Life is what you make it


„Nein!“ schrie er. Das kleine Mädchen erzitterte.
Hilfesuchend sah sie ihre Mutter an, doch die zuckte nur hilflos mit den Schultern.
„Wir reden später nochmal in Ruhe darüber“, sagte sie
und warf ihrer Tochter einen Blick zu.

Eine Woche später stand fest:
Das kleine Mädchen durfte den Geburtstag
ihrer Freundin Julia doch mitfeiern.
Es sollte in die Schwimmhalle gehen,
die, in der es auch Wellengang gibt.
Sie freute sich darauf,
auch wenn ihr Vater nur wohl oder übel
seine Zustimmung dazu gegeben hatte.
„Wenn Du dir unbedingt Krankheiten holen willst, bitte,
Du bist selbst schuld!“, hatte er geknurrt.
Ihre Mutter hatte auf der Fahrt zum Schwimmbad betont,
dass sie schön artig sein und immer auf Julias Mutter hören solle.

Es war ein schöner Kindergeburtstag:
Sie hatten Spaß im Wasser und der Wellengang war wirklich aufregend.

Das kleine Mädchen lies sich von den Wellen treiben,
weit weg von ihren Sorgen und dem bösen Gesicht ihres Vaters,
welches ihr immer noch im Kopf herumspukte...

Als die Wellen nach ein paar Minuten endeten,
sah sie sich im Wasser stehend nach den anderen um
und erblickte sie am anderen Ende des Beckens.
Sie winkte Julias Mutter und den anderen zu und schwamm zum Beckenrand.


„Die Wellen sind toll, oder?“
Das kleine Mädchen blickte zu dem Mann auf,
der an der Palme am Beckenrand lehnte und auf sie herunter lächelte.
Sie blieb wie angewurzelt im Wasser stehen und bejahte schüchtern.

„Möchtest Du mir mal zeigen, wie man so toll schwimmen lernt?“,
fragte der Mann weiter und lachte sie an.

„Kannst Du nicht schwimmen?“,
das kleine Mädchen blickte den Mann entgeistert an.
“Nicht so gut“, erwiderte dieser
„aber Du, ich habe Dich gesehen, als Wellengang war“.

„Du kannst aber nicht mit Jacke schwimmen“ sagte das Mädchen
und deutete auf seinen Bademantel. Der Mann lachte wieder.
„Und wenn ich ihn ausziehe, bringst Du mir dann das Schwimmen bei?“
„Ja“, antwortete sie und wartete, bis er zu ihr ins Wasser kam.
Der Mann roch zwar nach Bier, aber das kleine Mädchen dachte sich nichts weiter dabei.
Ihre Mutter ihr mal gesagt, dass Erwachsene sowas gerne mal trinken
- so wie sie die rote Brause gern trank.
Und der Mann war fröhlich und hatte eine bunte Badehose an.

Das kleine Mädchen zeigte ihm, wie er seine Arme bewegen muss
und gleichzeitig immer die Beine, so wie sie es im Seepferdchen-Kurs gelernt hatte.
Der Mann lachte viel und schluckte Wasser, aber das schien ihn nicht weiter zu stören.
„Du bist eine gute Lehrerin“, sagte er und umarmte sie.
Das kleine Mädchen erschrak und drückte ihn weg.
„Zeigst Du mir da vorn nochmal, wie das geht?“, bat er
und deutete auf das leere Kinderbecken hinter den Umkleidekabinen.
„Sonst trink ich das ganze Schwimmbecken leer und es gibt bald keine Wellen mehr“.
Sie zögerte kurz, musste dann aber lachen und stimmte zu...


„Kind, da bist Du ja! Wir haben Dich schon überall gesucht!“,
rief Julias Mutter erleichtert und umarmte das Mädchen.
„Oh....das wollte ich nicht“, stotterte die Kleine verstört.
„Ist doch nicht schlimm, aber bitte bleib jetzt bei den anderen, einverstanden?
Oder magst Du etwa kein Eis?“, fragte Julias Mutter
sie mit einem Blitzen in den Augen. Das Mädchen nickte:
„Doch...schon, danke“, wickelte sich in ihr Handtuch und setzte sich zu den anderen.
Eigentlich mochte sie Eis, aber heute schmeckte es ihr nicht besonders.

Sie war froh, als Julias Mutter sie anschließend nach Hause fuhr...


Zuhause angekommen öffnete ihre Mutter die Tür:
„Und? Hattet ihr Spaß? Wie war der Wellengang?“
Das kleine Mädchen zögerte einen Moment
– sollte sie ihrer Mutter von dem Mann erzählen? -
doch dann hörte sie ihren Vater im Wohnzimmer fluchen.
“Du bist selbst schuld!“, das hatte er gesagt,
kam ihr wieder in den Sinn.
„Ja, es war schön, aber jetzt bin ich müde. Gute Nacht Mama“,
antwortete sie schnell und verschwand in ihrem Zimmer.

In dieser Nacht konnte das Mädchen nicht gut schlafen.
Andauernd schreckte sie hoch, hörte Geräusche oder dachte,
sie würde den Mann wieder lachen hören.
Ganz fest drückte sie ihren Teddy an sich
und wünschte sich den nächsten Morgen herbei.

Als ihre Mutter morgens zum Wecken an die Zimmertür klopfte,
war das kleine Mädchen längst wach.
„Sie sieht übermüdet aus, das war wohl gestern doch zuviel Trubel“,
dachte sich die Mutter,
als sie ihre Tochter mit dem Teddy im Arm auf dem Bett sitzend erblickte.

