Leben



Geburt ist nicht
ein augenblickliches Ereignis,
sondern ein dauernder Vorgang.
Das Ziel des Lebens ist es,
ganz geboren zu werden,
und seine Tragödie,
dass die meisten von uns sterben,
bevor sie ganz geboren sind.


[E. Fromm]






Ich bin hier,
weil es letztlich kein Entkommen vor mir selbst gibt.
Ich bleibe solange auf der Flucht,
bis ich mich Euren Augen und Herzen zu stellen wage.
Ehe ich es nicht ertrage,
mein innerstes Geheimnis mit Euch zu teilen,
kann ich nicht davon befreit werden.
Ich werde einsam bleiben.
Hier in der Gemeinschaft kann ich mir selbst begegnen.
Nicht als Riese meiner Träume
und auch nicht als Zwerg meiner Ängste,
sondern als Mensch,
der als Teil des Ganzen mitarbeitet.
Auf diesem Grund kann ich Wurzeln schlagen und wachsen.
Nicht mehr allein wie im Tod,
sondern als Mensch unter Menschen.


[Beauvais]






Ein Tropfen auf den heißen Stein?

Ein Mann, der jeden Tag am Strand des Meeres spazieren geht,
sieht eines Tages etwas seltsames in der Ferne:
Ein Mensch scheint dort am Strand zu stehen
und es sieht aus, als würde er tanzen.
Als der Mann näher kommt, erkennt er,
dass es ein Junge ist,
der sich immer wieder bückt und Seesterne vom Strand aufhebt,
um sie ins Wasser zurück zu werfen.
"Was machst Du da?", fragt er den Jungen,
verwundert über dessen Anblick.
"Die Seesterne ... die Flut spült sie an den Strand.
Alleine kommen sie nicht zurück ins Wasser und müssen sterben.",
antwortet dieser.
"Aber was soll das nützen?!
Sieh doch, der ganze Strand liegt voll von ihnen.
Es macht keinen Unterschied, ob Du einige von ihnen zurückwirfst!",
entgegnet der Mann verwundert.
Der Junge bückt sich erneut und nimmt einen Seestern.
Lange steht er stumm da,
dann -ohne den Mann anzusehen- flüstert er:
"Für diesen einen ist es ein Unterschied!"


[Verfasser unbekannt]









Die Einladung

Es interessiert mich nicht,
womit Du dein Geld verdienst.
Ich will wissen,
wonach du dich sehnst
und ob Du die Erfüllung
deines Herzenswunsches zu träumen wagst.

Es interessiert mich nicht,
wie alt Du bist.
Ich will wissen,
ob Du es riskierst,
dich zum Narren zu machen,
auf der Suche nach Liebe,
nach deinem Traum,
nach dem Abenteuer des Lebens.

Es interessiert mich nicht,
welche Planeten ein Quadrat zu Deinem Mond bilden.
Ich will wissen,
ob Du deinem Leid auf den Grund gegangen bist
und ob Dich die Ungerechtigkeiten des Lebens geöffnet haben,
oder ob Du dich klein machst und verschließt,
um dich vor Verletzungen zu schützen.

Ich will wissen ob Du den Schmerz
- meinen oder deinen eigenen -
ertragen kannst,
ohne ihn zu verstehen,
zu bemänteln
oder zu lindern.

Ich will wissen, ob Du Freude
- meine oder deine eigene -
aushalten kannst,
Dich hemmungslos dem Tanz hingeben
und jede Faser deines Körpers von Ekstase erbeben lassen kannst,
ohne an Vorsicht oder Vernunft zu apellieren,
oder an die Begrenztheit des Menschseins zu denken.

Es interessiert mich nicht,
ob das, was Du erzählst, wahr ist.
Ich will wissen,
ob Du andere enttäuschen kannst,
um Dir selber treu zu bleiben,
ob Du den Vorwurf des Verrates ertragen kannst,
um deine eigene Seele nicht zu verraten,
ob Du treulos sein kannst,
um vertrauenswürdig zu bleiben.

Ich will wissen,
ob Du die Schönheit des Alltäglichen erkennen kannst,
selbst wenn sie Dir nicht immer angenehm ist
und ob ihre Allgegenwärtigkeit die Quelle ist,
aus der Du die Kraft zum Leben schöpfst.

Ich will wissen,
ob Du mit Unzulänglichkeiten leben kannst
- meiner und deiner eigenen -
und immer noch am Seeufer stehst
und der silbrigen Scheibe des Vollmondes
ein uneingeschränktes "Ja" zurufst.

Es interessiert mich nicht,
wo Du wohnst
oder ob Du reich bist.
Ich will wissen,
ob Du nach einer kummervoll durchwachten Nacht,
zermürbt und müde bis auf die Knochen,
aufstehen kannst, um das Notwendige zu tun.

