Spinoza oder der Boykott der Wahrheit

Wollte man in der Geschichte der Philosophie denjenigen Denker aufsuchen, auf den am meisten Beschimpfungen gehäuft werden so ist kein Zweifel: es ist Spinoza. Sein Schicksal, geschmäht zu werden, beginnt schon zu seinen Lebzeiten, und es setzt sich noch lange fort. Ein Leipziger Professor der Philosophie, der bekannte Thomasius, redet von Spinoza als einem »lichtscheuen Schreiber« einem »lästernden Erzjuden und völligen Atheisten«, einem »scheußlichen Ungeheuer«. Ein anderer namens Dippel, zu seiner Zeit ein hochberühmter Mann, Arzt und Chemiker, weiß sich nicht genug zu tun in Schimpf Worten: »der dumme Teufel«, »der blinde Gaukler«, »der verblendete Tropf«, der »Narr, der das Tollhaus billig meritiert«, »dieser wahnwitzige und gleichsam trunkene Mensch«, der »philosophischen Lumpenkram«, »gaukelhafte Alfanzereien« betreibt, voll der »lahmsten und elendsten Fratzen« - so geht es Seite um Seite in einem dickleibigen Buch. Wo aber der Mediziner und Chemiker spricht, kann der Mathematiker und Physiker nicht schweigen. So braucht denn auch der Nürnberger Professor Sturm die gleiche Sprache und redet von Spinoza als einem »elenden Wicht«, einem »ausländischen Tier«, einem Menschen, voll von »fluchwürdigen Anschauungen«. Für dergleichen Schmähungen muß alles herhalten, die Werke Spinozas ebenso wie sein Lebenswandel. Wenn man aber an diesem nicht viel Tadelnswertes finden kann, werden selbst so harmlose Dinge, wie daß Spinoza des Nachts zu arbeiten pflegt, zum Anlaß der Beschimpfung; wenigstens kann sich einer der Biographen diese Tatsache nicht anders erklären, als daß Spinoza »Werke der Finsternis« betreibe. Wo aber die Finsternis heraufbeschworen wird, ist der Teufel nicht weit, und da beginnt das Feld der Theologen. So fragt denn auch einer von diesen, Musaeus, Professor der Theologie in Jena, »ob wohl unter denen, die der Teufel selbst zur Vernichtung alles göttlichen und menschlichen Rechts gedungen hat, irgendeiner zu finden ist, der bei diesem Zerstörungswerk tätiger gewesen wäre als dieser zum größten Unheil der Kirche und des Staates geborene Betrüger«. Noch wortgewaltiger läßt sich darüber, seinem Berufe gemäß, ein Professor der Beredsamkeit aus. Er schreibt über ein Buch Spinozas, es sei »voll von Frevel und Gottlosigkeit, wahrlich wert, in die Finsternis der Hölle zurückgeworfen zu werden, woraus es zum Schaden und zur Schande des Menschengeschlechts ans Licht gekommen ist. Der Erdkreis hat nicht Verderblicheres die Jahrhunderte her gesehen«. Aber selbst diese Zeitangabe will einem Getreidemakler aus Dordrecht, der sich nun unter den Chorus der Gelehrten mischt, nicht genügen. Nicht erst seit Jahrhunderten, sondern »solange die Erde bestanden hat, ist noch kein heilloseres Buch erschienen«, so sehr ist es »vollgepfropft mit gelehrten Greueln«.

Aber auch bedeutende Geister drücken ihren Abscheu vor Spinoza und seiner Philosophie in unmißverständlichen Worten aus. Voltaire meint, das System Spinozas sei »auf dem ungeheuerlichsten Mißbrauch der Metaphysik aufgebaut«. Leibniz nennt eines der Bücher dieses Philosophen eine »unerträglich freche Schrift«, ein »entsetzliches« Buch. Hamann schließlich, Zeitgenosse und Freund Kants, bezeichnet Spinoza als einen »Straßenräuber und Mörder der gesunden Vernunft und Wissenschaft«.

