Schnitzlers Reigen
Der Handkuss des Grafen
Der Handkuss des Grafen nimmt eine Sonderstellung im Reigen ein. Er findet in der letzten Szene statt. Es ist die einzige Szene, in der kein Liebesakt vorkommt, in der bis zum Schluss im Unklaren bleibt, ob der Graf nun mit der Dirne geschlafen hat, oder ob nicht. Auf der gesellschaftlichen Ebene kann man das so lesen, dass die feudale Gesellschaft ihrem Ende zugeht, und nun mit der bürgerlichen Gesellschaft keine Gemeinsamkeit mehr hat - die Adligen befinden sich zwar noch im Zimmer der Gesellschaft, sie sind aber schon sehr fremd darin, sie finden sich darin nicht zurecht. Dies führt schon auf eine andere Ebene, zu Nietzsche. Reiz und Sprache haben beim Grafen keinen Zusammenhang, seine Worte sind, mit Nietzsche gesprochen, abgegriffene Münzen, die ihr Bild verloren haben. Der lange Monolog zu Beginn der Szene zeigt die Unbeholfenheit des Grafen in dieser Situation. Die ganzen Überlegungen des Grafen bringen ihm keine Erkenntnis. Sie finden alle auf der Ebene der Worte statt, ohne dass die Worte jedoch einen Reiz auslösen würden oder die Worte aufgrund eines Reizes entstanden wären. Zu seinen Worten findet er kein Bild - er reibt sich von Anfang an die Augen. Er schaut um sich, erinnert sich an nichts. Eine mögliche Erinnerung bräuchte ein Bild und einen Reiz, der Reiz aber fehlt in der letzten Szene - zur Dirne im Bett am Morgen danach weiß er nicht mehr zu sagen, als dass sie da liege - an einen Liebesakt kann er sich nicht mehr erinnern.
Graf: bewegt sich, reibt sich die Augen, erhebt sich rasch, bleibt sitzen, schaut um sich Ja, wie bin ich denn... Ah so... Also bin ich richtig mit dem Frauenzimmer nach Haus... Er steht rasch auf, sieht ihr Bett Da liegt s´ja... Was einem noch alles in meinem Alter passieren kann. Ich hab´keine Idee, haben s´mich da raufgetragen?
Der Graf befindet sich in einem anderen Kontext als die Dirne. Seine Reize sind aus der feudalen Zeit, seiner Zeit. Dies zeigt sich in besonderer Weise beim Handkuss. Bevor er ihre Hand küsst, bittet die Dirne ihn um einen Kuss. Auf der Gesprächsebene reagiert er sofort, und beugt sich zu ihr hinunter. Den Kuss gibt er dann aber nicht, sondern besinnt sich, und gibt als Erklärung, dass er hat fortgehen wollen. Er kann den Kuss nicht geben, da ihm der Reiz dazu fehlt. Der Kuss als Kommunikationsform gesehen findet nicht statt. Dies entlarvt auch den Wortwechsel vor dem Kuss als Worthülsen.
Dirne: wacht auf Na...wer ist denn in aller Früh - ? Erkennt ihn Servus, Bubi!
Graf: Guten Morgen. Hast gut g´schlafen?
Dirne: reckt sich Ah, komm her. Pussi geben.
Graf: beugt sich zu ihr herab, besinnt sich, wieder fort Ich hab´grad fortgehen wollen...
Erst der Reiz der Kommunikation auf der Ebene des Kusses löst bei ihm seine eigentliche Absicht aus: Im Moment des Hinunterbeugens spricht der Graf aus, dass er habe gehen wollen. Im nachfolgenden Gespräch weicht er dieser Wirklichkeit aus. Er hat sich auf die Ebene des Gesprächs begeben, die er ohne einen eigentlichen Reiz führt. Die Wahrheit über seine Existenz versteckt er hinter seinen Worten - das Wort “Fortgehen” kommt nicht mehr darin vor.
Dirne: Fortgehen?
Graf: Es ist wirklich die höchste Zeit.
Dirne: So willst du fortgehen?
Graf: fast verlegen So...
Der Graf hängt an anderen Formen der Kommunikation. Es sind die der feudalen Gesellschaft. Zur Verabschiedung will er der Dirne die Hand geben. Er schüttelt sie aber nicht, wie es sich für die bürgerliche Gesellschaft gehört, sondern er gibt ihr jetzt den Kuss, in der Art seiner - schon vergangenen - Lebensform: den Handkuss. Entscheidend ist auch, dass Schnitzler die
Mechanik dieser Geste wiederholt, und den Grafen selbst lachen lässt. Es macht ihm Freude, sich in seine Rolle, die es nicht mehr gibt, zurückzuverwandeln. Seine Reaktion auf die gegebene Hand lässt ihn seine Worte sagen: wie einer Prinzessin. Das ist sein Kontext, in dem er lebte und handelte. Zum Handkuss hat er ein Bild und einen Reiz. Dass die Dirne die Hand aus der Decke hervor gibt, verstärkt den Eindruck einer verschwundenen Form seines Kontextes.
