handelt. Beim Essen von Krebsen gilt ein Schnaps als Muss. Unter den Finnlandschweden ist es Brauch, vor jedem Schnaps ein kurzes Lied anzustimmen – bei größeren Veranstaltungen wird ein »Toast Master« ernannt, dessen Aufgabe es ist, zu bestimmen, wann nachgeschenkt wird, und der den Vorsänger spielt. Die Etikette der finnischsprachigen Bevölkerung ist schlichter und weniger strukturiert, aber heutzutage gibt es auch finnische Schnapslieder. Zusammen mit dem Schnaps wird gewöhnlich Mineralwasser gereicht, manchmal auch Bier, das sich auch sonst bei den Finnen großer Beliebtheit erfreut. Mit Bier wird auch der gewaltige Durst gelöscht, der sich nach der Sauna einstellt.

Dem Gast ist es anheim gestellt, wie weit er auf die Trinksitten der Finnen eingeht. Er braucht sein Schnapsglas nicht bis zum letzten Tropfen zu leeren, auch wenn sein Tischnachbar das tut, es reicht, das Glas zu heben und leicht daran zu nippen. Auch guckt niemand schief, wenn jemand beim Essen oder einem anderen Anlass anstatt eines alkoholischen Getränks Mineralwasser oder etwa alkoholfreien Wein trinken möchte. Auf der Mittagstafel spielen diese Getränke bereits eine beträchtliche Rolle, und auch bei anderen Gelegenheiten finden sie wachsenden Anklang. Mit der nachwachsenden Generation verringert sich die soziale Akzeptanz des rauschorientierten Alkoholgenusses, und die Sicht vom Wein als »Getränk der Weisen « setzt sich immer mehr durch. Alkoholfreie Getränke werden auch vom Gesetz favorisiert; Trunkenheit am Steuer ahndet es ziemlich streng, und es setzt die Promillegrenze sehr niedrig an.

Rauchen

Das Rauchen hat in den letzten Jahren abgenommen, die Einstellungen dazu sind immer negativer geworden. Das Gesetz verbietet bzw. beschränkt das Rauchen in öffentlichen Einrichtungen sowie am Arbeitsplatz. Als gesetzestreues Volk halten die Finnen sich an diese Verbote und rauchen nur in Räumen, die für diesen Zweck vorgesehen sind. Dennoch gibt es noch eine große Zahl von Rauchern, auch im Kreise der Jugend. Gemäß dem internationalen Trend hat das Zigarrenrauchen zugenommen. Immer mehr Restaurants und Bars führen ein gutes Sortiment an handgemachten Premium-Zigarren, besonders Havannas, und bis auf weiteres genießt eine Zigarre zum Abschluss eines Abendessens im Restaurant soziale Akzeptanz.

Von Rauchern erwartet man Rücksichtnahme. Der ins Haus eingeladene Gast fragt seine Gastgeber um Erlaubnis zum Rauchen, selbst dann, wenn Aschenbecher aufgestellt sind. Auch im Restaurant gehört es zum guten Ton, seine Mitgäste um Raucherlaubnis zu fragen. In Privatwohnungen werden Raucher vielfach auf den Balkon oder die Terrasse verwiesen, was vor allem an kalten Wintertagen den Nikotinkonsum der Gäste erheblich reduzieren kann. Besonders von passionierten Zigarrenrauchern wird unter solchen Umständen erhebliche Selbstdisziplin verlangt.

Beim Essen ist das Anstecken einer Zigarette zwischen den Gängen ziemlich üblich, wird aber nicht unbedingt gern gesehen; die Mitgäste und besonders der Koch wissen es zu schätzen, wenn die Raucher sich gedulden, bis Kaffee und Cognac serviert wird.

Privat zu Gast

Die Wohnung ist in Finnland mehr als in anderen Ländern das Zentrum des sozialen Lebens, mehr jedenfalls als in jenen Ländern, in denen man häufig mit Freunden und Bekannten zum Essen oder Zusammensitzen ausgeht. Hierfür gibt es kulturelle, aber auch ökonomische Gründe. Auch das gewachsene Interesse am Kochen und an Weinen hat dazu geführt, dass die Menschen einander immer mehr nach Hause einladen. Der ausländische Gast kann einer solchen Einladung entspannt entgegensehen und sich auf eine ziemlich lockere und informelle Atmosphäre einstellen; geeignete Mitbringsel sind ein Blumenstrauß für die Dame des Hauses und eine Flasche Wein.