Doch dann geschieht das Merkwürdige: dieser Phalanx von Hassern und Beschimpfern tritt plötzlich eine große Zahl glühender Bewunderer entgegen. Lessing sagt in einem Gespräch mit Jacobi: da »reden die Leute doch immer von Spinoza wie von einem toten Hunde«; aber »es gibt keine andere Philosophie als die Philosophie des Spinoza«. Herder schreibt an Jacobi: »Ich muß gestehen, mich macht diese Philosophie sehr glücklich«; »mir gehet das Herz auf, wenn ich von dieser leider nur allzu erhabenen Philosophie einen Laut höre«. Goethe äußert, er habe zu dem Menschen Spinoza »eine wahre Wut und Leidenschaft gehabt«; als er mit Frau von Stein zusammen Spinoza liest, schreibt er: »Ich fühle mich ihm sehr nahe, obgleich sein Geist viel tiefer und reiner ist als der meinige.« Schleiermacher fügt in seine »Reden über die Religion« einen begeisterten Hymnus ein: »Opfert mit mir ehrerbietig eine Locke den Manen des heiligen, verstoßenen Spinoza!... Voller Religion war er und voll heiligen Geistes.« Wie sehr die Menschen dieses Zeitalters von dem so lange verachteten Philosophen gepackt werden, dafür gibt es schließlich ein hübsches Zeugnis in einem Briefe des Berliner Philosophen Karl Solger: Spinoza »beschäftigt beinahe meinen ganzen Vormittag, und mein Bruder hat seinem dreijährigen Albrecht schon beigebracht: Spinoza sei ein kluger Kerl gewesen, und Onkel Karl sage, er hätte alles besser gewußt als die ändern«.

Was also ist es mit diesem Philosophen Spinoza? Ist er Atheist oder Heiliger, ist er der teuflische oder der göttliche Spinoza? Was ist an diesem Menschen, daß einer seiner Verehrer um das Jahr 1800 schreiben kann: »Dieser bald verfluchte, bald gesegnete, bald beweinte, bald belachte Spinoza«?

Er ist, was man angesichts des Wirbels, den sein Denken hervorruft, am wenigsten vermuten sollte, alles andere als ein lauter und selbstbewußter Verfechter seiner Gedanken. Von allen Philosophen ist er vielleicht der einsamste und zurückgezogenste, der bescheidenste und stillste. 1632 wird er in Amsterdam geboren, in einer jüdischen, von Portugal nach Holland ausgewanderten Familie. Mit Vornamen heißt er Baruch; nach dem Brauch der damaligen Zeit nennt er sich auf lateinisch Benedictus. Beides bedeutet dasselbe: der Gesegnete.

Gesegnet ist Spinoza freilich nicht im Äußeren seines Lebens. Kaum erwachsen, gerät er in erbitterte Auseinandersetzungen mit der jüdischen Kultgemeinde seiner Heimatstadt. Den Anlaß dazu bieten kritische Bemerkungen zur biblischen Tradition. Das Alte Testament erscheint ihm voll von Widersprüchen und Ungereimtheiten, und er will und kann nicht anerkennen, daß es in all seinen Teilen nichts als die schlechthinnige Wahrheit enthalte. Die Gemeinde, die auf diesen scharfsinnigen jungen Mann große Hoffnungen gesetzt hat, wendet sich nun um so enttäuschter von ihm ab. Man läßt ihn durch Spitzel aushorchen, man versucht, ihn zu bestechen, und als das nicht hilft, wird sogar ein Mordanschlag

auf ihn unternommen. Schließlich kommt es zur feierlichen Ausstoßung aus der Synagoge. In dem Großen Bannfluch, der über Spinoza ausgesprochen wird, heißt es:
 

»Nach dem Beschlüsse der Engel und dem Urteil der Heiligen bannen, verwünschen, verfluchen und verstoßen wir Baruch de Espinoza, mit Zustimmung des heiligen Gottes und dieser ganzen heiligen Gemeinde ..., mit dem Bannfluche, womit Josua Jericho fluchte, mit dem Bannfluche, womit Elisa den Knaben fluchte, und mit all den Verwünschungen, die im Gesetz geschrieben stehen. Verflucht sei er am Tage und verflucht sei er bei Nacht; verflucht sei er, wenn er sich niederlegt, und verflucht sei er, wenn er aufsteht; verflucht sei er bei seinem Ausgang und verflucht sei er bei seinem Eingang. Möge Gott ihm niemals verzeihen, möge der Zorn und der Grimm Gottes gegen diesen Menschen entbrennen... und seinen Namen unter dem Himmel austilgen, und möge Gott ihn zu seinem Unheil ausscheiden von allen Stämmen Israels ... Wir verordnen, daß niemand mit ihm mündlich oder schriftlich verkehre, niemand ihm irgendeine Gunst erweise, niemand unter einem Dache mit ihm verweile, niemand auf vier Ellen in seine Nähe komme, niemand eine von ihm verfaßte oder geschriebene Schrift lese.«


