Prekarität
ist überall
Pierre Bourdieu
Die Arbeit kollektiven Nachdenkens, die hier während
zweier Tage geleistet wurde, stellt etwas absolut Neuartiges dar, weil sie
Menschen zusammengebracht hat, die sonst kaum Gelegenheit haben, sich zu
treffen: Verantwortliche aus Politik und Verwaltung, Gewerkschaftler,
Wirtschaftswissenschaftler und Soziologen, Arbeitnehmer, von denen viele in
prekärer Lage sind, und schließlich auch Arbeitslose. Ich möchte an dieser
Stelle nochmals auf einige Probleme zu sprechen kommen, über die hier schon
diskutiert worden ist. Das erste von ihnen wird immer stillschweigend aus
wissenschaftlichen Tagungen herausgehalten: Was kommt letztlich bei diesen
Debatten heraus, oder etwas direkter formuliert, was nutzen denn all diese
intellektuellen Diskussionen ? Paradoxerweise sind es gerade die Forscher, die
sich am meisten den Kopf über diese Frage zerbrechen und am stärksten von ihr
beunruhigt werden (ich denke da besonders an die hier anwesenden und damit für
ihren Berufsstand wenig repräsentativen Ökonomen, denn in der
Wirtschaftswissenschaft sind diejenigen ja recht dünn gesät, die sich Gedanken
über die gesellschaftliche Wirklichkeit bzw. über die Wirklichkeit überhaupt
machen), an die man diese Frage richtet (und das ist wohl auch sehr gut so). In
ihrer Schonungslosigkeit und Naivität erinnert diese Frage die Forscher an ihre
große Verantwortung, insofern sie ja durch ihr Schweigen oder ihre aktive
Komplizenschaft an der Aufrechterhaltung der symbolischen Ordnung mitwirken
können, welche ja die Voraussetzung für das Funktionieren der wirtschaftlichen
Ordnung bildet.
Es ist deutlich geworden, dass Prekarität
heutzutage allgegenwärtig ist. Im privaten, aber auch im öffentlichen Sektor,
wo sich die Zahl der befristeten Beschäftigungsverhältnisse und Teilzeitstellen
vervielfacht hat; in den Industrieunternehmen, aber auch in den Einrichtungen
der Produktion und Verbreitung von Kultur, dem Bildungswesen, dem Journalismus,
den Medien usw. Beinahe überall hat sie identische Wirkungen gezeigt, die im
Extremfall der Arbeitslosen besonders deutlich zutage treten: die Destrukturierung
des unter anderem seiner zeitlichen Strukturen beraubten Daseins und der daraus
resultierende Verfall jeglichen Verhältnisses zur Welt, zu Raum und Zeit.
Prekarität hat bei dem, der sie erleidet, tiefgreifende Auswirkungen. Indem sie
die Zukunft überhaupt im Ungewissen läßt, verwehrt sie den Betroffenen
gleichzeitig jede rationale Vorwegnahme der Zukunft und vor allem jenes
Mindestmaß an Hoffnung und Glauben an die Zukunft, das für eine vor allem
kollektive Auflehnung gegen eine noch so unerträgliche Gegenwart notwendig ist.
Zu diesen Folgen der Prekarität für die direkt
Betroffenen gesellen sich die Auswirkungen auf die von ihr dem Anschein nach
Verschonten. Doch sie läßt sich niemals vergessen; sie ist zu jedem Zeitpunkt
in allen Köpfen präsent (ausgenommen den Köpfen der liberalen Ökonomen,
vielleicht deshalb, weil sie – wie einer ihrer theoretischen Gegner bemerkte –
von dieser Art Protektionismus profitieren, den ihnen ihre tenure, ihre
Beamtenstellung, verschafft und die sie der Unsicherheit entreißt). Weder dem
Bewußtsein noch dem Unterbewußten läßt sie jemals Ruhe. Die Existenz einer
beträchtlichen Reservearmee, die man aufgrund der Überproduktion von Diplomen
längst nicht mehr nur auf den unteren Qualifikationsebenen findet, flößt jedem
Arbeitnehmer das Gefühl ein, daß er keineswegs unersetzbar ist und seine
Arbeit, seine Stelle gewissermaßen ein Privileg darstellt, freilich ein
zerbrechliches und bedrohtes Privileg (daran erinnern ihn zumindest seine
Arbeitgeber bei der geringsten Verfehlung und die Journalisten und
Kommentatoren jeglicher Art beim nächsten Streik). Die objektive Unsicherheit
bewirkt eine allgemeine subjektive Unsicherheit, welche heutzutage mitten in
einer hochentwickelten Volkswirtschaft sämtliche Arbeitnehmer, einschließlich derjenigen
unter ihnen in Mitleidenschaft zieht, die gar nicht oder noch nicht direkt von
ihr betroffen sind. Diese Art »kollektive Mentalität« (ich gebrauche diesen
Begriff hier zum besseren Verständnis, obwohl ich ihn eigentlich nicht gern
verwende), die der gesamten Epoche gemein ist, bildet die Ursache für die
Demoralisierung und Demobilisierung, die man in den unterentwickelten Ländern
beobachten kann (wozu ich in den 60er Jahren in Algerien Gelegenheit hatte),
die unter sehr hohen Arbeitslosen- und Unterbeschäftigungsraten leiden und
permanent von der Angst vor Arbeitslosigkeit beherrscht werden.