Es interessiert mich nicht,
wen Du kennst
oder wie du hierher gekommen bist.
Ich will wissen,
ob Du inmitten des Feuers bei mir ausharren wirst,
ohne zurück zu weichen.

Es interessiert mich nicht,
wo oder was Du mit wem studiert hast.
Ich will wissen,
was Dich von innen heraus trägt,
wenn alles andere wegbricht.

Ich will wissen,
ob Du mit dir selbst alleine sein kannst
und ob Du den,
der Dir in solch einsamen Momenten deines Lebens Gesellschaft leistet,
wirklich magst.


[O. M. Dreamer]











Die Welt in Ordnung bringen

Ein kleiner Junge kam zu seinem Vater
und wollte mit ihm spielen.
Der aber hatte keine Zeit für den Jungen
und auch keine Lust zum Spiel.
Also überlegte er,
womit er seinen Sohn beschäftigen könnte.
Er fand in einer Zeitschrift eine komplizierte
und detailreiche Abbildung der Erde.
Dieses Bild riss er aus und zerschnitt es dann
in viele kleine Teile.
Das gab er dem Jungen und dachte,
dass der nun mit diesem schwierigen Puzzle
eine ganze Zeit beschäftigt sei.
Der Junge zog sich in eine Ecke zurück
und begann mit dem Puzzle.
Nach wenigen Minuten kam er zum Vater
und zeigte ihm das fertig zusammengesetzte Bild.
Der Vater konnte es kaum glauben und fragte seinen Sohn,
wie er das geschafft habe.
Das Kind sagte:
"Ach, auf der Rückseite war ein Mensch abgebildet.
Den habe ich richtig zusammengesetzt.
Und als der Mensch in Ordnung war,
war es auch die Welt."


[Verfasser unbekannt]











Santiago VII :
Atemlos/ Der Verlust der Sehnsucht vor dem Paradies


Wer kennt das nicht?
Jahrelanges Wandern.
Atemlose Zeiten.
Atemlos ob der Anstrengung.
Atemlos ob der Angst.
Atemlos ob der Gemeinheiten des Lebens.

Bin atemlos und weiß doch nicht,
aus welchem Anlass ich so außer Atem bin.

Nomade im Universum bin ich.

Ein Nomade bin ich mit mir.
Um mich herum
in der Galaxie meiner Träume.
Unerreichbar.

Wer kennt das nicht...
Jahrelanges Sehnen
und dann plötzlich ein Schild:

Angekommen.
Keine Wendemöglichkeit.
Ab hier ist Sackgasse,
letzte Haltestelle
und kein Bus zurück.

Aber halt.
Ich muss nochmal zurück.
Habe meine Sehnsüchte im Bus vergessen.

Nein, wirklich!
Ich hatte welche...

Im Bus.
Schauen Sie bitte nochmal nach.
Letzte Reihe hinten links.
Vielleicht zwischen den Sitzen.

Ach.
Wie schade.

Nichts gefunden.
Nun gut.

Und nun?
Eintreten?
Ich soll eintreten?
Eintreten worein?

Eintreten in das Paradies? Wie schön.
Aber...ich kann nicht.

Warum nicht?
Meine Sehnsüchte.
Sie fehlen mir doch.
Wie gerne möchte ich sie mitnehmen in das Paradies.

Das geht jetzt nicht mehr?
Der Zug ist abgefahren, meinen Sie?
Sehnsüchte hat man nur ein Leben lang?

Und dann?

Keine Sehnsüchte mehr.

Aha ...








Wenn ich mein Leben noch einmal leben könnte ...

Wenn ich mein Leben noch einmal leben könnte,
im nächsten Leben würde ich versuchen,
mehr Fehler zu machen.

Ich würde nicht so perfekt sein wollen,
ich würde mich mehr entspannen.
Ich wäre ein bisschen verrückter als ich gewesen bin,
ich würde viel weniger Dinge so ernst nehmen.
Ich würde nicht so gesund leben.
Ich würde mehr riskieren,
würde mehr reisen,
Sonnenuntergänge betrachten,
mehr Bergsteigen,
mehr in Flüssen schwimmen.

Ich war einer dieser klugen Menschen,
die jede Minute ihres Lebens fruchtbar verbrachten.
Freilich hatte ich auch Momente der Freude.

Aber wenn ich noch einmal anfangen könnte,
würde ich versuchen,
nur mehr gute Augenblicke zu haben.
Falls Du es noch nicht weißt,
aus diesen besteht nämlich das Leben.
Nur aus Augenblicken.
Vergiss nicht den jetzigen.

Wenn ich noch einmal leben könnte,
würde ich von Frühlingsbeginn an
bis in den Spätsommer barfuss gehen.
Und ich würde mehr mit Kindern spielen,
wenn ich das Leben noch vor mir hätte.

Aber sehen Sie...
ich bin 85 Jahre alt und weiß,
dass ich bald sterben werde...


[J. L. Borges (1899 - 1987)]










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