Das Volk der Vishnoi

In Indien gibt es noch viele Urvoelker, die weit ausserhalb der Staedte wohnen und praktisch ausschliesslich von der Landwirtschaft leben. In diesen Regionen haben alte Traditionen und Rituale immer noch einen hohen Stellenwert im Alltag und Schulbildung gibt es praktisch kaum (ca. 40% der indischen Bevoelkerung sind Analphabeten).
Ein Volk, das mir besonders Eindruck machte, ist das Volk der Vishnoi. Sie leben in der Naehe von Jodphur in der Wueste von Radjasthan. Eine Chilenin und ich (wer haette gedacht, dass ich mein Spanisch praktizieren kann hier in Indien?) haben uns in Jodphur einen Fuehrer angeheuert und machten uns auf den staubigen Strassen auf den Weg in die Wueste. Wir waren beide heilfroh aus dem Verkehr und Gestank Jodphurs rauszukommen. Beim Stadtausgang sahen wir noch gelegentlich ein Kamel, das eine Karre zog...

Kamel mit Karre

...weiter ausserhalb der Stadt traf man dann nur noch Fahrraeder und Traktoren und auch hie und da eine Bajaj (sprich: Badschadsch), die indische Vespa...

Bajaj

...bis die Strasse dann ploetzlich leer wurde und wir schliesslich gar niemanden mehr antraffen...

Wueste von Jodphur

...wie schoen war doch diese ploetzliche Ruhe! In Indien ist man naemlich meistens einem konstanten Laermpegel ausgesetzt. Die Mehrheit der Inder lebt in den Staedten auf sehr engem Raum zusammen und produziert darum verstaendlicherweise viel Laerm, Abgas und Abfall. So kommt es, dass man praktisch nie alleine ist -ausser beim Schlafen oder auf der Toilette ;-)
Dementsprechend schoen ist es dann jeweils wieder mal alleine zu sein und die Ruhe geniessen zu koennen!
Nach ca. einstuendiger Fahrt kamen wir schliesslich im Dorf der Vishnoi an -wobei man nicht unbedingt von einem Dorf sprechen kann: Hier liegen wild verstreut, im Abstand von mehreren Kilometern, einige Haeuser im Schatten der wenigen Baeume.

Vishnoi

Bei unserer Ankunft wurden wir freundlich begruesst. Die Vishnoi-Frauen tragen einen massiven goldenen Nasenring, an dem eine Kette befestigt ist, die bis zum Ohrring reicht.

Empfang bei den Vishnoi

Die Vishnoi haben eine eigene Religion: fuer sie sind Tiere und Baeume heilig! Darum essen sie kein Fleisch, was ja noch nicht so aussergewoehnlich ist. Aber da fuer sie auch die Baeume heilig sind, werden keine Baeume gefaellt. Beim Bau ihrer Haeuser wird also kein Holz verwendet und Feuer fuers Kochen wird hier mit gesammelten Zweigen von Bueschen und mit Kuhfladen gemacht, die zuvor an der Sonne getrocknet und dann zu einem Haufen aufgetuermt werden.

Kuhfladen

Vor ca. 300 Jahren wurden auf Befehl des Mahrajas von Jodphur in dieser Gegend fuer den Bau von Haeusern Baeume gefaellt. Die Vishnoi wollten nicht hilflos zusehen, wie die fuer sie heiligen Baeume zersaegt wurden und umarmten als lebendige Schutzschilder die Baumstaemme. 363 Vishnois wurden dabei einfach niedergemetzelt, bis der Maharaja davon erfuhr und ein Gesetz erlies, welches das Holzfaellen in der Region der Vishnoi verbietet. Die Vishnoi haben daraufhin ein Denkmal fuer die vielen Opfer erstellt und feiern seither einmal pro Jahr die "Befreiung" der Baeume.

Wir wurden freundlich hereingebeten und es wurde sogleich ein Feuer gemacht und Jai (Gewuerztee) zubereitet.

Jai!

