Inhalt
1. Antonia und ihre Welt
2. Antonias Ausritt
3. Antonia erinnert sich
4. Veränderung
5. Antonia hat sich verliebt
6. Antonias Entscheidung
7. Abschied
Traum
Im Traum
suchte ich den Weg zu Dir.
Doch der Weg war weit
und voller Hindernisse.
Ich wußte,
Du wartest auf mich
am Ende des Tals,
bereit,
mich in Deine Arme zu schließen,
voller Liebe,
voller Glut.
Doch, ach!
Dieser Pfad,
er führte ins Nichts,
verlor sich im Nebel.
Ich lief und lief
voller Sehnsucht nach Dir.
Ich wachte auf
und fragte mich:
bin ich jemals bei Dir angekommen?
Aufseufzend schrieb Antonia die letzte Zeile des Gedichtes und legte dann die Feder aus der Hand. Wieder einmal hatte sie diesen sehnsuchtsvollen Traum gehabt, aus dem sie mit solch bangem Gefühl aufwachte.
Sie stand auf und ging zum Fenster ihres Schlafzimmers. Gedankenverloren blickte sie hinaus in die liebliche Landschaft, über Hügel und Täler, die von der gerade aufgehenden Sonne in sanftes Morgenlicht getaucht wurden.
Dieser merkwürdige Traum! Er ging ihr nicht mehr aus dem Sinn.
Warum nur träume ich
ihn immer wieder?, fragte sie sich.
Ich bin doch glücklich mit
meinem Leben, und ich habe alles, was ich brauche.
Prinzessin Antonia war das siebte von insgesamt zehn Geschwistern, die inzwischen alle ihr Zuhause verlassen und sich mit ihren Ehemännern und -frauen in den umliegenden Landgütern niedergelassen und eigene Familien gegründet hatten. Übriggeblieben war nur noch Prinzessin Antonia. Sie lebte mir ihren alten Eltern auf einer malerisch gelegenen Burg in der Nähe von Montecatini, unweit von Florenz und dem ligurischen Meer. An manchen Tagen, wenn der Wind günstig stand, hatte man das Salz des Meeres auf den Lippen.
Prinzessin Antonia war 18 Jahre jung und ein großes, schlankes Mädchen. Sie hatte lange, blonde Haare, die in weichen Locken über ihre Schultern fielen. Ihre großen dunkelbraunen Augen bildeten einen reizvollen Kontrast zu ihrer hellen Mähne. Sie war ein umgängliches, sanftes Mädchen, und alle auf der Burg liebten sie sehr.
Antonia verbrachte viel Zeit mit Lesen, Schreiben und Nachdenken, was für ein junges Mädchen, das vor über 100 Jahren lebte, sehr ungewöhnlich war. Mit ihrem wunderschönen Schimmel, den sie zu ihrem 18. Geburtstag von ihrem Vater geschenkt bekommen hatte, machte sie lange Ausritte durch die atemberaubend schöne Landschaft der toskanischen Berge und Täler. Manchmal ritt sie sogar bis ans Meer und blickte von den Klippen hinunter in das blaugrüne Wasser, das sich tosend an den Felsen brach.
Doch am allerliebsten spielte sie
auf ihrem Flügel, eigenartig sehnsüchtige Weisen, die alle Vorübergehenden
aufhorchen und verweilen ließen. Solch eine Musik hatten sie noch
nie zuvor gehört, und niemand wußte, wer sie einst komponiert
hatte. Nur wenige Vertraute der Prinzessin wußten, daß es sie
selbst war, die sich diese Melodien erdachte. Wenn sie traurig oder besonders
glücklich war - was sehr selten vorkam - setzte sie sich an ihr Klavier
und fing an zu spielen.
Es war, als ob sich ihre Hände
losgelöst von ihr über die Tasten bewegten. Die Prinzessin spielte
nie dieselben Stücke, es waren immer neue, wunderbare Weisen, die
aus ihr herausflossen.
