Im Hotel wurde Karl gleich in eine Art Büro
geführt, in welchem die Oberköchin, ein Vormerkbuch in der Hand, einer jungen
Schreibmaschinistin einen Brief in die Schreibmaschine diktierte. Das äußerst präzise
Diktieren, der beherrschte und elastische Tastenschlag jagten an dem nur hie und da
merklichen Ticken der Wanduhr vorüber, die schon fast halb zwölf zeigte. »So!« sagte
die Oberköchin, klappte das Vormerkbuch zu, die Schreibmaschinistin sprang auf und
stülpte den Holzdeckel über die Maschine, ohne bei dieser mechanischen Arbeit die Augen
von Karl zu lassen. Sie sah noch wie ein Schulmädchen aus, ihre Schürze war sehr
sorgfältig gebügelt, auf den Achseln zum Beispiel gewellt, die Frisur recht hoch, und
man staunte ein wenig, wenn man nach diesen Einzelheiten ihr ernstes Gesicht sah. Nach
Verbeugungen, zuerst gegen die Oberköchin, dann gegen Karl, entfernte sie sich, und Karl
sah unwillkürlich die Oberköchin mit einem fragenden Blicke an.
»Das ist aber schön, dass Sie nun doch gekommen sind«, sagte die Oberköchin. »Und
Ihre Kameraden?«
»Ich habe sie nicht mitgenommen«, sagte Karl.
»Die marschieren wohl sehr früh aus«, sagte die Oberköchin, wie um sich die Sache
zu erklären.
Muss sie denn nicht denken, dass ich auch mitmarschiere? fragte sich Karl
und sagte deshalb, um jeden Zweifel auszuschließen: »Wir sind in Unfrieden auseinander
gegangen.«
Die Oberköchin schien das als eine angenehme Nachricht aufzufassen. »Dann sind Sie
also frei?« fragte sie.
»Ja, frei bin ich«, sagte Karl, und nichts schien ihm wertloser.
»Hören Sie, möchten Sie nicht hier im Hotel eine Stelle annehmen?« fragte die
Oberköchin.
»Sehr gern«, sagte Karl, »ich habe aber entsetzlich wenig Kenntnisse. Ich kann zum
Beispiel nicht einmal auf der Schreibmaschine schreiben.«
»Das ist nicht das Wichtigste«, sagte die Oberköchin. »Sie bekämen eben vorläufig
nur eine ganz kleine Anstellung und müssten dann zusehen, durch Fleiß und Aufmerksamkeit
sich hinaufzubringen. Jedenfalls aber glaube ich, dass es für Sie besser und passender
wäre, sich irgendwo festzusetzen, statt so durch die Welt zu bummeln. Dazu scheinen Sie
mir nicht gemacht.«
Das würde alles auch der Onkel unterschreiben, sagte sich Karl und nickte
zustimmend. Gleichzeitig erinnerte er sich, dass er, um den man so besorgt war, sich noch
gar nicht vorgestellt hatte. »Entschuldigen Sie, bitte«, sagte er, »dass ich mich noch
gar nicht vorgestellt habe, ich heiße Karl Rossmann.«
»Sie sind ein Deutscher, nicht wahr?«
»Ja«, sagte Karl, »ich bin noch nicht lange in Amerika.«
»Woher sind Sie denn?«
»Aus Prag in Böhmen«, sagte Karl.
»Sehen Sie einmal an«, rief die Oberköchin in einem stark englisch betonten Deutsch
und hob fast die Arme, »dann sind wir ja Landsleute, ich heiße Grete Mitzelbach und bin
aus Wien. Und Prag kenne ich ja ausgezeichnet, ich war ja ein halbes Jahr in der Goldenen
Gans auf dem Wenzelsplatz angestellt. Aber denken Sie nur einmal.«
»Wann ist das gewesen?« fragte Karl.
»Das ist schon viele, viele Jahre her.«
»Die alte Goldene Gans«, sagte Karl, »ist vor zwei Jahren niedergerissen worden.«
»Ja, freilich«, sagte die Oberköchin, ganz in Gedanken an vergangene Zeiten.
Mit einem Male aber wieder lebhaft werdend, rief sie und fasste dabei Karls Hände:
»Jetzt, da es sich herausgestellt hat, dass Sie mein Landsmann sind, dürfen Sie um
keinen Preis von hier fort. Das dürfen Sie mir nicht antun. Hätten Sie zum Beispiel
Lust, Liftjunge zu werden? Sagen Sie nur ja und Sie sind es. Wenn Sie ein bisschen
herumgekommen sind, werden Sie wissen, dass es nicht besonders leicht ist, solche Stellen
zu bekommen, denn sie sind der beste Anfang, den man sich denken kann. Sie kommen mit
allen Gästen zusammen, man sieht Sie immer, man gibt Ihnen kleine Aufträge; kurz, Sie
haben jeden Tag die Möglichkeit, zu etwas Besserem zu gelangen. Für alles Übrige lassen
Sie mich sorgen.«
»Liftjunge möchte ich ganz gerne sein«, sagte Karl nach einer kleinen Pause. Es
wäre ein großer Unsinn gewesen, gegen die Stelle eines Liftjungen mit Rücksicht auf
seine fünf Gymnasialklassen Bedenken zu haben. Eher wäre hier in Amerika Grund gewesen,
sich der fünf Gymnasialklassen zu schämen. Übrigens hatten die Liftjungen Karl immer
gefallen, sie waren ihm wie der Schmuck des Hotels erschienen.
»Sind nicht Sprachkenntnisse erforderlich?« fragte er noch.