Spinoza hat den Kampf nicht gesucht; Polemik um der Polemik willen liegt ihm fern. Er schreibt einmal: »Ich lasse einen jeden nach seiner Natur leben und, wer will, mag für sein Heil sterben: wenn nur ich für die Wahrheit leben darf.« Aber eben das ist es, was die Empörung hervorruft: daß einer seiner eigenen Wahrheit leben will, daß ihm die gängige Meinung gleichgültig ist, daß er sich nicht an das kehren will, was seit alters für wahr gegolten hat. Daß Spinoza so unerbittlich seiner Wahrheit verschworen ist, muß ihn in Feindschaft mit den Mächten seiner Zeit bringen; eben das verwickelt ihn in den Kampf mit der Synagoge; eben das trägt ihm schließlich den Haß seines ganzen Zeitalters ein. Aber gerade dies gehört zum Philosophieren: daß man der Wahrheit und nur der Wahrheit gehorcht, unbekümmert um das, was daraus folgen mag, ohne Furcht vor dem Urteil der Menschen. In diesem Sinne ist Spinoza ein wahrer Philosoph.

Die Ausstoßung aus der Gemeinschaft seines Volkes und seines Glaubens treibt Spinoza noch tiefer in die Absonderung, als es sein Hang zur Einsamkeit ohnehin fordert. Er lebt zurückgezogen und im Verborgenen zunächst in der Nähe von Amsterdam, dann in der Umgebung von Den Haag. Es wird berichtet, daß er innerhalb von drei Monaten nicht ein einziges Mal ausgegangen sei. Er ist, wie ein Besucher schreibt, »in seinem Studierzimmer gleichsam begraben«. »Ich rede aus der Ferne zu Euch, die Ihr ferne seid«, teilt er den Freunden mit. Deren hat er freilich nur wenige, und auch seine Korrespondenz ist spärlich; »selbst seine Schüler«, so berichtet einer seiner Biographen, »wagten nicht, sich offen zu ihm zu bekennen«. Um seinen Lebensunterhalt zu fristen, befaßt sich Spinoza mit dem Schleifen von optischen Gläsern. Angebote von Freunden, ihn durch Zuwendungen zu unterstützen, nimmt er nur widerstrebend und nur im Maße des unbedingt Notwendigen an. Man kann sich kaum ein bedürfnisloseres Leben denken als das seinige; in den letzten Lebensjahren besorgt er sogar seinen Haushalt selber. Nur eine Pfeife Tabak gönnt er sich von Zeit zu Zeit. Und doch entgeht auch dieses Leben in der Stille nicht der gehässigen Polemik der Gegner. Noch nach hundert Jahren schreibt einer von diesen: »Am allerwenigsten aber verdient seine beständige Einsiedlerei etwangiges Lob; denn dieses hat er aus keiner ändern Ursache getan, als um ein verfluchtes Systeme, wodurch er den wahren Gott, sein Wort und alle Religion über einen Haufen zu werfen getrachtet, auszuklauben... Wenn wir alles genau beim Lichte besehen, so hat seine hauptsächlichste Tugendverrichtung darinnen bestanden, daß er zwischen vier Wänden gotteslästerliche Bücher ausgeschwitzet.«

Seine Einsamkeit bewahrt Spinoza nicht vor Feindseligkeiten. Der Kampf gegen ihn bricht mit verschärfter Heftigkeit los, als er, freilich unter einem Pseudonym, eine Schrift mit dem Titel: »Theologisch-Politischer Traktat« veröffentlicht. Es geht ihm dabei um die Verteidigung der Denkfreiheit; sie fordert er in einem Maße, das weit über das hinausgeht, was jenes nicht gerade tolerante Zeitalter einzuräumen imstande ist. Man hätte ihm allenfalls noch eine gewisse Freiheit des Denkens zugestanden, wenn er nur den Vorbehalt gemacht hätte, daß dabei die Lehre der Kirche nicht angetastet werden dürfe. Aber Spinoza ist überzeugt, die Suche nach der Wahrheit könne auch vor den Pforten der offiziellen Religion nicht haltmachen.