Nie schrieb sie die Stücke
auf. Wenn man sie fragte, warum sie dies nicht tue, antwortete sie mit
einem versonnenen Lächeln:
„Wozu aufschreiben? Ich selbst bin die Musik. Sie ist, solange ich lebe, in mir, und sie lebt nur, solange ich lebe. Wenn ich eines Tages nicht mehr bin, ist auch meine Musik gestorben. So ist es gut, und so soll es auch weiterhin bleiben.“
Die Prinzessin war nicht nur eine
begnadete Pianistin. Im Laufe der Zeit hatte sie sich auch ein großes
Wissen erworben. Sie sprach fließend in sechs Sprachen, selbst in
der Sprache des Reiches der Mitte, dem Mandarin, konnte sie sich mühelos
verständigen. Ohne Probleme übersetzte sie die schwierigsten
lateinischen Texte er römischen Philosophen und Dichter, von denen
sie Ovid ganz besonders schätzte. Sie war sehr bewandert in
Geographie und konnte die kompliziertesten Fragen beantworten. Mühelos
skizzierte sie Karten der verschiedensten Länder und bestimmte bis
auf den Punkt genau die Lage einzelner Gebirge oder Städte. Neben
ihrer geliebten Musik war Geographie
ihre große Leidenschaft. Oftmals, wenn sie nicht gerade auf
ihrem Flügel ihre wundervolle Musik spielte, saß sie am Fenster
ihres Turmzimmers und blickte gedankenverloren hinaus in die herrliche
Landschaft ihrer Heimat. Sie stellte sich vor, daß sie eine große
Expedition unternähme, irgendwo in Afrika oder Asien oder einem
anderen fernen Land. Sie sah alles genau vor sich: die weiten Steppen und
Savannen, die blauen Berge von Kenia und Malawi, die Elefantenherden, die
gemächlich zum Fluß herunter wanderten. Oder die Herden
der behenden, grazilen Gazellen,
die auf der Flucht vor hungrigen Löwen pfeilschnell in alle Windrichtungen
weggaloppierten.
Ganz besonders fasziniert war sie
von den sagenumwobenen, orientalischen Städten im fernen Asien und
den prächtigen, duftenden Gärten, in denen prachtvoll gekleidete
Männer und Frauen lustwandelten.
Sie wußte, daß sie diese Länder nie sehen würde, denn zu ihrer Zeit war das Reisen noch sehr beschwerlich und nur einigen wenigen Forschern vorbehalten. Wenn ein neuer Reisebericht oder eine Veröffentlichung über archäologische Ausgrabungen im fernen Orient erschien, war die Prinzessin eine der ersten, die ein Exemplar davon in den Händen hielt.
In dem Turmzimmer der Burg hatte sich Prinzessin Antonia eine kleine Sternwarte eingerichtet. In mancher heller Nacht saß sie an dem Teleskop und blickte traumverloren in die Unendlichkeit des südlichen Sternenhimmels. Sie versuchte sich die unermeßliche Weite des Alls vorzustellen:
Wenn das Sternenlicht hier
bei uns auf der Erde ankommt, existieren die Sterne bereits nicht mehr.
Das heißt also, was wir hier als Jetzt betrachten, ist im gleichen
Augenblick da oben bereits Vergangenheit, dachte sie. Wie kurz ist, daran
gemessen, mein Leben und das aller Menschen auf der Erde.
Antonias Eltern waren inzwischen
in die Jahre gekommen und machten sich Sorgen um ihr jüngstes Kind,
das inzwischen zu einer erwachsenen, blühenden jungen Frau herangewachsen
war. Viele junge Männer aus den umliegenden Ländereien hatten
in der Burg vorgesprochen und um die schöne Prinzessin geworben,
umsonst. Allen hatte das kapriziöse Kind eine Absage erteilt.
Keiner der Kandidaten entsprach ihren Vorstellungen. Die jungen Männer
waren zwar alle
von edler Herkunft und verfügten
neben ansehnlichen Reichtümern auch über eine solide Allgemeinbildung.
Trotzdem vermißte die Prinzessin irgendwas an ihnen. Sie wußte
nicht genau, was es war, dazu war sie noch viel zu jung und ohne Erfahrung.
Sie spürte lediglich, daß alle jungen Männer sie kalt ließen.
Wozu also einen von ihnen heiraten und Kinder von ihm bekommen? Sie stellte
sich ihren Mann und ihr Leben mit ihm einfach anders vor. Zu sehr liebte
sie auch ihre Unabhängigkeit, ihre Musik und ihre Studien.
Inzwischen hatte sie mehr als zwanzig Bewerber abgewiesen, und die Leute in ihrer Umgebung sahen es als fast aussichtslos an, daß sie jemals heiraten und die Burg verlassen würde. Man hatte sich fast damit abgefunden, nur ihre alten Eltern hatten noch etwas Hoffnung, daß sich vielleicht doch noch ein geeigneter Heiratskandidat finden würde. Auf keinen Fall wollten sie aber ihre Tochter zu einer Heirat zwingen. Dazu liebten sie sie zu sehr. Außerdem hatten sie es selbst in ihrer Ehe erfahren, wie wichtig es ist, wenn man sich gut miteinander versteht. Beide hatten ebenfalls aus Liebe geheiratet, und nach all den Jahren liebten sie sich noch immer. Keiner konnte ohne den anderen sein.