»Sie sprechen Deutsch und ein schönes Englisch, das genügt vollkommen.«
»Englisch habe ich erst in Amerika in zweieinhalb Monaten erlernt«, sagte Karl, er
glaubte, seinen einzigen Vorzug nicht verschweigen zu dürfen. »Das spricht schon
genügend für Sie«, sagte die Oberköchin. »Wenn ich daran denke, welche
Schwierigkeiten mir das Englisch gemacht hat. Das ist allerdings schon seine dreißig
Jahre her. Gerade gestern habe ich davon gesprochen. Gestern war nämlich mein
fünfzigster Geburtstag.« Und sie suchte lächelnd den Eindruck von Karls Mienen
abzulesen, den die Würde dieses Alters auf ihn machte.
»Dann wünsche ich Ihnen viel Glück«, sagte Karl.
»Das kann man immer brauchen«, sagte sie, schüttelte Karl die Hand und wurde wieder
halb traurig über diese alte Redensart aus der Heimat, die ihr da im Deutschsprechen
eingefallen war.
»Aber ich halte Sie hier auf«, rief sie dann. »Und Sie sind gewiss sehr müde, und
wir können auch alles viel besser bei Tag besprechen. Die Freude, einen Landsmann
getroffen zu haben, macht ganz gedankenlos. Kommen Sie, ich werde Sie in Ihr Zimmer
führen.«
»Ich habe noch eine Bitte, Frau Oberköchin«, sagte Karl im Anblick des
Telefonkastens, der auf dem Tisch stand, »es ist möglich, dass mir morgen, vielleicht
sehr früh, meine früheren Kameraden eine Fotografie bringen, die ich dringend brauche.
Wären Sie so freundlich und würden Sie dem Portier telefonieren, er möchte die Leute zu
mir schicken oder mich holen lassen?«
»Gewiss«, sagte die Oberköchin, »aber würde es nicht genügen, wenn er ihnen die
Fotografie abnimmt? Was ist es denn für eine Fotografie, wenn man fragen darf?«
»Es ist die Fotografie meiner Eltern«, sagte Karl. »Nein, ich muss mit den Leuten
selbst sprechen.« Die Oberköchin Portierloge sagte nichts weiter und gab telefonisch in
die den entsprechenden Befehl, wobei sie 536 als Zimmernummer Karls nannte.
Sie gingen dann durch eine der Eingangstür entgegengesetzte Tür auf einen kleinen
Gang hinaus, wo an dem Geländer eines Aufzuges ein kleiner Liftjunge schlafend lehnte.
»Wir können uns selbst bedienen«, sagte die Oberköchin leise und ließ Karl in den
Aufzug eintreten. »Eine Arbeitszeit von zehn bis zwölf Stunden ist eben ein wenig zu
viel für einen solchen Jungen«, sagte sie dann, während sie aufwärts fuhren. »Aber es
ist eigentümlich in Amerika. Da ist dieser kleine Junge zum Beispiel, er ist auch erst
vor einem halben Jahre mit seinen Eltern hier angekommen, er ist ein Italiener. Jetzt
sieht er aus, als könne er die Arbeit unmöglich aushalten, hat schon kein Fleisch im
Gesicht, schläft im Dienst ein, obwohl er von Natur sehr bereitwillig ist aber er
muss nur noch ein halbes Jahr hier oder irgendwo anders in Amerika dienen und hält alles
mit Leichtigkeit aus, und in fünf Jahren wird er ein starker Mann sein. Von solchen
Beispielen könnte ich Ihnen stundenlang erzählen. Dabei denke ich gar nicht an Sie, denn
Sie sind ein kräftiger Junge; Sie sind siebzehn Jahre alt, nicht?«
»Ich werde nächsten Monat sechzehn«, antwortete Karl.
»Sogar erst sechzehn!« sagte die Oberköchin. »Also nur Mut!«
Oben führte sie Karl in ein Zimmer, das zwar schon als Dachzimmer eine schiefe Wand
hatte, im Übrigen aber bei einer Beleuchtung durch zwei Glühbirnen sich sehr wohnlich
zeigte. »Erschrecken Sie nicht über die Einrichtung«, sagte die Oberköchin, »es ist
nämlich kein Hotelzimmer, sondern ein Zimmer meiner Wohnung, die aus drei Zimmern
besteht, sodass Sie mich nicht im Geringsten stören. Ich sperre die Verbindungstüre ab,
sodass Sie ganz ungeniert bleiben. Morgen, als neuer Hotelangestellter, werden Sie
natürlich ihr eigenes Zimmerchen bekommen. Wären Sie mit Ihren Kameraden gekommen, dann
hätte ich Ihnen in der gemeinsamen Schlafkammer der Hausdiener aufbetten lassen, aber da
Sie allein sind, denke ich, dass es Ihnen hier besser passen wird, wenn Sie auch nur auf
einem Sofa schlafen müssen. Und nun schlafen Sie wohl, damit Sie sich für den Dienst
kräftigen. Er wird morgen noch nicht zu anstrengend sein.«
»Ich danke Ihnen vielmals für Ihre Freundlichkeit.«
»Warten Sie«, sagte sie, beim Ausgang stehen bleibend, »da wären Sie aber bald
geweckt worden.« Und sie ging zu der einen Seitentür des Zimmers, klopfte und rief:
»Therese!«
»Bitte, Frau Oberköchin«, meldete sich die Stimme der kleinen Schreibmaschinistin.
»Wenn du mich früh wecken gehst, so musst du über den Gang gehen, hier im Zimmer
schläft ein Gast. Er ist todmüde.« Sie lächelte Karl zu, während sie dies sagte.