Dirne: Na, Servus; kommst halt ein anderes Mal.
Graf: Ja, grüß ´dich Gott. Na, willst nicht das Handerl geben?
Dirne: gibt die Hand aus der Decke hervor.
Graf: nimmt die Hand und küsst sie mechanisch, bemerkt es, lacht Wie einer Prinzessin. Übrigens, wenn man nur...
Der Graf begann schon damit, aus der Gesellschaft zu verschwinden. Das zeigt sich an der Geste des Kusses. Während er auf der sprachlichen Ebene noch auf die bürgerliche Gesellschaft, hier in Form der Zusammenkunft der Dirne, eingehen kann, versagt er die Kommunikation auf der Ebene der Reize.
Seine Reize befinden sich im Kontext der Vergangenheit - das zeigt sich besonders, als er die Hand der Dirne küsst. Es ist, als würde er wie eine Marionette an seinen alten Fäden gezogen: Die Dirne wird sofort zur fiktiven Prinzessin. Das Bild seiner vergangenen Existenz erscheint ihm im Handkuss. Dieser Moment gibt ihm ein Erinnerungsbild. Es ist zwar nur ein Erinnerungsbild in Form einer Rolle - wie einer Prinzessin, aber es macht dem Grafen trotzdem Freude. Er kann noch einmal dorthin zurückkehren, da er sich auskannte. Hier ergibt sich wiederum eine Nähe Schnitzlers zu Nietzsche. Nietzsche beschreibt im zweiten Teil von “Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinn” die Bedeutung von Fiktion und Wirklichkeit für den Menschen. Die Fiktion, die Phantasie verhilft dem Menschen, aus seiner Bedürftigkeit herauszukommen. Während bei Schnitzler an dieser Stelle der Reiz die Täuschung und das Glück bewirkt, ist es bei Nietzsche genau umgekehrt. Die Täuschung bewirkt den Reiz - Märchen werden wie wahr erzählt. So wird der Intellekt frei.
Der Mensch selbst aber hat einen unbesiegbaren Hang, sich täuschen zu lassen, und ist bezaubert vor Glück, wenn der Rhapsodie ihm epische Märchen wie wahr erzählt oder der Schauspieler im Schauspiel den König noch königlicher agiert, als ihn die Wirklichkeit zeigt. Der Intellekt, jener Meister der Verstellung, ist so lange frei und seinem sonstigen Sklavendienst enthoben, als er täuschen kann, ohne zu schaden, und feiert dann seine Saturnalien.
Mit dem Handkuss, mit der Fiktion seines alten Kontextes, beginnt der Graf, sich zu erinnern. Er sucht nach seinem Erinnerungsbild.
Graf: nimmt die Hand und küsst sie mechanisch, bemerkt es, lacht, Wie einer Prinzessin. Übrigens, wenn man nur...
Dirne: Was schaust mich denn so an?
Graf: Wenn man nur das Kopferl sieht, wie jetzt... beim Aufwachen sieht doch eine jede unschuldig aus ... meiner Seel´, alles mögliche könnt´man sich einbilden, wenn´s nicht so nach Petroleum stinken möchte´...
Der Graf und die Dirne reden daraufhin weiter, auf der Ebene der sprachlichen Kommunikation finden sie aber weder zueinander, noch findet der Graf sein Erinnerungsbild. Es fehlt der Reiz. Erst auf einen plötzlichen Einfall hin macht der Graf den entscheidenden Schritt. Er “weiß” plötzlich, an wen die Frau ihn erinnert. Im problematischen Moment, da er keine Reize mehr hat, findet er seinen wichtigen Punkt. Als die Dirne daraufhin auf der Gesprächsebene reagiert, bittet der Graf, dass sie nichts sagt - die Worte würden nur seinen
Reiz des Erkennens verdecken. An wen sie ihn erinnert, kann er nicht ausdrücken. Er küsst sie auf die Augen - ein Motiv des Sehens, korreliert mit der intuitiven Geste des Kusses, dem Reiz.
Graf: ...Also Plötzlich auf etwas kommend meiner Seel´,jetzt weiß ich, an wen du mich erinnerst, das ist...