2. ANTONIAS AUSRITT
Eines Morgens machte Prinzessin
Antonia einen längeren Ausritt auf ihrem Schimmel. Es war Frühling
und die Natur aus ihrem Winterschlaf erwacht. Alles grünte und blühte.
Die Weiden unten am Fluß hatten sich über und über
mit flaumigen Weidenkätzchen geschmückt und ächzten unter
ihrer blühenden Last. In den Wiesen leuchteten weiße Schneeglöckchen
und bunte Krokusse.
Die Luft war lau und roch würzig-frisch.
Die Amseln waren aus ihren Winterquartieren gekommen und sangen ihre lieblichen,
kunstvollen Lieder. Es war ein Tag wie aus dem Märchen und eine Wonne,
auf der Welt zu sein.
Langsam ritt die Prinzessin durch
die blühende Landschaft, den Zauber des Augenblicks mit vollen Zügen
genießend. In ihrem Kopf hörte sie schon jetzt die Musik,
die sie am Abend auf ihrem Flügel spielen würde.
Der leichte Frühlingswind
flatterte in ihrem langen, blonden Locken und ihrem weißen Seidenumhang.
Die Bauern auf den Feldern hielten in ihrer Arbeit inne und schauten dem
schönen jungen Mädchen mit bewundernden Blicken nach.
„Wann sie wohl endlich unter die
Haube kommen mag?“, fragten sie sich.
„Und wer mag wohl der Glückliche
sein?“
Die Prinzessin näherte sich
dem Wäldchen, einem ihrer Lieblingsplätze. Dort wollte sie haltmachen
und sich unter dem alten Baum ein bißchen ausruhen. Die Sonne war
heute schon so warm, daß sie ihre Decke auf dem Waldboden ausbreiten
konnte. Sie liebte es sehr, still in dem grünen, weichen Moos zu liegen
und durch die mächtigen Wipfel des Baumes in den blauen Himmel
zu schauen. Langsam näherte
sie sich dem Rastplatz.
Doch was war das? Jemand hatte sein Lager unter dem alten Baum aufgeschlagen. Sie sah einen südländisch aussehenden, jungen Mann, der auf einem Baumstamm saß. Bekleidet war er mit einem weißen Hemd, einem schwarzen Wams, eng anliegenden, dunkelgrünen Reithosen und schwarzen hohen Stiefel. Keck auf seinem schwarzen, lockigen Haar saß eine kleine schwarz-grüne Kappe.
Prinzessin Antonia wunderte sich: solche Kleidung hatte sie in ihrer Gegend noch nie gesehen. Sie erinnerte sich dunkel an die Bilder eines Reiseberichtes über eine Expedition zum Berg Ararat, einen Bericht, den sie vor einiger Zeit mit großem Interesse gelesen hatte. Die Leute dieser Gegend trugen eine ähnliche Tracht. Aber woher kam dieser merkwürdige Fremde, und was machte er hier?
Langsam ritt sie näher. Kurz vor dem Fremden machte sie halt.
„Ich grüße Euch, Fremder. Was führt Euch in diese Gegend?“
Der Fremde erhob sich langsam, zog seine Kappe vom Kopf und verneigte sich leicht. Er erwiderte ihren Gruß auf italienisch, das er mit einem leichten Akzent sprach.
„Ich grüße Euch, schöne Frau! Ich bin auf der Durchreise nach Spanien, nach Toledo, wo meine Brüder wohnen.
Wir, d.h. mein Gefolge und ich, kommen von sehr weit her, von den Ufern des Tigris. Vielleicht wißt Ihr, wo das ist. Wir wollen in dieser Gegend hier ein wenig Rast machen.
Unsere Reise war sehr anstrengend,
und ein paar von meinen Leuten sind erkrankt. Ich hoffe, es ist nichts
Schlimmes“, sagte er mit seiner dunklen, etwas heiseren Stimme und blickte
sie aufmerksam an.
3. ANTONIA ERINNERT SICH
Prinzessin Antonia erinnerte sich
an die faszinierenden Veröffentlichungen der internationalen Archäologengruppe
unter Leiter des Engländers Major H.C. Rawlinson, die auf den
Spuren der Sumerer und Hethiter durch das Zweistromland des Euphrat und
Tigris gereist war und unter anderem die assyrische Stadt Ninive ausgegraben
hatte. Diese Berichte hatte sie verschlungen,
und wieviel hätte sie darum
gegeben, einmal in dieses sagenumwobene, fruchtbare Land fahren zu können
und all die aufregenden Zeugnisse seiner ruhmreichen Vergangenheit selbst
zu sehen.