»Hast du verstanden?«
»Ja, Frau Oberköchin.«
»Also dann gute Nacht!«
»Gute Nacht wünsch ich.«
»Ich schlafe nämlich«, sagte die Oberköchin zur Erklärung, »seit einigen Jahren
ungemein schlecht. Jetzt kann ich ja mit meiner Stellung zufrieden sein und brauche
eigentlich keine Sorgen zu haben. Aber es müssen die Folgen meiner früheren Sorgen sein,
die mir diese Schlaflosigkeit verursachen. Wenn ich um drei Uhr früh einschlafe, kann ich
froh sein. Da ich aber schon um fünf, spätestens um halb sechs wieder auf dem Platze
sein muss, muss ich mich wecken lassen, und zwar besonders vorsichtig, damit ich nicht
noch nervöser werde, als ich es schon bin. Und da weckt mich eben die Therese. Aber jetzt
wissen Sie wirklich schon alles, und ich komme gar nicht weg. Gute Nacht!« Und trotz
ihrer Schwere huschte sie fast aus dem Zimmer.
Karl freute sich auf den Schlaf, denn der Tag hatte ihn sehr hergenommen. Und
behaglichere Umgebung konnte er für einen langen, ungestörten Schlaf gar nicht
wünschen. Das Zimmer war zwar nicht zum Schlafzimmer bestimmt, es war eher ein
Wohnzimmer, oder, richtiger, ein Repräsentationszimmer der Oberköchin, und ein
Waschtisch war ihm zuliebe eigens für diesen Abend hergebracht worden, aber dennoch
fühlte sich Karl nicht als Eindringling, sondern nur desto besser versorgt. Sein Koffer
war richtig her gestellt und wohl schon lange nicht in größerer Sicherheit gewesen. Auf
einem niedrigen Schrank mit Schiebefächern, über den eine großmaschige wollene Decke
gezogen war, standen verschiedene Fotografien im Rahmen und unter Glas; bei der
Besichtigung des Zimmers blieb Karl da stehen und sah sie an. Es waren meist alte
Fotografien und stellten in der Mehrzahl Mädchen dar, die, in unmodernen, unbehaglichen
Kleidern, mit locker aufgesetzten, kleinen, aber hochgehenden Hüten, die rechte Hand auf
einen Schirm gestützt, dem Beschauer zugewendet waren und doch mit den Blicken auswichen.
Unter den Herrenbildnissen fiel Karl besonders das eines jungen Soldaten auf, der das
Käppi auf ein Tischchen gelegt hatte, stramm mit seinem wilden schwarzen Haar dastand und
voll von einem stolzen, aber unterdrückten Lachen war. Die Knöpfe seiner Uniform waren
auf der Fotografie nachträglich vergoldet worden. Alle diese Fotografien stammten wohl
noch aus Europa, man hätte dies auf der Rückseite wahrscheinlich auch genau ablesen
können, aber Karl wollte sie nicht in die Hand nehmen. So wie diese Fotografien hier
standen, so hätte er auch die Fotografie seiner Eltern in seinem künftigen Zimmer
aufstellen mögen.
Gerade streckte er sich nach einer gründlichen Waschung des ganzen Körpers, die er,
seiner Nachbarin wegen, möglichst leise durchzuführen sich bemüht hatte, im Vorgenuss
des Schlafes auf seinem Kanapee aus, da glaubte er ein schwaches Klopfen an einer Tür zu
hören. Man konnte nicht gleich feststellen, an welcher Tür es war, es konnte auch bloß
ein zufälliges Geräusch sein. Es wiederholte sich auch nicht gleich, und Karl schlief
schon fast, als es wieder erfolgte. Aber nun war kein Zweifel mehr, dass es ein Klopfen
war und von der Tür der Schreibmaschinistin herkam. Karl lief auf den Fußspitzen zur
Tür hin und fragte so leise, dass es, wenn man trotz allem nebenan doch schlief,
niemanden hätte wecken können: »Wünschen Sie etwas?«
Sofort und ebenso leise kam die Antwort: »Möchten Sie nicht die Tür öffnen? Der
Schlüssel steckt auf Ihrer Seite.«
»Bitte«, sagte Karl, »ich muss mich nur zuerst anziehen.«
Es gab eine kleine Pause, dann hieß es: »Das ist nicht nötig. Machen Sie auf und
legen Sie sich ins Bett, ich werde ein wenig warten.«
»Gut«, sagte Karl und führte es auch so aus, nur drehte er außerdem noch das
elektrische Licht an. »Ich liege schon«, sagte er dann etwas lauter. Da trat auch schon
aus ihrem dunklen Zimmer die kleine Schreibmaschinistin, genau so angezogen wie unten im
Büro, sie hatte wohl die ganze Zeit über nicht daran gedacht, schlafen zu gehen.
»Entschuldigen Sie vielmals«, sagte sie und stand ein wenig gebückt vor Karls Lager,
»und verraten Sie mich, bitte, nicht. Ich will Sie auch nicht lange stören, ich weiß,
dass Sie todmüde sind.«
»Es ist nicht so arg«, sagte Karl, »aber es wäre vielleicht doch besser gewesen,
ich hätte mich angezogen.« Er musste ausgestreckt daliegen, um bis an den Hals zugedeckt
sein zu können, denn er besaß kein Nachthemd.
»Ich bleibe ja nur einen Augenblick«, sagte sie und griff nach einem Sessel. »Kann
ich mich zum Kanapee setzen?«
Karl nickte. Da setzte sie sich so eng zum Kanapee, dass Karl an die Mauer rücken
musste, um zu ihr aufschauen zu können. Sie hatte ein rundes, gleichmäßiges Gesicht,
nur die Stirn war ungewöhnlich hoch, aber das konnte auch vielleicht nur an der Frisur
liegen, die ihr nicht recht passte. Ihr Anzug war sehr rein und sorgfältig. In der linken
Hand quetschte sie ein Taschentuch.