Vollends aber muß es die Mächtigen seiner Zeit empören, wenn er dem Staate die Aufgabe zuweist, die Obergriffe der Kirche im Zaume zu halten und die Freiheit der religiösen und politischen Oberzeugungen zu wahren; denn »der Zweck des Staates ist in Wahrheit die Freiheit«.

In diesem Zusammenhang spricht Spinoza Gedanken aus, die den Eindruck erwecken, als seien sie unmittelbar in unserer Gegenwart geschrieben:

»Angenommen, diese Freiheit könne so unterdrückt werden und die Menschen könnten so in Schranken gehalten werden, daß sie ohne Erlaubnis der höchsten Gewalten sich nicht zu rühren wagten, so wird es doch nie so weit kommen, daß sie nur das denken, was jene wollen. Es würde aber notwendig folgen, daß die Menschen tagtäglich anders sprächen, als sie denken; damit würden Treu und Glauben, die doch im Staat vor allem nötig sind, verderben, und es würden verächtliche Heuchelei und Hinterhältigkeit herangezüchtet; daraus erwüchsen Betrug und Verderb aller guten Sitten,.. Kann man sich ein größeres Unglück für einen Staat ausdenken, als wenn ehrbare Männer nur darum, weil sie anders denken und nicht zu heucheln verstehen, wie Verbrecher des Landes verwiesen werden? Was kann verderblicher sein, als wenn Menschen nicht wegen eines Verbrechens oder einer Übeltat, sondern nur weil sie freien Geistes sind, für Feinde erklärt und zum Tode geführt werden, und wenn der Richtplatz, das Schreckbild für die Bösen, zur schönsten Schaubühne wird, um das erhabenste Beispiel der Standhaftigkeit und Tugend zu bieten?«


Kaum erschienen, wird der »Theologisch-Politische Traktat« verboten, und zwar von Universitätskanzleien ebenso wie von kirchlichen und staatlichen Behörden; dabei macht es keinen Unterschied, ob es sich um katholische oder um protestantische Instanzen handelt. Der holländische Statthalter untersagt unter Androhung strengster Bestrafung Druck und Verbreitung dieses Buches, weil es ein »gotteslästerliches und seelenverderbendes« Werk sei, »voll von grundlosen und gefährlichen Ansichten und Greueln«. Nicht einmal zustimmend erwähnen darf man dieses Buch. Der Verleger einer Schrift, die das zu tun wagt, wird zu einer Geldstrafe von 3000 Gulden und acht Jahren Zuchthaus verurteilt. Eine Fülle von Pamphleten erscheint gegen den Traktat; ein fingiertes Bücherverzeichnis kündigt ihn folgendermaßen an: »Tractatus Theologico-Politicus. Von dem abtrünnigen Juden zusammen mit dem Teufel in der Hölle geschmiedet.«

Spinozas einzige Waffe all dem gegenüber ist das Schweigen. Resigniert schreibt er: »Wer sich bemüht, die Dinge der Natur als Gelehrter zu begreifen und nicht nur als Tor anzustaunen, der wird allenthalben für einen Ketzer und Gottesleugner gehalten.« In der Sache aber gibt Spinoza nicht nach und kann er nicht nach-geben. Zu den Freunden äußert er, ein Gedanke höre nicht auf, wahr zu sein, bloß weil er von den Vielen nicht anerkannt werde. »Es ist nicht erst seit heute, daß die Wahrheit teuer zu stehen kommt; üble Nachrede aber soll mich nicht dazu bringen, sie im Stich zu lassen.«