Mesopotamien oder das Land des
fruchtbaren Halbmonde, allein schon die Namen erweckten in ihr Sehnsucht:
Namen wie Nebudkadnezar, dem letzten Fürsten auf dem Thron zu Babel,
der ungefähr 600 Jahre vor Christi gelebt hatte, kamen ihr in den
Sinn. Unter seiner Führung waren Baukunst und Literatur noch einmal
zur vollen Blüte gelangt. In der Astronomie hatte es ungeahnte
Fortschritte gegeben: es gelang, Sonnen- und Mondfinsternis vorauszuberechnen.
Man machte Aufzeichnungen über Himmelskörper, die ohne
Unterbrechung über 300 Jahre liefen, die längste, je durchgeführte
astronomische Beobachtungsreihe. Die Resultate übertrafen an Genauigkeit
bis ins 18. Jahrhundert hinein noch die euro-päischer Astronomen.
Fast zweitausend Jahre lang war von den Ländern des fruchtbaren Halbmondes,
dem ältesten Kultur- und Zivilisationszentrum seit der Steinzeit der
Menschheit hellstes Licht ausgegangen, ein Licht, das ca. 500 vor
Christus begann, um dann langsam aber unaufhaltsam für immer
zu verlöschen.
An all das dachte sie, als ihre Blicke auf dem schönen, jungen Mann ruhten, der im Sonnenlicht vor ihr stand und sie mit seinen strahlend weißen Zähnen anlächelte.
Er war genau das, was sie unter einem attraktiven Mann verstand: ebenmäßige, klare Gesichtszüge mit einer ausgeprägten, leicht gebogenen schmalen Nase, großen dunklen Augen, einem ausgeprägten Kinn. Seine Gestalt war schlank, aber durchtrainiert, nicht zu groß. Seine Hautfarbe war die der Menschen aus dem Mittelmeerraum, von einem satten Olivbraun. Sein Haar war dunkel, fast schwarz und ringelte sich in Locken um sein schmales Gesicht. Er erinnerte sie an die in Marmor gehauenen Jünglinge mit ihren edlen Gesichtern und durchtrainierten Körper, auf die man bei den Ausgrabungen in Pompeji gestoßen war und die nun in den Museen in Florenz und Rom zu bewundern waren. Aber dieser hier war echt, aus Fleisch und Blut.
Sein höfliches Räuspern brachte sie zurück in die Gegenwart.
Der junge Mann half der Prinzessin aus dem Sattel und band ihren Schimmel an dem Baum fest. Beide gingen zu dem dicken Baumstamm und setzten sich nieder.
Wie es sich herausstellte, war sein
Italienisch nicht sehr gut, es reichte aus, sich verständlich zu machen.
Die Prinzessin war aber zu fasziniert von der Schönheit des Fremden
und achtete nicht weiter darauf. Beide kamen schnell miteinander ins Gespräch.
Mit seinem kleinen Akzent fing er an zu erzählen, von seiner langen
Reise, seinen Abenteuern, die er mit seinen Kameraden erlebt hatte und
den Gefahren, die überall
auf die Reisenden lauerten. Einmal, in Südalbanien seien sie von mordlustigen
Wegelagerer überfallen worden, und allein der Schnelligkeit ihrer
Pferde sei es zu verdanken gewesen, daß sie nur mit ein paar Kratzern
davon gekommen waren. Einer seiner Männer hätte allerdings eine
leichte Verwundung an der Schulter, die er vor der Weiterreise
auskurieren müsse.
Prinzessin Antonia lauschte mit großem Interesse den Worten des Fremden. Dieser übte einen eigenartigen Reiz auf sie aus, den sie sich kaum erklären konnte. Ein Mann aus dem sagenumwobenen Land am Tigris! Sie fühlte, daß diese Begegnung ihr weiteres Leben beeinflussen würde. Sie riß sich aus ihren Gedanken los und stand auf:
„Ich muß zurück auf die Burg. Dort wartet man bestimmt schon auf mich und macht sich vielleicht schon Sorgen, wo ich denn bleibe.“
Der Fremde war traurig, daß sie schon gehen mußte. Höflich half er ihr in den Sattel und meinte:
„Wie schade, daß Ihr nicht mehr Zeit habt. Ich hätte noch gerne weiter mit Euch geplaudert. Aber vielleicht kommt Ihr morgen wieder hierher. Ein paar Tage bleibe ich ja noch in dieser Gegend und da wäre es wunderbar, wenn ich Euch wiedersehen könnte!