„Los meine Kleine, sonst kommst Du noch zu spät zur Schule“,
sagte sie fröhlich.



Von da an hatte das kleine Mädchen oft Angst
– vor fremden Männern und besonders im Dunkeln und allein.
Ihre Mutter wunderte sich zwar,
lies aber dennoch jede Nacht die kleine Lampe brennen.
Und auch die Scheu des kleinen Mädchens vor Unbekannten
empfand die Mutter als normale Reaktion,
sie schob es auf das schüchterne Wesen ihrer Tochter
und dachte sich nichts weiter dabei...



Das kleine Mädchen wuchs heran und wechselte aufs Gymnasium.
Dort fand sie neue Freunde und hatte viel Spaß.
Sie ging von Party zu Party und feierte jedes Wochenende
ausgelassen mit ihrer neuen Clique.
Zu Julia hatte sie keinen Kontakt mehr,
aber das war dem Mädchen auch nicht weiter wichtig.

Viel spannender war es, bunte Pillen und anderes „Zeug“ auszuprobieren.
Die Clique belächelte die spießigen Leute
und fühlte sich lange Zeit unverwundbar.


...Sie erinnert sich...

„Geh bitte und warte vor der Tür, ich komm in 5Minuten nach!“,
Jennifer wirft ihr einen beschwörenden Blick zu.
Sie nickt, wendet sich zur Tür und ignoriert ihre innere Stimme,
die immer wieder laut „Nein!“ ruft.
...Auf dem Flur ist wimmelt es von Menschen,
es ist laut und ein süßlich-holziger Geruch steigt ihr in die Nase,
so durchdringend, dass ihr schlecht davon wird.

Sie geht in die Großraumküche, lehnt sich ans offene Fenster
und schließt die Augen...

„Was machst Du überhaupt hier? Das bist doch gar nicht DU!
Wie kannst Du es nur soweit kommen lassen?!
Du weißt, was jetzt in dem Zimmer passiert,
wieso hältst Du sie nicht davon ab?
Tu doch etwas, Du bist doch ihre beste Freundin!“

“Willst was kaufen?“,
eine schmierige Stimme reisst das Mädchen aus ihren Gedanken.
“Nein...danke“ antwortet sie und stürmt zurück auf den überfüllten Flur,
ohne den Fremden eines Blickes zu würdigen.

Dort angekommen stockt ihr der Atem:

Eine Tür öffnet sich, ein Mann verschwindet ins Bad
und Jen lächelt sie mit glasigen Augen an.
“Wir können los, hab alles,
komm Süße, die Bullen nerven bestimmt gleich wieder!“,
sagt sie während sie hektisch durchs Haar fährt
und zerrt das Mädchen mit sich.
Ein paar Pillen später, unterwegs zur nächsten Party,
denkt sie nicht mehr daran...
Auch diesen Tag wird das Mädchen erfolgreich verdrängen,
zumindest eine Zeit lang...


Irgendwann hat sie dennoch erkannt,
dass sie sich und ihr Leben mit dieser Lebens(un)art kaputtmachen
und da war es schon fast zu spät.

Das Mädchen versuchte, auch ihren Freunden zu helfen,
doch nicht alle wollten diese Hilfe und für einige,
darunter auch Jen, kam jede Hilfe zu spät...
Auch ein Umzug samt Schulwechsel konnte die Erinnerungen
und Schuldgefühle nicht vertreiben.
Aber sie wollte ihr Leben wieder in den Griff bekommen
und so verdrängte sie wieder alle Empfindungen,
brach jeglichen Kontakt ab und ließ dieses Kapitel hinter sich.


Die Eltern bemerkten auch davon nichts,
das Mädchen hatte sich über die Jahre
zu einer guten Schauspielerin entwickelt.
Und sie hatten wohl auch genug damit zu tun,
ihre Scheidung in einen Rosenkrieg zu verwandeln.




...Mittlerweile ist das Mädchen erwachsen geworden
und denkt nicht mehr allzu oft
an diesen Nachmittag im Schwimmbad.
Sie wohnt weit weg von ihrer Vergangenheit
und hat auch keine Angst mehr in der Dunkelheit,
im Gegenteil, die Nacht gleicht einer Erlösung.
Und bei Schlafstörungen hört sie Musik...


Manches Mal hat sich das Mädchen gefragt,
was geschehen wäre, hätte sie genug Vertrauen gehabt
und ihren Eltern damals von dem Missbrauch erzählt.
Oder von der Partyzeit und ihren Folgen...
Was wäre gewesen, wenn ..?

Was hat sie falsch gemacht? Warum gerade sie?
Wieso hat sie keiner gewarnt?
Sie hat gelernt, sich diese Fragen nicht allzu oft zu stellen.

Vergangenheit heisst Vergangenheit, weil sie vorbei ist!


Zu Fremden ist sie freundlich, aber reserviert.
Vertrauen fassen und Gefühle zum Ausdruck bringen,
fällt dem Mädchen sehr schwer
und betrunkene Männer machen ihr heute noch irgendwie Angst,
aber sie hat gelernt, damit umzugehen und versucht,
nicht jeden Menschen von vornherein zu verurteilen.



„Du musst im Leben lernen,
hinter die Fassade eines Menschen zu blicken...“,
sagte ihr einmal jemand
„...manchmal ist die Welt ein einziger Maskenball.“

- Dieser Satz ist dem Mädchen bis heute im Gedächtnis geblieben...




[01.05.2004]






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