»Werden Sie lange hier bleiben?« fragte sie.
»Es ist noch nicht ganz bestimmt«, antwortete Karl, »aber ich denke, ich werde
bleiben.«
»Das wäre nämlich sehr gut«, sagte sie und fuhr mit dem Taschentuch über ihr
Gesicht, »ich bin hier nämlich so allein.«
»Das wundert mich«, sagte Karl. »Die Frau Oberköchin ist doch sehr freundlich zu
Ihnen. Sie behandelt Sie gar nicht wie eine Angestellte. Ich dachte schon, Sie wären
Verwandte.«
»O nein«, sagte sie, »ich heiße Therese Berchtold, ich bin aus Pommern.«
Auch Karl stellte sich vor. Daraufhin sah sie ihn zum ersten Mal voll an, als sei er
ihr durch die Namensnennung ein wenig fremder geworden. Sie schwiegen ein Weilchen. Dann
sagte sie: »Sie dürfen nicht glauben, dass ich undankbar bin. Ohne die Frau Oberköchin
stünde es ja mit mir viel schlechter. Ich war früher Küchenmädchen hier im Hotel und
schon in großer Gefahr, entlassen zu werden, denn ich konnte die schwere Arbeit nicht
leisten. Man stellt hier große Ansprüche. Vor einem Monat ist ein Küchenmädchen nur
vor Überanstrengung ohnmächtig geworden und vierzehn Tage im Krankenhaus gelegen. Und
ich bin nicht sehr stark, ich habe früher viel zu leiden gehabt und bin dadurch in der
Entwicklung ein wenig zurückgeblieben; Sie würden wohl gar nicht sagen, dass ich schon
achtzehn Jahre alt bin. Aber jetzt werde ich schon stärker.«
»Der Dienst hier muss wirklich sehr anstrengend sein«, sagte Karl. »Unten habe ich
jetzt einen Liftjungen stehend schlafen gesehen.«
»Dabei haben es die Liftjungen noch am besten«, sagte sie, »die verdienen ihr
schönes Geld an Trinkgeldern und müssen sich schließlich doch bei weitem nicht so
plagen wie die Leute in der Küche. Aber da habe ich wirklich einmal Glück gehabt, die
Frau Oberköchin hat einmal ein Mädchen gebraucht, um die Servietten für ein Bankett
herzurichten, hat zu uns Küchenmädchen heruntergeschickt, es gibt hier an fünfzig
solcher Mädchen, ich war gerade bei der Hand und habe sie sehr zufrieden gestellt, denn
im Aufbauen der Servietten habe ich mich immer ausgekannt. Und so hat sie mich von da an
in ihrer Nähe behalten und allmählich zu ihrer Sekretärin ausgebildet. Dabei habe ich
sehr viel gelernt.«
»Gibt es denn da so viel zu schreiben?« fragte Karl.
»Ach, sehr viel«, antwortete sie, »das können Sie sich wahrscheinlich gar nicht
vorstellen. Sie haben doch gesehen, dass ich heute bis halb zwölf gearbeitet habe, und
heute ist kein besonderer Tag. Allerdings schreibe ich nicht immerfort, sondern habe auch
viel Besorgungen in der Stadt zu machen.«
»Wie heißt denn die Stadt?« fragte Karl.
»Das wissen Sie nicht?« sagte sie, »Ramses.«
»Ist es eine große Stadt?« fragte Karl.
»Sehr groß«, antwortete sie, »ich gehe nicht gern hin. Aber wollen Sie nicht
wirklich schon schlafen?«
»Nein, nein«, sagte Karl, »ich weiß ja noch gar nicht, warum Sie hereingekommen
sind.«
»Weil ich mit niemandem reden kann. Ich bin nicht wehleidig, aber wenn wirklich
niemand für einen da ist, so ist man schon glücklich, schließlich von jemandem
angehört zu werden. Ich habe Sie schon unten im Saal gesehen, ich kam gerade, um die Frau
Oberköchin zu holen, als sie Sie in die Speisekammer wegführte.«
»Das ist ein schrecklicher Saal«, sagte Karl.
»Ich merke es schon gar nicht mehr«, antwortete sie. »Aber ich wollte nur sagen,
dass ja die Frau Oberköchin so freundlich zu mir ist, wie es nur meine Mutter war. Aber
es ist doch ein zu großer Unterschied in unserer Stellung, als dass ich frei mit ihr
reden könnte. Unter den Küchenmädchen habe ich früher gute Freundinnen gehabt, aber
die sind schon längst nicht mehr hier, und die neuen Mädchen kenne ich kaum.
Schließlich kommt es mir manchmal vor, dass mich meine jetzige Arbeit mehr anstrengt als
die frühere, dass ich sie aber nicht einmal so gut verrichte wie die, und dass mich die
Frau Oberköchin nur aus Mitleid in meiner Stellung hält. Schließlich muss man ja
wirklich eine bessere Schulbildung gehabt haben, um Sekretärin zu werden. Es ist eine
Sünde, das zu sagen, aber oft und oft fürchte ich, wahnsinnig zu werden. Um Gottes
willen«, sagte sie plötzlich viel schneller und griff flüchtig nach Karls Schulter, da
er die Hände unter der Decke hielt, »Sie dürfen aber der Frau Oberköchin kein Wort
davon sagen, sonst bin ich wirklich verloren. Wenn ich ihr außer den Umständen, die ich
ihr durch meine Arbeit mache, auch noch Leid bereiten sollte, das wäre wirklich das
Höchste.«
»Es ist selbstverständlich, dass ich ihr nichts sagen werde«, antwortete Karl.