In ein paar Tagen muß ich weiterreiten. Mein Weg ist noch weit, und in Toledo warten meine Brüder schon ungeduldig auf mich.“
Zuhause angekommen, nach dem Abendessen
im große n Saal, setzte sich Prinzessin Antonia an ihren Flügel
und ließ ihre Hände sanft über die Tasten gleiten. An diesem
Abend spielte sie eine so innige Weise, daß alle Bewohner der Burg
still saßen und lauschten.
4. VERÄNDERUNG
Etwas war mit der Prinzessin passiert. Sie spürte es, wußte aber noch nicht genau, was es war. Vor dem Zubettgehen setzte sie sich vor dem Spiegel, löste ihre langen Zöpfe und fing an, ihr glänzendes, dunkelblondes Haar zu kämmen. Vielleicht gefalle ich ihm genauso wie er mir gefällt, dachte sie versunken in ihren Anblick.
Später, in ihren Träumen, ritt sie Seite an Seite mit ihm durch blühende Wiesen und Täler, ihr Schimmel und sein schwarzer Hengst glänzten im Sonnenlicht. Sie waren ein wunderschönes Paar.
Am nächsten Tag zog es sie
mit aller Macht wieder zu dem Wald. Es war um die Mittagsstunde, als sie
ihn fand. Er lag ausgestreckt auf einem großen Schaffell im Halbschatten
unter dem alten Baum und schlief.
Sein Hengst weidete friedlich auf
der saftigen grünen Wiese ein paar Meter weiter. Als sie sich näherte,
wieherte das edle Tier leise.
Der Fremde erwachte und setzte sich auf. Lächelnd blickte er ihr entgegen. Seine weißen Zähne blitzten in seinem dunklen Gesicht. Grüßend hob er seine rechte Hand.
Bei seinem Anblick schlug ihr Herz
schneller. Ist das der Mann, der für mich bestimmt ist?, fragte sie
sich. Die ganze Situation kam ihr vor wie einem Märchen. In ihrem
Traum war sie ja schon
mit ihm zusammen gewesen, hatte
mit ihm dieser wunderbaren Ausritt gemacht. Traum und Wirklichkeit stimmen
jetzt überein, dachte sie. Und wie sehr hatte sie sich immer
eine solche Situation herbeigesehnt.
Der Fremde half ihr galant vom Pferd
und geleitete sie zu seiner Decke. Sie setzten sich nieder.
„Erzählt mir von Euch“, bat
er sie.
„Gestern habe ich nur von mir gesprochen. Und dabei möchte ich doch alles über Euch wissen!“
Antonia fing an, von ihrem Leben auf der Burg zu berichten , von ihren Schwestern und Brüdern, ihren Eltern und allen anderen Menschen, die dort lebten. Sie sprach von ihren Studien und ihrer Musik.
„Und warum seid ihr noch immer bei den Eltern und nicht verheiratet mit einem netten Mann?
Sie erwiderte, es hätten schon so viele junge Männer aus den umliegenden Ländereien um ihre Hand angehalten. Aber bis zu diesem Tag sei noch nicht der Mann dabei gewesen, den sie sich erträumt hätte.
„Alle hatten irgendwo einen Haken“, sagte sie lachend, selbst erstaunt über ihre Freimütigkeit.
Der Fremde nahm langsam seine Kappe von seinem Kopf und setzte sie behutsam auf ihr blondes Haar.
„Ihr solltet auch so eine Kappe tragen, sie steht Euch sehr gut. Ganz zauberhaft seht Ihr damit aus,“ sagte er leise und nahm ihre Hand.
Langsam zog er sie an sich, legte seine Arme um sie und berührte mit seinen Lippen zärtlich ihren Mund.
Das hatte noch kein Mann mit mir ihr gemacht. Doch sie hielt still, ließ es zu, daß er sie noch fester in seine Arme nahm und sie zärtlich, aber bestimmt auf das große weiche Fell niederdrückte.
Er war ein sehr zärtlicher Mann. Seine schönen, starken Hände streichelten ihren schlanken Körper und lösten in ihr Gefühle aus, die sie bis zu diesem Zeitpunkt nur erahnt hatte. Es war, als ob sie direkt hinauf in den Himmel flöge und auf einer weichen duftigen Wolke durch die Lüfte schwebte.