Dirne: Schau i wem gleich?
Graf: Unglaublich, unglaublich, jetzt bitt´ich dich aber sehr, red gar nichts, eine Minute wenigstens... Schaut sie an ganz dasselbe G´sicht, ganz dasselbe G´sicht. Er küsst sie plötzlich auf die Augen.
Der Kuss auf die Augen wiederholt sich noch einmal:
Graf: Die Augen...ganz die Augen...Der Lulu möcht´sicher sagen, ich bin ein Narr - aber ich will dir noch einmal die Augen küssen... so... und jetzt grüss´dich Gott, jetzt geh´ich.
Diese Geste des Kusses auf die Augen beschäftigt den Grafen wiederum zweimal:
Graf: Leocadia... Schön - Also grüss´dich Gott. Bei der Tür Ich hab´doch noch immer den Wein im Kopf. Also das ist doch das Höchste...ich bin bei so einer und hab´nichts getan, als ihr die Augen geküsst, weil sie mich an wen erinnert hat... Wendet sich zu ihr Du, Leocadia, passiert dir das öfter, dass man so weggeht von dir?
Und ganz am Schluss:
Graf: Ja. Im Vorzimmer Also...Es wär´doch schön gewesen, wenn ich sie nur auf die Augen geküsst hätt´. Das wäre beinahe ein Abenteuer gewesen... Es war mir halt nicht bestimmt. Das Stubenmädel steht da, öffnet die Tür Ah - da haben S´... Gute Nacht.-
Der Kuss des Grafen ist sehr stilisiert. Der Kuss findet statt, obwohl er nicht zum Liebesakt hinführt, wie in den anderen Szenen. Er ist frei von einem Zweck außer dem des Erkennens. Dies ist wiederum eine Nähe zu Nietzsche:
In einem ähnlich beschränktem Sinne will der Mensch auch nur die Wahrheit: er begehrt die angenehmen, Leben erhaltenden Folgen der Wahrheit, gegen die reine folgenlose Erkenntnis ist er gleichgültig, gegen die vielleicht schädlichen und zerstörenden Wahrheiten sogar feindlich gestimmt.
Die Stilisierung wird dadurch verstärkt, weil, wie es sich im Zusammenhang mit dem süßen Mädel zeigen wird, der Kuss von Seiten des Grafen direkt auf die Augen der Dirne gegeben wird. Der Graf stammelt nicht einmal mehr. Er sagt nichts. Am Ende des Stückes ist schon alles gesagt, oder man hat es nicht verstanden.
Der Soldat
In der zweiten Szene fehlt im entscheidenden Moment des Liebesaktes ein Erkennen des anderen, was sich anhand des Gesichtes des Soldaten, das das Stubenmädchen nicht sieht, ausdrückt. Die Reaktion des Soldaten, dass ihm das Gesicht unwichtig sei, und dass er es während des Liebesaktes sagt, zeigt deutlich die Entfremdung des Menschen durch seine
Rolle in der Gesellschaft, die nicht einmal im Moment der Liebe aufgebrochen wird.
Stubenmädchen: Aber, Herr Franz, bitt´Sie, um Gottes Willen, schaun S´, wenn ich das... gewusst... oh... oh... komm!
--------------------------------------------------------------------------Soldat: selig Herrgott noch einmal... ah...
Stubenmädchen: ...Ich kann dein G´sicht gar nicht sehn.
Soldat: A was - G´sicht...
----------------------------------------------------------------------------------------------------------
Soldat: Ja, Sie, Fräul´n Marie, da im Gras können S´nicht liegenbleiben.
Dieser Moment ist eigentlich der schwierigste im ganzen Stück. Sie zeigt am deutlichsten die Unfähigkeit des Menschen, den andern zu erkennen, den anderen überhaupt erkennen zu wollen.
Die Figur des Soldaten und später die Aussage des Grafen bei der Schauspielerin, dass er vielleicht totgeschossen sei, finden hier einen Zusammenhang.
Der Gatte und das süße Mädel
Der Versuch, den anderen zu erkennen, findet sich dagegen in besonderer Weise beim süßen Mädel und dem Gatten wieder. Weil der Gatte einem andern ähnlich sieht, ist das süße Mädel mit ihm ins chambre separée gegangen. Der andere tritt ihr vermittelt durch den anderen entgegen. Wer es aber war, kann das Mädchen nicht sagen.
Der Gatte: Also -also -wer war´s?
Das süße Mädel: Ein bissel ähnlich hat er dir gesehen.
Der Gatte: So.