Größere Ansprüche an die kulturelle Anpassungsfähigkeit des ausländischen Gasts stellt eine Einladung in eines der Ferienhäuser, die in großer Zahl die Küsten und Binnenseeufer des Landes säumen. Etwa ein Viertel der Finnen haben ein Ferienhaus, das für viele ein zweites Zuhause ist. Die Soziologen erklären gern, dass das Ferienhaus für den Finnen ein Bindeglied zu seinem noch nicht sehr weit zurückliegenden ländlichen Hintergrund ist. Und es ist Tatsache, dass die Finnen auf ihrem Landsitz zu überraschend geschickten Anglern, Gärtnern, Bauern, Zimmermännern und Waldarbeitern mutieren.

Der Gast braucht sich nicht sonderlich aktiv an diesem Rollenspiel zu beteiligen. Dagegen erwartet man von ihm, dass er sich ohne Protest und klaglos in die nicht selten recht primitiven Verhältnisse des Ferienhauses fügt, denn Strom, fließend Wasser, WC und andere Annehmlichkeiten des Stadtlebens fehlen vielfach. Viele Familien empfinden auch ein Fernsehgerät als unvereinbar mit dem Leben im Schoße der Natur. Ein Handy hingegen hängt selbstverständlich an der Wand, und mit ihm kann der Gast seinen Leuten daheim von seinen Erfahrungen fern der Zivilisation berichten.

Vom Gast wird erwartet, dass er sich für das Ferienhaus informell und praktisch einkleidet. Vor Ort gibt es Extrastiefel, -regenjacken und -anoraks, die dem Gast verpasst werden, falls es mal regnet oder stürmt oder wenn Angeln, Pilze sammeln oder ein Ausflug in die Natur ansteht. Der Besucher sollte sich darüber im Klaren sein, dass seine Gastgeber, besonders die Dame des Hauses, eine ganze Menge zu tun haben, um ihm einen angenehmen Aufenthalt zu bereiten. Sie wissen zu schätzen, wenn ihr Gast ihnen bei Routineverrichtungen zur Hand geht, beispielsweise beim Waschen der Kartoffeln im Wasser des Sees oder Meeres oder beim Schälen von Zwiebeln.

Der beste Lohn für die Gastgeber ist es, wenn der Gast sich wohl fühlt und seinen Aufenthalt richtig genießt, egal ob es regnet oder die Sonne scheint. Falls nicht von vornherein vereinbart, tut er weise, die Rückkehr in die Stadt beim Frühstück des dritten Tages zur Sprache zu bringen. Seine Abreise sollte er nur dann aufschieben, wenn die Proteste, die seine Gastgeber auf jeden Fall vorbringen werden, sehr überzeugend klingen.

Jahreszeiten und Termine

Jahreszeiten gibt es überall, aber im Leben der Finnen spielt der Jahreszeitenwechsel eine besonders große Rolle. In dem bis weit über den Polarkreis hinaus reichenden Land sind schon allein die Temperatur- und Lichtunterschiede zwischen Sommer und Winter so dramatisch, dass man geradezu von zwei finnischen Kulturen sprechen kann: Die eine wird vom Licht, das die fast rund um die Uhr am Himmel stehende Sonne spendet, und von zeitweilig überraschend hohen Temperaturen geprägt. Die andere wird durch den mitunter unbarmherzigen Frost und den kurzen Tag – im Norden herrscht auch um Mittag nur arktisches Dämmerlicht – diktiert.

Obwohl sie ihn regelmäßig einmal im Jahr erleben, ist der Sommer den Finnen so wichtig, dass das Land in der Praxis – wie viele Ausländer zu ihrem Verdruss haben feststellen müssen – »dicht gemacht« wird. Spätestens nach dem Mittsommernachts- bzw. Johannisfest ziehen die Finnen in ihre Ferienhäuser und Villen um. Jene, die in der Stadt bleiben, verbringen ihre Zeit im Freien – in Terrassenrestaurants und Biergärten, in Parks und am Wasser, wobei sie eine ungewohnte Geselligkeit und Lebensfreude an den Tag legen. Briefe von Geschäftspartnern oder Freunden können längere Zeit unbeantwortet bleiben, E-Mail-Sendungen werden einen Monat lang prompt mit automatischen »Out-of-office«-Nachrichten beantwortet, und Gespräche mit Freunden drehen sich mehr um den besten Angelköder oder um Tipps für den Gewürzgarten denn um bewegende Fragen der internationalen Politik und Wirtschaft. Dem Besucher bleibt nicht verborgen, dass ihre Gastgeber im Sommer ganz besonders stolz und glücklich sind, Finnen zu sein und in einem schönen Land zu leben, und sie freuen sich, wenn er sie in diesen Gefühlen bestätigt.