Später als beide ruhig und glücklich eng umschlungen nebeneinander lagen, blickte sie durch die grünen Zweige des alten Baumes hinauf zu dem weiß-blauen Himmel. Sie sah zu, wie sich Wolkenbilder formten und wieder vergingen.
„Sie sind wie das Glück“, dachte sie. „Sie sind plötzlich da, verändern sich und vergehen wieder. Man kann sie nicht festhalten, man kann nur daliegen, zuschauen und es zulassen. Sie gehorchen einem eigenen Gesetz, sind unabhängig von jedem menschlichen Willen.“
Sie betrachtete das schöne, fremdartige Gesicht des neben ihr ruhenden, jungen Mannes.
Ist das der Mann aus meinem Traum? fragte sie sich.
Er ist so schön, daß
ich ihn ständig anschauen und berühren möchte. Aber vielleicht
ist es mit ihm genauso wie mit den Wolken: ich werde ihn nicht festhalten
können.
Glück
Glück
ist wie das Wolkenbild
am blauen Sommerhimmel,
das sich formt
und wieder verweht.
Glück
ist wie das Meer,
das im Laufe der Gezeiten
mal stürmisch ist, mal
spiegelglatt.
Glück
ist wie der Frühlingswind,
der blütenduftend Dein
Gesicht liebkost.
Glück
ist wie die Blume,
die zu voller Pracht erblüht
und dann vergeht.
Glück
ist wie die Melodie,
die leis` erklingt
und jäh verstummt.
Glück
ist wie alles Flüchtige,
das sich Deinem Griff entzieht.
Es läßt sich nicht
besitzen.
Wie schön,
wenn Dir das Glück begegnet,
irgendwann einmal,
für einen Tag,
eine Stunde oder
einen kurzen Augenblick.
Sei nicht traurig,
daß Du das Glück
nicht halten kannst.
Es kann Dir jederzeit,
überall,
wieder begegnen,
überraschend,
unerwartet.
5. ANTONIA HAT SICH VERLIEBT
In den nächsten Tagen ritten sie zusammen auf ihren Pferden durch die Frühlingslandschaft der toskanischen Berge. Wo immer sie Lust zum Rasten hatten, breiteten sie das große Fell auf dem Boden aus und liebten sich mit der ganzen Kraft ihrer jungen Herzen.
Prinzessin Antonia war glücklich
wie nie zuvor und genoß die Stunden mit diesem schönen Fremden,
der ihr jetzt so vertraut geworden war. In langen Gesprächen lernten
sie einander immer besser kennen. Ihr Begleiter war von der Fülle
ihres Wissens sehr beeindruckt. In seinem Land waren gebildete Frauen sehr
selten, weil die dortige Gesellschaftsordnung den Frauen
eine andere Rolle zuwies: sie hatten
ihrem Mann zu gehorchen und ihr Platz war am Herd und bei den Kindern.
Prinzessin Antonia erkannte klar, daß ihr Glück nicht ewig dauern konnte. Sie kamen beide aus zu unterschiedlichen Welten, und diese Tatsache barg nur jeden erdenklichen Konfliktstoff in sich.
Er war der schöne Fremde aus
dem Orient, einer Welt, deren Gesetze anders waren als die ihrer italienischen
Heimat. In seiner Welt war kein Platz für Frauen, die lasen, studierten
oder gar musizierten. Eines Tages wäre sie aus ihrer Verzauberung
erwacht und hätte erkennen müssen, daß sie in einem ehernen
Netz von Traditionen und Vorschriften gefangen gehalten wurde.
Selbst seine Liebe hätte dieses
Netz nicht sprengen können.
Sie war so glücklich mit diesem Mann, und gleichzeitig war ihr Herz so schwer. In ihrem Kopf entstand die wundervollste Musik, die sie jemals erdacht hatte, heitere, beschwingte Weisen, leidenschaftliche Klänge, die ihre Liebe widerspiegelten und, angesichts der Ausweglosigkeit ihrer Situation, melancholische, wehmütige Lieder. Alles zusammen formte sich zu der schönsten Sinfonie, die jemals komponiert wurde.
Dieses Mal will ich die Noten aufschreiben, damit ich mich immer an diese Zeit mit ihm erinnere. Es ist die Musik meines Lebens, meines Glücks, sagte sie sich wehmütig. Ich habe die Liebe meines Lebens getroffen und sogleich wieder verloren. Das Glück ist doch wie die Wolke am Himmel, die auftaucht und wieder vergeht.