Das süße Mädel: Wenn du ihm nicht so ähnlich schauen tät´st-
Das Gespräch zwischen dem Gatten und dem süßen Mädel geht aneinander vorbei. Der Gatte agiert völlig auf der rationalen Ebene, während das süße Mädel von ihren Emotionen überwältigt wird, und die Ratio durchbricht. Das Erinnern, das Schauen, die Augen und der Kuss sind in einem engen Zusammenhang. Sie lässt sich von den Reizen leiten und erkennt im Gatten einen anderen. Sie hat den Reiz, das Bild - den Namen aber oder sonstige genauere Bezeichnungen kann sie nicht aussprechen.
Das süße Mädel: Und auch im Reden erinnerst du mich so an ihn... und wie du einen anschaust...
Der Gatte: Was ist er denn gewesen?
Das süße Mädel: Nein, die Augen-
Der Gatte: Wie hat er denn geheißen?
Das süße Mädel: Nein, schau mich nicht so an, ich bitt´dich.
Der Gatte: umfängt sie. Langer, heißer Kuss.
Das süße Mädel: schüttelt sich, will aufstehen.
Eine gewisse Antipathie Schnitzlers gegen den Gatten als solchen kann man bei dessen “Erkennen” des anderen herauslesen - während das süße Mädel einen bestimmten Menschen wieder erkennt, ist das Erkennen des Grafen sehr unbestimmt. Er bleibt auf der rationalen Ebene des Gesprächs, und findet so auch nicht zu seinem Erinnerungsbild. Seine Worte sind nicht durch Reize bestimmt. Die Oberfläche seines konventionellen Gesprächs wird durch seine unbestimmte Antwort entlarvt - es folgt kein langer, heißer Kuss.
Der Gatte: Herrgott, bist du lieb! Küsst sie und wird zärtlicher Du erinnerst mich auch an wen.
Das süße Mädel: So - an wen denn?
Der Gatte: An keine bestimmte... an die Zeit.. Na, an meine Jugend. Geh´trink, mein Kind!
Das Verhalten des süßen Mädels steht im Kontrast zu dem des Gatten. Während sie mit Reizen bei der Sache ist, und die Logik des Gesprächs durchbricht, indem sie sich über den Namen “Karl” freut, obwohl der, an den der Gatte sie erinnert, nicht einmal Karl geheißen hat, reagiert der Gatte wiederum völlig auf der logischen Ebene und will wissen, an wen genau er sie erinnert. Sein genaues Nachfragen führt jedoch ins Negative, auf der rationalen Ebene weiß das süße Mädel genau, dass der andere sie im Stich gelassen hat.
Das süße Mädel: Ja, wie alt bist du denn?...Du... ja... ich weiß ja nicht einmal, wie du heißt.
Der Gatte: Karl.
Des süße Mädel: Ist´s möglich! Karl heißt du?
Der Gatte: Er hat auch Karl geheißen?
Das süße Mädel: Nein, das ist aber schon das reine Wunder... das ist ja - nein, die Augen.. Das G´schau... Schüttelt den Kopf.
Der Gatte: Und wer er war - hast du mir noch immer nicht gesagt.
Das süße Mädel: Ein schlechter Mensch ist er gewesen - das ist g´wiss, sonst hätt´er mich nicht sitzen lassen.
Der Gatte: Hast ihn sehr gern g´habt?
Das süße Mädel: Freilich hab´ich ihn gern g´habt!
Der Gatte erfährt bei Arthur Schnitzler im Bereich der Erkenntnis eine deutliche Niederlage. Auf der rationalen Ebene erfolgt keine Erkenntnis. Sein Kuss auf die Augen des süßen Mädels ist für diese unerträglich. Sie, die als einzige im Stück einen Moment des Erkennens "erlebt", kann diese Geste des Gatten nicht aushalten. Seine Zärtlichkeit wirkt in diesem Augenblick falsch, da er ihre intuitiv richtige Reaktion missversteht, werden seine Handlungen in Frage gestellt, da sie von der Reaktion des süßen Mädels unterbrochen werden.
Der Gatte: küsst sie Du hast eigentlich graue Augen, anfangs hab´ich gemeint, sie sind schwarz.
Das süße Mädel: Na, sind s´dir vielleicht nicht schön genug?
Der Gatte: küsst ihre Augen.
Das süße Mädel: Nein, Nein - das vertrag´ich schon gar nicht...oh bitt´dich - o Gott... nein, lass mich aufstehn... nur für einen Moment... bitt´dich.
Der Gatte: immer zärtlicher o nein.
copyright Bettina Müller
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