Arbeitslose und Arbeitnehmer, die sich in einer
prekären Lage befinden, lassen sich kaum mobilisieren, da sie die Fähigkeit,
Zukunftsprojekte zu entwerfen, beeinträchtigt sind. Das ist jedoch die
Voraussetzung für jegliches sogenanntes rationales Verhalten, angefangen beim
ökonomischen Kalkül oder, in einem völlig anderen Bereich, der politischen
Organisation. Paradoxerweise muß man – wie ich in meinem frühesten und
vielleicht zugleich aktuellsten Buch über Arbeit und Arbeiter in Algerien
gezeigt habe – wenigstens ein Minimum an Gestaltungsmacht über die Gegenwart
haben, um ein revolutionäres Projekt entwerfen zu können, denn letzteres ist
immer ein durchdachtes Bestreben, die Gegenwart unter Bezugnahme auf ein
Zukunftsprojekt zu verändern. Im Unterschied zum Subproletariat verfügt der
Proletarier über dieses Minimum an Gewißheit und Sicherheit, das die
Grundvoraussetzung dafür ist, überhaupt die Idee in Betracht zu ziehen, die
Gegenwart unter Bezug auf eine erhoffte Zukunft umzugestalten. Doch nebenbei
bemerkt ist er eben auch jemand, der immerhin auch noch etwas zu verteidigen,
etwas zu verlieren hat, nämlich seine auch noch so auszehrende und
unterbezahlte Stelle, und viele seiner manchmal als allzu vorsichtig oder
konservativ beschriebenen Verhaltensweisen rühren von der Furcht her, wieder
ins Subproletariat zurückzufallen.
Wenn Arbeitslosigkeit heute in zahlreichen Ländern Europas so hohe Raten erreicht und Prekarisierung einen großen Teil der Bevölkerung, Arbeiter, Angestellte in Handel und Industrie, aber auch Journalisten, Lehrer und Studenten erfaßt, dann wird Arbeit zu einem raren Gut, das man sich um jeden Preis herbeisehnt und das die Arbeitnehmer auf Gedeih und Verderb den Arbeitgebern ausliefert, welche dann auch die ihnen auf diese Weise gegebene Macht, wie man Tag für Tag sehen kann, gebührlich gebrauchen bzw. mißbrauchen. Die Konkurrenz um die Arbeit geht einher mit einer Konkurrenz bei der Arbeit, die jedoch auch nur eine andere Form der Konkurrenz um die Arbeit ist, ein Arbeit, die man, mitunter um jeden Preis, gegen die Erpressung mit der angedrohten Entlassung bewahren muß. Aufgrund dieser Konkurrenz, die mitunter genauso rüde ist wie diejenige der Unternehmen untereinander, kommt es zu einem regelrechten Kampf aller gegen alle, der sämtliche Werte der Solidarität und Menschlichkeit zunichte macht, manchmal aber auch zu wortloser Gewalt. Diejenigen, die sich über den angeblichen Zynismus, den ihrer Meinung nach Männer und Frauen unserer Epoche an den Tag legen, beklagen, sollten zumindest auch den Zusammenhang mit den ökonomischen und gesellschaftlichen Bedingungen sehen, die einen solchen Zynismus begünstigen