»Dann ist es gut«, sagte sie, »und bleiben Sie hier. Ich wäre froh, wenn Sie hier
blieben, und wir könnten, wenn es Ihnen recht ist, zusammenhalten. Gleich, wie ich Sie
zum ersten Mal gesehen habe, habe ich Vertrauen zu Ihnen gehabt. Und trotzdem
denken Sie, so schlecht bin ich habe ich auch Angst gehabt, die Frau Oberköchin
könnte Sie an meiner Stelle zum Sekretär machen und mich entlassen. Erst wie ich da
lange allein gesessen bin, während Sie unten im Büro waren, habe ich mir die Sache so
zurechtgelegt, dass es sogar sehr gut wäre, wenn Sie meine Arbeiten übernähmen, denn
die würden Sie sicher besser verstehen. Wenn Sie die Besorgungen in der Stadt nicht
machen wollten, könnte ich ja diese Arbeit behalten. Sonst aber wäre ich in der Küche
gewiss viel nützlicher, besonders da ich auch schon etwas stärker geworden bin.«
»Die Sache ist schon geordnet«, sagte Karl, »ich werde Liftjunge und Sie bleiben
Sekretärin. Wenn Sie aber der Frau Oberköchin nur die geringste Andeutung von Ihren
Plänen machen, verrate ich auch das übrige, was Sie mir heute gesagt haben, so Leid es
mir tun würde.«
Diese Tonart erregte Therese so sehr, dass sie sich beim Bett niederwarf und wimmernd
das Gesicht ins Bettzeug drückte.
»Ich verrate ja nichts«, sagte Karl, »aber Sie dürfen auch nichts sagen.«
Nun konnte er nicht mehr ganz unter seiner Decke versteckt bleiben, streichelte ein
wenig ihren Arm, fand nichts Rechtes, was er ihr sagen könne, und dachte nur, dass hier
ein bitteres Leben sei. Endlich beruhigte sie sich wenigstens so weit, dass sie sich ihres
Weinens schämte, sah Karl dankbar an, redete ihm zu, morgen lange zu schlafen, und
versprach, wenn sie Zeit fände, gegen acht Uhr heraufzukommen und ihn zu wecken.
»Sie wecken ja so geschickt«, sagte Karl.
»Ja, einiges kann ich«, sagte sie, fuhr mit der Hand zum Abschied sanft über seine
Decke hin und lief in ihr Zimmer.
Am nächsten Tag bestand Karl darauf, gleich seinen Dienst anzutreten, obwohl ihm die
Oberköchin diesen Tag für die Besichtigung von Ramses freigeben wollte. Aber Karl
erklärte offen, dafür werde sich noch Gelegenheit finden, jetzt sei es für ihn das
Wichtigste, mit der Arbeit anzufangen, denn eine auf ein anderes Ziel gerichtete Arbeit
habe er schon in Europa nutzlos abgebrochen und fange als Liftjunge in einem Alter an, in
dem wenigstens die tüchtigeren Jungen nahe daran seien, in natürlicher Folge eine
höhere Arbeit zu übernehmen. Es sei ganz richtig, dass er als Liftjunge anfange, aber
ebenso richtig sei, dass er sich besonders beeilen müsse. Bei diesen Umständen würde
ihm die Besichtigung der Stadt gar kein Vergnügen machen. Nicht einmal zu einem kurzen
Weg, zu dem ihn Therese aufforderte, konnte er sich entschließen. Immer schwebte ihm der
Gedanke vor Augen, es könne schließlich mit ihm, wenn er nicht fleißig sei, so weit
kommen wie mit Delamarche und Robinson.
Beim Hotelschneider wurde ihm die Liftjungenuniform anprobiert, die äußerlich sehr
prächtig mit Goldknöpfen und Goldschnüren ausgestattet war, bei deren Anziehen es Karl
aber doch ein wenig schauderte, denn besonders unter den Achseln war das Röckchen kalt,
hart und dabei unaustrockbar nass von dem Schweiß der Liftjungen, die es vor ihm getragen
hatten. Die Uniform musste auch vor allem über der Brust eigens für Karl erweitert
werden, denn keine der zehn vorliegenden wollte auch nur beiläufig passen. Trotz dieser
Näharbeit, die hier notwendig war, und obwohl der Meister sehr peinlich schien
zweimal flog die bereits abgelieferte Uniform aus seiner Hand in die Werkstatt zurück
, war alles in kaum fünf Minuten erledigt, und Karl verließ das Atelier schon als
Liftjunge mit anliegenden Hosen und einem, trotz der bestimmten gegenteiligen Zusicherung
des Meisters, sehr beengenden Jäckchen, das immer wieder zu Atemübungen verlockte, da
man sehen wollte, ob das Atmen noch immer möglich war.
Dann meldete er sich bei jenem Oberkellner, unter dessen Befehl er stehen sollte, einem
schlanken, schönen Mann mit großer Nase, der wohl schon in den Vierzigern stehen konnte.