Wenn der Winter kommt, verriegeln die Finnen ihre Sommerhäuser und Villen, docken ihr Boote auf und decken sie mit Schutzplanen ab, tauschen ihre Sommer- gegen Winterreifen aus, kramen warme Sachen und dikke Schuhe heraus, verstauen ihr Golfausrüstung im Keller und überprüfen den Zustand ihrer Skier. Der Finne ist im Winter emsig, denn das Angebot an Vergnügungen im Freien ist begrenzt, und deshalb kann man die Zeit, die man drinnen verbringt, ebenso gut für nützliche Zwecke verwenden. So wie ihre agraren Vorfahren Wintertage dafür benutzen, um für den nächsten Sommer Werkzeuge anzufertigen oder auszubessern, so arbeiten die Finnen unserer Tage in ihren Büros daran, ihr Land zu einem immer effizienteren und moderneren Musterland der Technologie zu entwikkeln. Der Besucher mag sich über die seltsame Leere der Städte und Dörfer wundern, aber irgendwie spürt er, dass hinter den erleuchteten Fenstern ein fleißiges Volk ernsthaften Beschäftigungen nachgeht. Auf diese Weise vergeht auch der Winter wie im Flug, und schon bald kann man wieder die erste Kurztour zu seinem Sommersitz unternehmen, um nachzusehen, wie das Ferienhaus und das Grundstück den Winter überstanden haben.

Möglicherweise eine Folge des ausgeprägten Jahreszeitenwechsels ist, dass die Finnen sich mehr als viele andere Völker des Laufs der Zeit bewusst sind. Dieses Bewusstsein äußert sich im ungeduldigen Erwarten der nächsten Jahreszeit: Schon bald schmilzt der Schnee; in ein paar Wochen treffen die ersten Zugvögel ein, im nächsten Monat geht die Sonne in Lappland nicht mehr unter; bald sind die Äpfel reif – es ist nicht mehr lange bis zum ersten Schnee.

Dieses Bewusstsein für die Endlichkeit des Heute und das Bevorstehen des Morgen ist nicht unbedingt die Erklärung dafür, dass die Finnen im Allgemeinen ein ziemlich ernsthaftes Verhältnis zur Uhrzeit haben und in gewissem Maße ihre Sklaven sind. Wie auch anderswo in der Welt leben in verantwortlichen Positionen tätige Personen nach einem strengen täglichen Zeitplan, und Abweichungen werden nicht selten als Stress erlebt. Daher hält man an vereinbarten Terminen fest, am liebsten auf die Minute genau – eine Verspätung von mehr als einer Viertelstunde gilt bereits als Zeichen für mangelnde Verlässlichkeit und wird leicht als Unhöflichkeit empfunden. Auch bei privaten Begegnungen von Freunden und Bekannten ist es üblich, die vereinbarte Uhrzeit einzuhalten. Konzerte, Theaterdarbietungen und andere öffentliche Veranstaltungen beginnen auf die Minute genau, und auch im inländischen Fernverkehr sind Verspätungen von Zügen und Bussen weithin die Ausnahme.

Der finnische Lebensstil ist von einer gewissen Hektik geprägt, und ein mit Begegnungen und Besprechungen vollgepackter Terminkalender gilt hier zu Lande eher als Statussymbol denn als ein Zeichen für mangelhaftes persönliches Zeitmanagement. In einer solchen Kultur ist die Zeit, die der Gastgeber für das gesellige Beisammensein mit seinem Gast reserviert, einer der wichtigsten Maßstäbe für die Wertschätzung. Wenn der Finne beim Mittagessen nicht immer wieder auf seine Uhr schielt sondern noch ein Häppchen oder noch einen Drink vorschlägt, wenn es danach noch gemeinsam in die Sauna geht – und wenn dann vielleicht auch noch das magische »sofern es ihnen passt, könnten wir morgen einen Abstecher zu meinem Ferienhaus machen« ausgesprochen wird, dann kann der Gast dies getrost als Zeichen dafür deuten, dass eine dauerhafte Partnerschaft oder gar eine Freundschaft in der Luft liegt.