oder erforderlich machen, ja obendrein noch belohnen. Die Prekarität hat also nicht nur direkte Auswirkungen auf die von ihr Betroffenen (die dadurch außerstande geraten, sich zu mobilisieren), sondern über die von ihr ausgelöste Furcht auch indirekte Folgen für alle anderen – eine Furcht, die im Rahmen von Prekarisierungsstrategien systematisch ausgenutzt wird, wie etwa im Falle der Einführung der vielzitierten »Flexibilität«, von der wir ja wissen, daß sie ebenso politisch wie ökonomisch motiviert ist. Man wird den Verdacht nicht los, daß Prekarität gar nicht das Produkt einer mit der ebenfalls vielzitierten »Globalisierung« gleichgesetzten ökonomischen Fatalität ist, sondern vielmehr das Produkt eines politischen Willens. Das »flexible« Unternehmen beutet gewissermaßen ganz bewußt eine von Unsicherheit geprägte Situation aus, die von ihm noch verschärft wird. Es sucht die Kosten zu senken, aber auch dies Kostensenkung möglich zu machen, indem es Arbeitnehmer der permanenten Drohung des Arbeitsplatzverlustes aussetzt. Die gesamte Welt der materiellen und kulturellen, öffentlichen wie privaten Produktion wird auf diese Weise in einen breiten Prekarisierungsstrom hineingezogen, was sich beispielsweise an der Entterritorialisierung bzw. Standortunabhängigkeit der Unternehmen zeigen läßt: Die Verbindung, die bisher zwischen ihm und einem Nationalstaat oder einem Ort (z.B. Detroit oder Turin für die Automobilindustrie) existierte, löst sich nun zunehmend mit dem Aufkommen sogenannter »Netzwerk-Unternehmen« auf, die sich durch die Verknüpfung von Produktionssegmenten, technologischem Wissen, Kommunikationsnetzwerken, sowie durch geographisch weit verzweigte Ausbildungswege über einen ganzen Kontinent oder gar den gesamten Globus erstrecken können.
Durch die Erleichterung oder gar Organisierung der
Kapitalmobilität und durch die »Produktionsverlagerung« in Billiglohnländer, in
denen die Arbeitskosten niedriger liegen, hat man die Ausweitung der Konkurrenz
zwischen den Arbeitnehmern auf Weltmaßstab möglich gemacht. An die Stelle des
an einen nationalen Kontext gebundenen oder gar verstaatlichten Unternehmens,
dessen Konkurrenzgebiet sich mehr oder weniger genau mit dem Staatsgebiet deckte und das sich Märkte
im Ausland erkämpfte, ist das multinationale Unternehmen getreten, das die
Arbeitnehmer nicht mehr nur der Konkurrenz mit ihren Landsleuten oder gar, wie
Demagogen glauben machen wollen, mit den auf dem eigenen Staatsgebiet
niedergelassenen Ausländern aussetzt, die ja ganz offenkundig die ersten Opfer
der Prekarisierung sind, sondern in Wirklichkeit mit den zur Annahme von
Elendslöhnen gezwungenen Arbeitern am anderen Ende der Welt.