Zuhause schrieb sie in ihr Tagebuch:
Ohne Dich
muß ich mein Leben,
mein Ich,
neu definieren.
Du hast zu mir gesagt,
ich sei Deine Blume,
die Du gießt und
die Du hegst.
Es ist wahr:
ich bin Deine Blume,
nach der Du schaust,
die Du gießt,
die ohne Deine Liebe
verdorren würde.
Noch lange Zeit saß sie über
diesen Zeilen und blickte aus ihrem Fenster hinaus in die friedliche Abendlandschaft.
Die Sonne war gerade am Untergehen und tauchte das Land in ein purpurfarbenes
Licht. Auch die Eltern der Prinzessin bemerkten bald, wie sehr sich ihre
Tochter
verändert hatte. Sie machten
sich Sorgen und befragten sie eindringlich. Prinzessin Antonia erzählte
von ihrer Begegnung mit ihrem geheimnisvollen Fremden. Ihre Eltern, die
noch immer hofften, daß ihre Tochter vielleicht doch bald eine
Verbindung mit einem der jungen Männer aus den
umliegenden Besitztümern eingehen
würde, reagierten bestürzt.
„Antonia hat zu viel gelesen und
nur Flausen im Kopf“, sagten sie zueinander und schüttelten resigniert
ihre ergrauten Köpfe. Sie machten sich große Sorgen um ihr Kind,
und in ihrer Not verboten sie ihr, sich weiter mit dem Fremden zu treffen.
Noch nie zuvor hatten sie ihrer
Tochter etwas abgeschlagen, aber
dieses Mal mußte es sein.
Prinzessin Antonia jedoch fand Mittel und Wege, dieses Verbot zu umgehen. Wann immer sie konnte, stahl sie sich davon, um ihren Liebsten zu treffen und nahe bei ihm zu sein.
Der Fremde sagte zu ihr:
„Ich kann verstehen, daß
Eure Eltern dagegen sind, daß Ihr mit mir zusammen seid.
Sie kennen mich ja nicht
und wissen nur, daß ich von weit her komme, aus einem Land,
wo alles so anders ist. Ihr müßt selbst wissen, was Ihr tut,
wenn Ihr mich weiter trefft. Verlangen kann ich es nicht, und ich würde
es verstehen, wenn Ihr Euch gegen mich entscheidet.“
Er sprach diese Worte in seinem gebrochenen Italienisch mit seiner dunklen, etwas heiseren Stimme, die sie inzwischen so sehr liebte.
„Aber wenn Ihr mich genau so liebt
wie ich Euch, dann kommt mit mir nach Toledo.
Meine Brüder sind sehr gastfreundlich,
wie wir alle. Sicher wären sie entzückt, eine so schöne
und kluge Frau in ihre Familie aufnehmen zu dürfen. Und stellt
Euch vor: Wir wären dann für immer zusammen!“
Er blickte sie liebevoll an und
küßte sie zart auf ihren roten Mund.
6. ANTONIAS ENTSCHEIDUNG
An diesem Abend spielte sie eine Musik, die eine merkwürdige Spannung ausstrahlte. Eine Musik, die wunderschön und von einer unsäglichen Sehnsucht geprägt war. Danach saß sie noch lange an ihrem Erker und blickte hinaus in die die liebliche toskanische Landschaft.
Antonia dachte:
Wie traumhaft schön doch dieses Land ist. Ich liebe es so sehr, so sehr wie mein eigenes Leben. Wie soll ich es nur über mein Herz bringen und von hier weggehen, in eine ungewisse, fremde Ferne, zu fremden Menschen, die nicht meine Sprache sprechen und von denen ich nicht weiß, ob sie gut zu mir sind.
Wie kann ich wissen, ob ich mein
Leben dort so führen kann, wie ich es gewohnt bin, in absoluter Harmonie?
Und wer kann mir sagen, was aus
meiner Musik wird, ob ich sie dort leben kann? Ohne meine Musik ist mein
Dasein nicht lebenswert. Vielleicht wird sie in der Fremde getötet,
und das wäre auch mein Tod!
In dieser Nacht machte sie kaum
ein Auge zu. Sie sah ihren Geliebten vor sich, seine blitzenden Zähne,
seine zärtliche Stimme. Und dann war dann auf einmal diese Musik in
ihr, so überirdisch schön, daß sie aufstand und zu ihrem
Flügel eilte.
Rhythmus des Lebens
Es wird immer so sein:
Auf die Zeit der Liebe
folgt die Zeit des Schmerzes,
genauso wie auf den Tag
die Nacht folgt
und auf Licht Schatten.