Doch auch in die verborgene Welt Spinozas dringt zuweilen eine Stimme der Anerkennung. Der Kurfürst Karl Ludwig von der Pfalz läßt bei ihm anfragen, ob er geneigt sei, an der Universität zu Heidelberg »die Stelle eines ordentlichen Professors der Philosophie zu bekleiden«. Der Anfragende, ein Professor der Theologie in Heidelberg, fügt hinzu: »Nirgends werden Sie einen Fürsten finden, der gegen ausgezeichnete Geister, wozu er Sie rechnet, huldvoller gesinnt ist. Sie werden die vollste Freiheit zu philosophieren genießen, im Vertrauen darauf, daß Sie diese nicht zur Störung der öffentlich anerkannten Religion mißbrauchen werden.« Das Angebot ist verlockend. Aber Spinoza hat Bedenken; er antwortet: »Wenn es je mein Wunsch gewesen wäre, eine Professur ... zu übernehmen, so hätte ich mir keine andere wünschen können als die, die mir von Seiner Durchlaucht dem Kurfürsten von der Pfalz durch Sie angeboten wird, namentlich wegen der Freiheit des Philosophierens, die der gnädigste Fürst mir einzuräumen geruht... Da es jedoch nie meine Absicht gewesen ist, ein öffentliches Lehramt zu bekleiden, so kann ich mich nicht dazu entschließen, dieses glänzende Anerbieten anzunehmen ... Denn ich bedenke ..., daß ich nicht weiß, innerhalb welcher Grenzen die Freiheit des Philosophierens sich halten müsse, damit ich nicht den Anschein erwecke, als wolle ich die öffentlich anerkannte Religion stören. Zerwürfnisse entstehen weniger aus inniger Liebe zur Religion, als vielmehr aus der Verschiedenheit der menschlichen Affekte oder aus dem Widerspruchsgeist, womit man alles, ob es noch so richtig gesagt ist, zu verdrehen und zu verdammen pflegt Da ich dies schon in meinem einsamen Privatleben erfahren habe, um wieviel mehr hätte ich es zu befürchten, nachdem ich zu dieser Würde emporgestiegen wäre. Sie sehen also, hochverehrter Herr, daß mich nicht etwa die Aussicht auf ein besseres Lebenslos zurückhält, sondern allein die Liebe zu einem ungestörten Dasein, die, um es mir einigermaßen erhalten zu können, mich veranlaßt, von öffentlichen Vorlesungen abzusehen.«

So bleibt Spinoza in der Stille seines einsamen Nachdenkens. Er ist, wie einer seiner früheren Biographen schreibt, »wie in einem Museum begraben«. Einsam auch stirbt er, mit 44 Jahren, nachdem er seit langem an der Schwindsucht gelitten hat.

Erst nach dem Tode Spinozas werden seine wichtigsten philosophischen Werke herausgegeben: der »Traktat von der Vervollkommnung des Verstandes« und das große Hauptwerk, die »Ethik«, Da erst wird auch offenbar, woraus diesem Denker die Kraft kommt, angesichts der Feindschaft und des Hasses fast der gesamten Mitwelt doch sich selber und der von ihm gefundenen Wahrheit treu zu bleiben und ohne die Verlockung des Ruhmes in der Einsamkeit auszuharren. Das wird ihm darum möglich, weil er in seinem Denken schon immer der Welt und ihrem Getriebe entrückt ist. Sein Inneres ist von einer großen Sehnsucht erfüllt: hinaus über das Vergängliche und hin zum Ewigen, jener Sehnsucht, die, als Leiden an der Endlichkeit, zu allen Zeiten das Grundgefühl der Philosophen gewesen ist.

So fängt denn sein Traktat mit folgenden Worten an: »Nachdem mich die Erfahrung belehrt hatte, daß alles, was im gewöhnlichen Leben so oft begegnet, eitel und flüchtig ist..., beschloß ich, zu erforschen ob es ein wahres Gut gebe ..., von dem allein, nach Abwerfung alles Übrigen, die Seele wahrhaft angegangen werde; ja ob es etwas gebe, das, wenn ich es gefunden und erworben hätte, mir dauernde und höchste Freude auf immer verschaffen könnte.« Wovon sich Spinoza abwendet, ist der Um trieb des alltäglichen Lebens, das Suchen nach Reichtum, nach Ehre, nach Lust; all das erscheint ihm eitel und leer, flüchtig und vergänglich Er kann es nur mit inniger Trauer betrachten. Aber eben daraus erwächst ihm eine Sehnsucht über das Vergängliche hinaus, nach einem Zustande, in dem alle Betrübnis über die Vergänglichkeit hinter ihm geblieben wäre. Als er dieses wahre, beseligende Gut gefunden hat, schreibt er: »Die Liebe zu einem ewigen und unendlichen Ding nährt die Seele mit der einzig wirklichen Freude und ist aller Trauer ledig.«