Die Prekarität ist Teil einer neuartigen
Herrschaftsform, die auf der Errichtung einer zum allgemeinen Dauerzustand
gewordenen Unsicherheit fußt und das Ziel hat, die Arbeitnehmer zur
Unterwerfung, zur Hinnahme ihrer Ausbeutung zu zwingen. Zur Kennzeichnung
dieser Herrschaftsform, die, obschon sie in ihren Auswirkungen stark dem wilden
Kapitalismus aus den Frühzeiten der Industrialisierung ähnelt, absolut
beispiellos ist, hat jemand das treffende und aussagekräftige Konzept der
Flexploitation vorgeschlagen. Dieser Begriff veranschaulicht sehr treffend den
zweckrationalen Gebrauch, der von Unsicherheit gemacht wird. Indem man,
besonders über eine Konzertierte Manipulation der Produktionsräume, die
Konkurrenz zwischen den Arbeitnehmern in den Ländern mit den bedeutendsten
sozialen Errungenschaften und der bestorganisierten gewerkschaftlichen
Widerstandskraft – lauter an ein Staatsgebiet und eine nationale Geschichte
gebundene Errungenschaften – und den Arbeitnehmern in den, was soziale
Standards anbelangt, am wenigsten entwickelten Ländern anheizt, gelingt es
dieser Unsicherheit, unter dem Deckmantel vermeintlich naturgegebener
Mechanismen, die sich schon dadurch selbst rechtfertigen, die Widerstände zu
brechen und Gehorsam und Unterwerfung durchzusetzen. Die von der Prekarität
bewirkten Dispositionen der Unterwerfung bilden die Voraussetzung für eine
immer erfolgreichere Ausbeutung, die auf einer Spaltung zwischen einerseits der
immer größer werdenden Gruppe derer, die nicht arbeiten, und andererseits, die
immer mehr arbeiten, fußt. Bei dem, was man ständig als ein von den
unwandelbaren »Naturgesetzen« des Gesellschaftlichen regierten
Wirtschaftssystemen hinstellt, scheint es sich meines Erachtens in Wirklichkeit
vielmehr um eine politische Ordnung zu handeln, die nur mittels der aktiven
oder passiven Komplizenschaft der im eigentlichen Sinne politischen Mächte
errichtet werden kann. Gegen diese politische Ordnung kann ein politischer
Kampf geführt werden. Und er kann sich, ähnlich wie karitative oder
militant-karitative Bewegungen, zunächst zum Ziel setzen, die Opfer der
Ausbeutung, all die gegenwärtigen oder potentiell Prekarisierten zu ermutigen,
gemeinsam gegen die zerstörerischen Kräfte der Prekarität anzugehen (indem man
ihnen hilft zu leben, »durchzuhalten«, einen aufrechten Gang und Würde zu
bewahren, der Zersetzung und dem Verfall ihres Selbstbildes, der Entfremdung zu
widerstehen). Darüber hinaus sollten sie vor allem auch ermutigt werden, sich
auf internationaler Ebene, also auf derselben Ebene, auf der auch die Folgen
der Prekarisierungspolitik wirksam werden, mit dem Ziel zu mobilisieren, diese
Politik zu bekämpfen und die Konkurrenz zu neutralisieren, die sie zwischen den
Arbeitnehmern erzeugen will. Der politische Kampf kann aber auch versuchen, die
Arbeitnehmer der Logik früherer Kämpfe mit ihrer Forderung nach Arbeit oder
besseren Arbeitslöhnen zu entreißen, weil sich diese Logik einzig und allein
auf die Arbeit versteift und dadurch sozusagen die Ausbeutung (oder
Flexploitation) zuläßt. An deren Stelle könnte eine Umverteilung der Arbeit
(z.B. über eine massive Verkürzung der wöchentlichen Arbeitszeit auf
europäischer Ebene) treten, eine Umverteilung, die untrennbar mit einer
Neudefinition des Verhältnisses zwischen der Zeit der Produktion und der Zeit
der Reproduktion, der Erholung und der Freizeit verknüpft wäre. Eine solche
Revolution müßte mit dem Verzicht auf die ausschließlich berechnende und
individualistische Sichtweise beginnen, welche den handelnden Menschen auf ein
kalkulierendes Wesen reduziert, das nur mit der Lösung von Problemen rein
ökonomischer Art im engsten Sinn des Wortes befaßt ist. Damit das
Wirtschaftssystem funktionieren kann, müssen die Arbeitnehmer ihre eigenen
Produktions- und Reproduktionsbedingungen, aber auch die Bedingungen für das
funktionieren des Wirtschaftssystems selbst einbringen, angefangen bei ihrem
Glauben an das Unternehmen, an die Arbeit, an die Notwendigkeit der Arbeit usw.
All diese Dinge klammern die orthodoxen Ökonomen a priori aus ihren abstrakten
und verstümmelten Berechnungen aus und überlassen so die Verantwortung für die
Produktion und Reproduktion all der verborgenen ökonomischen und sozialen
Voraussetzungen für das Funktionieren der Wirtschaft, wie sie sie kennen,
stillschweigend den Individuen oder paradoxer Weise dem Staat, dessen
Zerstörung sie im übrigen predigen.
Vortrag während der »Recontres européennes contre
la précarité«, Grenoble, 12.-13. Dezember
1997. Aus dem Französischen übertragen von Andreas Pfeuffer; in: Bourdieu,
Pierre (1998): Prekarität ist überall. In: Gegenfeuer. Wortmeldungen im Dienste
des Widerstands gegen die neoliberale Invasion. Konstanz: UVK, 1998: 96-102