Sauna

Eine Nation, die über 1,5 Millionen Saunen verfügt, benötigt keine reguläre Saunaetikette, denn die Finnen eignen sich das Saunen auf die gleiche Weise an, wie sie sprechen lernen. Für den ausländischen Gast ist es viel besser, die finnische Sauna in Gesellschaft eines finnischen Freundes oder Bekannten kennen zu lernen anstatt sich an irgendwelche mechanischen Anweisungen zu halten, in denen der Saunabesuch als eine Kette von Verrichtungen dargestellt wird, die nach einem exakten, auf die Minute genauen Schema ablaufen.

Wenn Gäste dabei sind, gehen Frauen und Männer gewöhnlich getrennt in die Sauna. Öffentliche Mischsaunen gehören nicht zur finnischen Saunakultur. Schließt das gesellige Beisammensein von Freunden und Bekannten einen Saunabesuch ein, wird üblicherweise vereinbart, wer zuerst an der Reihe ist, Frauen oder Männer. Gewöhnlich fällt die Wahl auf die Frauen, besonders dann, wenn von diesen – Emanzipation hin, Gleichberechtigung her – erwartet wird, dass sie nach dem Saunen etwas zu Essen machen. Da die Finnen ziemlich oft in die Sauna gehen – auf ihren Sommerhäusern mehrere Male pro Woche oder sogar täglich – ist es unter Bekannten und Freunden nichts Verwerfliches, falls jemand keine Lust auf die Sauna hat. Wenn hingegen dem ausländischen Gast beim Gedanken an die bevorstehende »Tortur « mulmig wird und er deshalb kneifen möchte, dann sollte er bedenken, dass die für ihn geheizte Sauna der Stolz seiner Gastgeber ist und dass er für eine Verweigerung nur bei plausiblen gesundheitlichen Gründen mit ehrlich gemeintem Verständnis rechnen kann.

Die finnische Art zu saunen ist aufgrund ihres natürlichen Hintergrunds höchst individuell – niemand käme auf die Idee, dem anderen zu sagen, er saune falsch. Hier kann auch der Gast ansetzen: Beim Saunen lauscht jeder seinem eigenen Körper und folgt seinem eigenen Rhythmus, wenn er zwischen Sauna, Waschraum, dem Freien und vielleicht dem See bzw. dem Meer hin und her wechselt. Am einfachsten folgt man dem Beispiel der anderen, ohne aber Übertreibungen mitzumachen: Manche finnische Männer haben das Bedürfnis, ihr »Sisu« unter Beweis zu stellen und in der kochend heißen Sauna unmenschlich lange auszuharren. Der weise Gast flüchtet in einer solchen Situation ins Freie, um sich mit einem Getränk zu erfrischen und sich an der Landschaft zu erfreuen. Auf der anderen Seite kann er sich bedenkenlos an Ritualien beteiligen, die ihm seltsam anmuten mögen: Das Gefühl, das sich des Körpers bemächtigt, wenn man ihn in der heißen, dampfgeschwängerten Sauna mit einem Quast aus Birkenzweigen peitscht, ist für viele eine angenehme Überraschung.

Der Saunaabend wird ohne Hektik verbracht. Nach Beendigung des eigentlichen Bades ist es üblich, noch eine Zeit plaudernd zusammenzusitzen und dabei kühle Getränke zu genießen, manchmal auch ein leichtes Abendessen. Die Gastgeber freuen sich, wenn ihr Gast seine Saunaerfahrungen kommentiert. Auch Fragen zur Sauna und zur Saunaetikette kommen gut an, denn dies sind Themen, über die zu reden ein Finne nie müde wird. Außerdem ist die Sauna einer der wenigen Orte, wo er bereit ist, Berufliches zu vergessen und über ganz andere Dinge zu reden.

Illustrierung: Mika Rantanen
Publiziert November 2002

 

Inhalt

Nationale Identität

Religion

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