Das also ist der Grundzug des Philosophierens Spinozas: aus der Erfahrung des Leidens an der Vergänglichkeit sich liebend nach dem Ewigen auszustrecken und in dieser Liebe zu ruhen. »Amor intellectualis erga Deum«, nennt er es: »geistige Liebe zu Gott«. Deshalb kann Novalis sagen: »Spinoza ist ein gotttrunkener Mensch.« »Der Spinozismus ist eine Übersättigung mit Gottheit.« So auch versteht Schleiermacher Spinoza: »Ihn durchdrang der hohe Weltgeist, das Unendliche war sein Anfang und sein Ende, das Universum seine einzige und ewige Liebe; in heiliger Unschuld und tiefer Demut spiegelte er sich in der ewigen Welt und sah zu, wie auch er ihr liebenswürdigster Spiegel war.« So denkt schließlich auch der französische Philosoph Victor Cousin; die Ethik Spinozas, schreibt er, ist »ein mystischer Hymnus, ein Aufschwung und ein Seufzen der Seele zu dem hin, der allein mit Recht sagen kann: Ich bin, der ich bin.«

Daher auch beginnt das große Hauptwerk Spinozas, die »Ethik«, mit dem Gedanken Gottes als der Ursache seiner selbst. Daß die Philosophie mit Gott anfängt, ist für Spinoza selbstverständlich, ganz im Gegensatz zu seinem Lehrer Descartes, der die Gottesgewißheit erst auf dem Wege über die Selbstgewißheit gewinnt. Demgegenüber behauptet Spinoza: »Wir können der Existenz keiner Sache gewisser sein als der Existenz des unbedingt unendlichen und vollkommenen Wesens, d.h. Gottes. Denn da seine Wesenheit alle Unvollkommenheit ausschließt..., hebt sie dadurch jede Ursache, an seiner Existenz zu zweifeln, auf und gibt ueber diese die höchste Gewißheit.« In diesem Sinne gilt: »Gott, die erste Ursache aller Dinge und auch die Ursache seiner selbst, gibt sich selbst durch sich selbst zu erkennen.« Wenn es aber so ist, woher kommt dann der Haß, mit dem die Vertreter des orthodoxen Judentums ebenso wie des kirchlichen Christentums diesen Philosophen zu seinen Lebzeiten und noch über sein Grab hinaus verfolgen? Daher, daß der Gott, den Spinoza als den Gegenstand seiner unendlichen Sehnsucht weiß, nicht der gleiche ist, von dem die christliche und die jüdische Religion reden. Es ist nicht der Gott, der in der Allmacht seines Willens eine Welt geschaffen und sie im Akt der Schöpfung an sich selber entlassen hat. Spinoza kann der Welt keine selbständige Existenz zugestehen; im Grundgefühl der Sehnsucht hat er erkannt, daß das Vergängliche eitel und flüchtig ist; ja, genau betrachtet, ist es gar nicht im eigentlichen Sinne des Seins und der Wirklichkeit. In Wahrheit ist Gott und nur Gott. So wird Spinoza über den Gedanken Gottes als des Schöpfers und der Welt als der Schöpfung hinausgetrieben. Wie kein anderer hat Fichte das aus verwandtem Denken heraus begriffen: »Dies war eben die Schwierigkeit aller Philosophie, die... mit dem Suchen der Einheit Ernst machte, daß entweder wir zugrunde gehen mußten, oder Gott... Der erste kühne Denker, dem hierüber das Licht aufging, mußte nun wohl begreifen, daß, wenn die Vernichtung vollzogen werden sollte, wir uns derselben unterziehen müssen; dieser Denker war Spinoza.«

Aber, so könnte man einwenden, die Welt fsf doch, und auch der Mensch fsf. Das leugnet auch Spinoza nicht. Aber er fragt: was sind denn Welt und Mensch, wenn im eigentlichen Sinne nur Gott ist? Und er antwortet: die Welt ist nichts als eine Weise, wie Gott selber existiert, und der Mensch ist nichts als eine Weise, wie Gott selber denkt. Wenn man sagt, ein Ding ist, so redet man un-angemessen. Eigentlich müßte man sagen: in der Weise, wie die-ses Ding mir erscheint, erscheint mir  Gott, mir nämlich, der ich selber ein Gedanke Gottes bin -- Denn Gott ist alles in allem, er ist in allem Wirklichen, in den Dingen wie im Menschen, anwesend.