Noch gestern war ich glücklich
in meiner Liebe zu Dir.
Aber dann, über Nacht,
kam der Schmerz,
schlug mich mit aller Kraft,
ließ mich fallen
ins Leere,
nahm mir den Glanz meines
Lebens.
Es wird immer so sein:
Auf Dürre folgt Regen
und frisches, neues Grün.
Auf die Zeit der Leere folgt
- wenn das Schicksal es so will
-
wieder eine Zeit der Liebe.
Die Zärtlichkeit und Wärme
des Anderen lassen Dich
die graue Zeit der Trauer vergessen.
Jeder Mensch ist eingebunden
in diesen Rhythmus,
ob er es will oder nicht.
Denn auch er ist Teil des Universums,
das, aus Veränderung geboren,
sich ständig fließend
erneuert.
Sie spielte den Rest der Nacht.
Die Musik perlte wie flüssiges Silber durch den Äther, über
Feld und Flur. Die Bewohner der Burg horchten auf, drehten sich seufzend
in ihren Betten um und fielen wieder zurück in ihre Träume, die
erfüllt waren mit Musik. Selbst die Tiere spitzten ihre Ohren und
lauschten.
7. ABSCHIED
Der schwarze Hengst des Fremden stand da und wieherte leise. Der Fremde erwachte auf aus seinem Schlaf und hörte die Musik. Er erhob sich schlaftrunken und setzte sich auf den dicken Baumstamm. Er blickte hinüber zu der im hellen Mondlicht liegenden Burg, wo seine Prinzessin am Flügel saß und ihm mit ihrer Musik ihre Antwort gab:
„Ich liebe Dich so, aber meine Musik liebe ich ebenso. Wenn ich fortgehe von hier, wird sie vielleicht sterben und ich mit ihr.“
Dies sagte die Musik, die zu ihm herüber klang.
Langsam stand der Fremde auf. Mit
einer Hand wischte er sich die Tränen aus seinen Augen.
Dann verstaute er sein Gepäck
in den Satteltaschen seines Hengstes und ritt fort durch die kühle,
helle Frühlingsnacht. Die Klaviermusik wurde leiser und leiser, bis
sie ganz verstummte.
Am nächsten Morgen ritt Prinzessin
Antonia so schnell sie konnte zu der Lichtung. Völlig außer
Atem brachte sie ihren Schimmel zum Stehen und blickte zu dem Baum hinüber,
unter dem sie so oft mit ihrem Liebsten gelegen hatte.
Der Platz war leer. Keine einzige
Spur mehr war von dem Fremden zu sehen. Langsam ging sie zu dem alten Baum
und lehnte sich weinend an ihn.
„Du bist der einzige Zeuge
meines kurzen Glücks. Von nun an werde ich jeden Tag zu Dir kommen
und an deinem Stamm weinen, du lieber alter, treuer Baum. Nur Du weißt,
wie sehr ich diesen Fremden geliebt habe. Ich liebte ihn so sehr, daß
ich ihm alles gegeben habe, meinen Körper und meine Seele. Und trotzdem
habe ich es nicht über mein Herz gebracht, meine Heimat
zu verlassen und mit ihm zu gehen.
Ich werde nie darüber hinwegkommen“,
schluchzte sie verzweifelt in seine rauhe, rissige Rinde.
Die Blätter des alten Baumes
raschelten leise im Wind, als wollten sie ihr eine Antwort geben.
Die Prinzessin ließ sich ins Gras gleiten und blieb mit geschlossenen Augen liegen. Sie weinte noch immer, bis sie vor Erschöpfung einschlief. Im Traum kam er zu ihr. Sie hörte seine dunkle, heisere Stimme, die in gebrochenem Italienisch zärtlich zu ihr sagte:
„Antonia, cara mia, diese Kappe sollst Du immer tragen. Du siehst wunderschön damit aus!“
Er nahm die Mütze
und setzte sie auf ihre blonden Haare. Dann fühlte sie seine zärtlichen
Lippen, die ihr die Tränen auf den Wangen fortküßten. Seine
schlanken Hände streichelten sie mit unendlicher Behutsamkeit.
Antonias Lied
Leise raunend
weht der laue Sommerwind
durch den alten Baum,
singt eine Weise
vom verlorenen Glück.
Mein Glück war wie ein
Traum,
der viel zu schnell
zu Ende ging.
Unter meinem lieben
alten Baum
hab’ ich es wiedergefunden
dies kurze Glück
in einem langen Traum.
E n d e