Er hatte keine Zeit, sich auch nur auf das geringste Gespräch einzulassen, und läutete
bloß einen Liftjungen herbei, zufällig gerade jenen, den Karl gestern gesehen hatte. Der
Oberkellner nannte ihn nur bei seinem Taufnamen Giacomo, was Karl erst später erfuhr,
denn in der englischen Aussprache war der Name nicht zu erkennen. Dieser Junge bekam nun
den Auftrag, Karl das für den Liftdienst Notwendige zu zeigen, aber er war so scheu und
eilig, dass Karl von ihm, so wenig auch im Grunde zu zeigen war, kaum dieses Wenige
erfahren konnte. Sicher war Giacomo auch deshalb verärgert, weil er den Liftdienst
offenbar Karls halber verlassen musste und den Zimmermädchen zur Hilfeleistung zugeteilt
war, was ihm nach bestimmten Erfahrungen, die er aber verschwieg, entehrend vorkam.
Enttäuscht war Karl vor allem dadurch, dass ein Liftjunge mit der Maschinerie des
Aufzuges nur insoferne etwas zu tun hatte, als er ihn durch einen einfachen Druck auf den
Knopf in Bewegung setzte, während für Reparaturen am Triebwerk derartig ausschließlich
die Maschinisten des Hotels verwendet wurden, dass zum Beispiel Giacomo trotz
halbjährigem Dienst beim Lift weder das Triebwerk im Keller noch die Maschinerie im
Innern des Aufzuges mit eigenen Augen gesehen hatte, obwohl ihn dies, wie er ausdrücklich
sagte, sehr gefreut hätte. Überhaupt war es ein einförmiger Dienst und wegen der
zwölfstündigen Arbeitszeit, abwechselnd bei Tag und Nacht, so anstrengend, dass er nach
Giacomos Angaben überhaupt nicht auszuhalten war, wenn man nicht minutenweise im Stehen
schlafen konnte. Karl sagte hierzu nichts, aber er begriff wohl, dass gerade diese Kunst
Giacomo die Stelle gekostet hatte.
Sehr willkommen war es Karl, dass der Aufzug, den er zu besorgen hatte, nur für die
obersten Stockwerke bestimmt war, weshalb er es nicht mit den anspruchsvollsten reichen
Leuten zu tun haben würde. Allerdings konnte man hier auch nicht so viel lernen wie
anderswo und es war nur für den Anfang gut.
Schon nach der ersten Woche sah Karl ein, dass er dem Dienst vollständig gewachsen
war. Das Messing seines Aufzuges war am besten geputzt, keiner der dreißig anderen
Aufzüge konnte sich damit vergleichen, und es wäre vielleicht noch leuchtender gewesen,
wenn der Junge, der bei dem gleichen Aufzug diente, auch nur annähernd so fleißig
gewesen wäre und sich nicht in seiner Lässigkeit durch Karls Fleiß unterstützt
gefühlt hätte. Es war ein geborener Amerikaner, namens Renell, ein eitler Junge mit
dunklen Augen und glatten, etwas gehöhlten Wangen. Er hatte einen eleganten Privatanzug,
in dem er an dienstfreien Abenden leicht parfümiert in die Stadt eilte; hie und da bat er
auch Karl, ihn abends zu vertreten, da er in Familienangelegenheiten weggehen müsse, und
es kümmerte ihn wenig, dass sein Aussehen allen solchen Ausreden widersprach. Trotzdem
konnte ihn Karl gut leiden und hatte es gern, wenn Renell an solchen Abenden vor dem
Ausgehen in seinem Privatanzug unten beim Lift vor ihm stehen blieb, sich noch ein wenig
entschuldigte, während er die Handschuhe über die Finger zog, und dann durch den
Korridor abging. Im Übrigen wollte ihm Karl mit diesen Vertretungen nur eine
Gefälligkeit machen, wie sie ihm gegenüber einem älteren Kollegen am Anfang
selbstverständlich schien, eine dauernde Einrichtung sollte es nicht werden. Denn
ermüdend genug war dieses ewige Fahren im Lift allerdings und gar in den Abendstunden
hatte es fast keine Unterbrechung.
Bald lernte Karl auch die kurzen, tiefen Verbeugungen machen, die man von den
Liftjungen verlangt, und das Trinkgeld fing er im Fluge ab. Es verschwand in seiner
Westentasche, und niemand hätte nach seinen Mienen sagen können, ob es groß oder klein
war. Vor Damen öffnete er die Tür mit einer kleinen Beigabe von Galanterie und schwang
sich in den Aufzug langsam hinter ihnen, die in Sorge um ihre Röcke, Hüte und Behänge
zögernder als Männer einzutreten pflegten. Während der Fahrt stand er, weil dies das
unauffälligste war, knapp bei der Tür, mit dem Rücken zu seinen Fahrgästen, und hielt
den Griff der Aufzugstür, um sie im Augenblick der Ankunft plötzlich und doch nicht etwa
erschreckend seitwärts wegzustoßen. Selten nur klopfte ihm einer während der Fahrt auf
die Schulter, um irgendeine kleine Auskunft zu bekommen, dann drehte er sich eilig um, als
habe er es erwartet, und gab mit lauter Stimme Antwort. Oft gab es trotz den vielen
Aufzügen, besonders nach Schluss der Theater oder nach Ankunft bestimmter Expresszüge,
ein solches Gedränge, dass er, kaum dass die Gäste oben entlassen waren, wieder
hinunterrasen musste, um die dort Wartenden aufzunehmen. Er hatte auch die Möglichkeit,
durch Ziehen an einem durch den Aufzugskasten hindurchgehenden Drahtseil, die gewöhnliche
Schnelligkeit zu steigern, allerdings war dies durch die Aufzugsordnung verboten und
sollte auch gefährlich sein. Karl tat es auch niemals, wenn er mit Passagieren fuhr, aber
wenn er sie oben abgesetzt hatte und unten andere warteten, dann kannte er keine
Rücksicht und arbeitete an dem Seil mit starken, taktmäßigen Griffen wie ein Matrose.