Da wir so freundlich bewirtet wurden, wollten wir der Familie ein Trinkgeld geben! Sie wehrten dankend ab und sagten uns, dass es ihnen eine Ehre sei, Gaeste zu empfangen und zu bewirten. Sie haetten immer sehr Freude, wenn jemand komme und sie besuche. Wir wussten zwar, dass sich selten ein Tourist in diese Gegend "verirrt", aber dass sie kein Geld entgegen nehmen wollten, damit hatten wir wirklich nicht gerechnet, da wir in Indien die Erfahrung gemacht haben, dass niemand etwas freiwillig oder ohne Hintergedanken macht (zumindest da wo es Touristen hat). Es gelang uns dann trotzdem ihnen eine Kleinigkeit dazulassen -es ist ja nicht so, dass sie es nicht gebrauchen koennten.
Solche und aehnliche Erfahrungen habe ich schon oft gemacht auf meiner Reise -und meine Erkenntnis ist: Je weniger die Leute haben, umso eher sind sie bereit zu teilen! Arme Voelker sind in vielen Beziehungen sozialer als wir, obwohl wir unsere Gesellschaft immer als besonders sozial ansehen und die Schweiz auch oft als "Sozialstaat" bezeichnen. Darunter verstehen wir aber vor allem, dass Alte und Behinderte in Heimen untergebracht werden. Dies kann sicherlich auch "sozial" genannt werden, doch gehen damit die direkten sozialen Qualitaeten von Mensch zu Mitmensch verloren! In armen Laender existieren moderne Organisationen wie AHV, ALV, IV, usw. nicht. Die Lebensversicherung oder Altersvorsorge sind die eigenen Kinder, also die Familie. Darum ist hier jeder auf seinen Mitmenschen angewiesen und handelt auch entsprechend. Und dies ist immer wieder etwas vorueber ich staune auf meiner Reise -wir koennten echt was lernen von diesen Menschen!

Nach dem Besuch der Vishnoi fuhren wir weiter und besuchten eine andere Familie, wo wir unser Mitagessen einnahmen. Vor dem Mittagessen mussten wir jedoch zuerst noch Opium probieren!

Opium

Keine Angst! Opium in kleinen Mengen ist gesund und wird auch oft zu medizinischen Zwecken eingesetzt. Zuerst wird das Opium mit einem Moerser zermahlt und dann mit Wasser gemischt. Anschliessend wird das Wasser durch einen Filter geleert, so dass die Opiumkoerner zurueckbleiben. Das gefilterte Wasser wird dann getrunken, wobei zuerst dem Opiumgott ein Schluck geopfert wird. Nach dieser etwas seltsamen Zeremonie waren wir dann an der Reihe! Die Fluessigkeit schmeckte bitter und hatte ueberhaupt keinen Effekt...schon klar, dass sie uns nicht die volle Dosis verabreichten! Naja, jetzt koennen wir jedenfalls sagen, dass wir es mal probiert haben ;-)
Waehrend dem bereitete die Tochter des "Opiummannes" unser Essen zu.

Was gibts wohl gutes?

Das Menu bestand aus Dal (Linsenbruehe), einem undefinierbaren Gemuese (aehnlich wie gedoerrte Bohnen) und Naan (Brotfladen).

Mmmmhh!

Mmmmhhh! Echt gut! Das Problem ist nur, dass die Leute hier praktisch jeden Tag dasselbe essen, da wegen des trockenen Klimas nicht viele verschiedene Pflanzenarten gedeihen koennen.

Ich stelle mir vor, dass das Leben hier draussen in der Wueste sehr hart ist, da man taeglich dem heissen Wetter ausgesetzt ist und die Arbeit auf dem Feld noch vollstaendig von Hand verrichtet wird. Der Boden ist zwar nicht sehr fruchtbar, aber die dreimonatige Monsunzeit reicht aus, um in Brunnen genuegend Wasser sammeln zu koennen, damir fuer das ganze Jahr Wasser fuer Land, Tiere und Menschen zur Verfuegung steht. Die Leute gehen hier aber viel bewusster um mit Wasser, da es oft mehrere hundert Meter von entlegenen Brunnen bis zum Haus getragen werden muss.

Der Besuch bei den Vishnoi war sehr eindruecklich, da wir hautnah miterleben konnten, wie diese Leute leben und wie sie ihren Alltag mit einfachsten Mitteln meistern.Solche Erlebnisse erinnern mich immer wieder daran, wie gut ich es doch habe!

Andi
18.03.04, Jodphur, Indien