Oder, genauer ausgedrückt: alles Wirkliche ist in Gott befaßt; »alles, was ist, ist in Gott«. In Spinozas Sprache: die Dinge und die menschlichen Geister sind keine selbständigen Substanzen; Gott allein ist die eine und einzige Substanz; Dinge und menschliche Geister sind nur Modi dieser einen Substanz. Zu dieser Konsequenz muß Spinoza in seiner entschlossenen Abwendung von allem Vergänglichen notwendig kommen. »Über Gott und die Natur hege ich eine Meinung, die von der weit verschieden ist, die die neuerlichen Christen zu verteidigen pflegen. Denn ich halte Gott für die inwendige Ursache aller Dinge ..., nicht aber für die diese überschreitende Ursache. Ich sage, alles sei in Gott und werde in Gott bewegt. Das behaupte ich, wenn auch auf andere Weise, im Einverständnis mit Paulus und vielleicht auch mit allen alten Philosophen; ja, ich möchte wagen hinzuzufügen: auch mit allen alten Hebräern.«

Nun versteht man die Empörung des Zeitalters und der Nachwelt gegen Spinoza, nun begreift man, daß man sich nicht genug tun konnte, diesen gotttrunkenen Philosophen als verruchten Atheisten zu schmähen. Denn im Denken Spinozas ist kein Raum für einen persönlichen Gott und gar für einen Gott, der sich ausschließlich in den Propheten und in Jesus Christus offenbart. Die Offenbarung Gottes, so denkt Spinoza, geschieht in allem Wirklichen. Dieser Gedanke hat es aber auch vermocht, daß in einer veränderten Zeit Denker und Dichter wie Lessing und Goethe, Herder und Schleiermacher, Fichte, Novalis und Schelling sich auf den einsamen Philosophen von Amsterdam besinnen und, aus verwandter Erfahrung von Gott und von der Welt, sich ihm nahe wissen.

Freilich, die Unbegreiflichkeit Gottes und der Wirklichkeit wird auch von diesem Gedanken ihrer innigen Verflechtung her, wie ihn Spinoza denkt, nicht begreiflicher. Denn wenn Gott in allem Wirklichen anwesend ist, muß er dann nicht auch in den Streit und Kampf eingehen, der doch mit zur Wirklichkeit der Welt gehört? Das hat in drastischer Weise um 1700 ein Mann aus der Freien Reichtsstadt Memmingen ausgesprochen: »Ich höre in der Welt von Kriegen und Kriegsgeschrei. So muß dann Gott Kriege

wider sich selbst führen und in seine eigne Därmer rasen. Er muß sich selbst destruieren und umbringen. All der Greuel von Zorn, Haß, Grimm und Widerwärtigkeit der Menschen unter sich selbst müssen eine Passion Gottes gegen und wider sich selbst sein... Man muß sagen, daß Gott in den Menschen lebe, leide, sterbe, geboren werde, esse, trinke, schlafe, beischlafe u. s. f., daß die Traurigkeit, Verzweiflung und das Ungemach der Menschen eben die Traurigkeit, Verzweiflung und das Ungemach Gottes seien ... All die tollen und widerwärtigen Gedanken der Menschen, die Blasphemien und erschrecklichen Chimären der in uns ewig schwätzenden Vernunft müssen Gedanken und Schildereien Gottes sein, in welchen er sich selbst abmalet und bespiegelt. Das Gespräch zweier oder mehr Menschen wird nicht anders sein als eine süße Unterredung Gottes mit sich selbst.«

Dieser bekümmerte Mann begreift allerdings nicht die ganze Tiefe des Gedankens Spinozas. Er versteht nicht, daß dieser in seiner unendlichen Sehnsucht zu Gott die Welt mit all ihrem Getriebe und all ihrem Streit längst hinter sich gelassen hat. Aber gerade an diesem Punkte gerät das Denken Spinozas in eine tiefere Gefährdung. Denn wer in solcher ausschließlichen Hingabe an das Ewige lebt, dem muß sich das Zeitliche in Nichts auflösen, dem muß die Wirklichkeit entgleiten, der muß schließlich selber unwirklich werden. Das ist es, was Spinoza widerfährt; das ist es, was sein Denken zu einem so gewagten Versuch macht, das Endliche in das Unendliche aufzuheben; das ist schließlich auch der tiefere Grund seiner gläsernen Einsamkeit. So hat vielleicht Hegel mit dem zunächst so befremdlichen Satze recht, den er im Blick auf den Tod Spinozas ausspricht: »Er starb den 21. Februar 1677, im 44- Jahre seines Alters, an der Schwindsucht, an der er seit lange Sitten - übereinstimmend mit seinem Systeme, in dem auch alle Besonderheit und Einzelheit in der Einen Substanz verschwindet.«
 



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