Er wusste übrigens, dass dies die anderen Liftjungen auch taten, und er wollte seine
Passagiere nicht an andere Jungen verlieren. Einzelne Gäste, die längere Zeit im Hotel
wohnten, was hier übrigens ziemlich gebräuchlich war, zeigten hie und da durch ein
Lächeln, dass sie Karl als ihren Liftjungen erkannten, Karl nahm diese Freundlichkeit mit
ernstem Gesicht, aber gerne an. Manchmal, wenn der Verkehr etwas schwächer war, konnte er
auch besondere kleine Aufträge annehmen, zum Beispiel, einem Hotelgast, der sich nicht
erst in sein Zimmer bemühen wollte, eine im Zimmer vergessene Kleinigkeit zu holen, dann
flog er in seinem in solchen Augenblicken ihm besonders vertrauten Aufzug allein hinauf,
trat in das fremde Zimmer, wo meistens sonderbare Dinge, die er nie gesehen hatte,
herumlagen oder an den Kleiderrechen hingen, fühlte den charakteristischen Geruch einer
fremden Seife, eines Parfüms, eines Mundwassers und eilte, ohne sich im geringsten
aufzuhalten, mit dem meist trotz undeutlichen Angaben gefundenen Gegenstand wieder
zurück. Oft bedauerte er, größere Aufträge nicht übernehmen zu können, da hierfür
eigene Diener und Botenjungen bestimmt waren, die ihre Wege auf Fahrrädern, ja sogar
Motorrädern besorgten. Nur zu Botengängen aus den Zimmern in die Speise- oder Spielsäle
konnte sich Karl bei günstiger Gelegenheit verwenden lassen.
Wenn er nach der zwölfstündigen Arbeitszeit drei Tage lang um sechs Uhr abends, die
nächsten drei Tage um sechs Uhr früh aus der Arbeit kam, war er so müde, dass er
geradewegs, ohne sich um jemanden zu kümmern, in sein Bett ging. Es lag im gemeinsamen
Schlafsaal der Liftjungen, die Frau Oberköchin, deren Einfluss vielleicht doch nicht so
groß war, wie er am ersten Abend geglaubt hatte, hatte sich zwar bemüht, ihm ein eigenes
Zimmerchen zu verschaffen, und es wäre ihr wohl auch gelungen, aber da Karl sah, welche
Schwierigkeiten es machte und wie die Oberköchin öfters mit seinem Vorgesetzten, jenem
so beschäftigten Oberkellner, wegen dieser Sache telefonierte, verzichtete er darauf und
überzeugte die Oberköchin von dem Ernst seines Verzichtes mit dem Hinweis darauf, dass
er von den anderen Jungen wegen eines nicht eigentlich selbsterarbeiteten Vorzuges nicht
beneidet werden wolle.
Ein ruhiges Schlafzimmer war dieser Schlafsaal allerdings nicht. Denn da jeder Einzelne
die freie Zeit von zwölf Stunden verschiedenartig auf Essen, Schlaf, Vergnügen und
Nebenverdienst verteilte, war im Schlafsaal immerfort die größte Bewegung. Da schliefen
einige und zogen die Decke über die Ohren, um nichts zu hören; wurde doch einer geweckt,
dann schrie er so wütend über das Geschrei der anderen, dass auch die Übrigen noch so
guten Schläfer nicht standhalten konnten. Fast jeder Junge hatte seine Pfeife, so wurde
damit eine Art Luxus getrieben, auch Karl hatte sich eine angeschafft und fand bald
Geschmack an ihr. Nun durfte aber im Dienst nicht geraucht werden, die Folge dessen war,
dass im Schlafsaal jeder, solange er nicht unbedingt schlief, auch rauchte. Infolgedessen
stand jedes Bett in einer eigenen Rauchwolke und alles in einem allgemeinen Dunst. Es war
unmöglich durchzusetzen, obwohl eigentlich die Mehrzahl grundsätzlich zustimmte, dass in
der Nacht nur an einem Ende des Saales das Licht brennen sollte. Wäre dieser Vorschlag
durchgedrungen, dann hätten diejenigen, welche schlafen wollten, dies im Dunkel der einen
Saalhälfte es war ein großer Saal mit vierzig Betten ruhig tun können,
während die anderen im beleuchteten Teil Würfel oder Karten hätten spielen und alles
Übrige besorgen können, wozu Licht nötig war. Hätte einer, dessen Bett in der
beleuchteten Saalhälfte stand, schlafen gehen wollen, so hätte er sich in eines der
freien Betten im Dunkel legen können, denn es standen immer Betten genug frei, und
niemand wendete gegen eine derartige vorübergehende Benützung seines Bettes durch einen
anderen etwas ein. Aber es gab keine Nacht, in der diese Einteilung befolgt worden wäre.
Immer wieder fanden sich zum Beispiel zwei, welche, nachdem sie das Dunkel zu etwas Schlaf
ausgenützt hatten, Lust bekamen, in ihren Betten auf einem zwischen sie gelegten Brett
Karten zu spielen, und natürlich drehten sie eine passende elektrische Lampe auf, deren
stechendes Licht die Schlafenden, wenn sie ihm zugewendet waren, auffahren ließ. Man
wälzte sich zwar noch ein wenig herum, fand aber schließlich auch nichts Besseres zu
tun, als mit dem gleichfalls geweckten Nachbarn auch ein Spiel bei neuer Beleuchtung
vorzunehmen. Und wieder dampften natürlich auch alle Pfeifen. Es gab allerdings auch
einige, die um jeden Preis schlafen wollten Karl gehörte meist zu ihnen und
die, statt den Kopf aufs Kissen zu legen, ihn mit dem Kissen bedeckten oder
hineinwickelten; aber wie wollte man im Schlaf bleiben, wenn der nächste Nachbar in
tiefer Nacht aufstand, um vor dem Dienst noch ein wenig in der Stadt dem Vergnügen
nachzugehen, wenn er in dem am Kopfende des eigenen Bettes angebrachten Waschbecken laut
und wassersprühend sich wusch, wenn er die Stiefel nicht nur polternd anzog, sondern
stampfend sich besser in sie hineintreten wollte fast alle hatten trotz
amerikanischer Stiefelform zu enge Stiefel , um dann schließlich, da ihm eine
Kleinigkeit in seiner Ausstattung fehlte, das Kissen des Schlafenden zu heben, unter dem
man, allerdings schon längst geweckt, nur darauf wartete, auf ihn loszufahren? Nun waren
sie aber auch alle Sportsleute und junge, meist kräftige Burschen, die keine Gelegenheit
zu sportlichen Übungen versäumen wollten. Und man konnte sicher sein, wenn man in der
Nacht, mitten aus dem Schlaf durch großen Lärm geweckt, aufsprang, auf dem Boden neben
seinem Bett zwei Ringkämpfer zu finden und bei greller Beleuchtung auf allen Betten in
der Runde aufrecht stehende Sachverständige in Hemd und Unterhosen. Einmal fiel
anlässlich eines solchen nächtlichen Boxkampfes einer der Kämpfer über den schlafenden
Karl, und das erste, was Karl beim Öffnen der Augen erblickte, war das Blut, das dem
Jungen aus der Nase rann und, ehe man noch etwas dagegen unternehmen konnte, das ganze
Bettzeug überfloss. Oft verbrachte Karl fast die ganzen zwölf Stunden mit Versuchen,
einige Stunden Schlaf zu gewinnen, obwohl es ihn auch sehr lockte, an den Unterhaltungen
der anderen teilzunehmen; aber immer wieder schien es ihm, dass alle anderen in ihrem
Leben einen Vorsprung vor ihm hatten, den er durch fleißigere Arbeit und ein wenig
Verzichtleistung ausgleichen müsse. Obwohl ihm also hauptsächlich seiner Arbeit wegen am
Schlaf sehr gelegen war, beklagte er sich doch weder gegenüber der Oberköchin, noch
gegenüber Therese über die Verhältnisse im Schlafsaal, denn erstens trugen im Ganzen
und großen alle Jungen schwer daran, ohne sich ernstlich zu beklagen, und zweitens war
die Plage im Schlafsaal ein notwendiger Teil seiner Aufgabe als Liftjunge, die er ja aus
den Händen der Oberköchin dankbar übernommen hatte.
Einmal in der Woche hatte er beim Schichtwechsel vierundzwanzig Stunden frei, die er
zum Teil dazu verwendete, bei der Oberköchin ein, zwei Besuche zu machen und mit Therese,
deren kärgliche freie Zeit er abpasste, irgendwo, in einem Winkel, auf einem Korridor und
selten nur in ihrem Zimmer, einige flüchtige Reden auszutauschen. Manchmal begleitete er
sie auch auf ihren Besorgungen in der Stadt, die alle höchst eilig ausgeführt werden
mussten. Dann liefen sie fast, Karl mit ihrer Tasche in der Hand, zur nächsten Station
der Untergrundbahn, die Fahrt verging im Nu, als werde der Zug ohne jeden Widerstand nur
hingerissen, schon waren sie ihm entstiegen, klapperten, statt auf den Aufzug zu warten,
der ihnen zu langsam war, die Stufen hinauf, die großen Plätze, von denen sternförmig
die Straßen auseinanderflogen, erschienen und brachten ein Getümmel in den von allen
Seiten geradlinig strömenden Verkehr, aber Karl und Therese eilten eng beisammen in die
verschiedenen Büros, Waschanstalten, Lagerhäuser und Geschäfte, in denen telefonisch
nicht leicht zu besorgende, im Übrigen nicht besonders verantwortliche Bestellungen oder
Beschwerden auszurichten waren. Therese merkte bald, dass Karls Hilfe hierbei nicht zu
verachten war, dass sie vielmehr in vieles eine große Beschleunigung brachte. Niemals
musste sie in seiner Begleitung wie sonst oft darauf warten, dass die überbeschäftigten
Geschäftsleute sie anhörten. Er trat an das Pult und klopfte so lange mit den Knöcheln
darauf, bis es half, er rief über Menschenmauern sein noch immer etwas überspitztes, aus
hundert Stimmen leicht herauszuhörendes Englisch hin, er ging auf die Leute ohne Zögern
zu, und mochten sie sich hochmütig in die Tiefe der längsten Geschäftssäle
zurückgezogen haben. Er tat es nicht aus Übermut und würdigte jeden Widerstand, aber er
fühlte sich in einer sicheren Stellung, die ihm Rechte gab, das Hotel Occidental war eine
Kundschaft, deren man nicht spotten durfte, und schließlich war Therese trotz ihrer
geschäftlichen Erfahrung hilfsbedürftig.
»Sie sollten immer mitkommen«, sagte sie manchmal, glücklich lachend, wenn sie von
einer besonders gut ausgeführten Unternehmung kamen.
Nur dreimal während der eineinhalb Monate, die Karl in Ramses blieb, war er längere
Zeit, über ein paar Stunden, in Thereses Zimmerchen. Es war natürlich kleiner als
irgendein Zimmer der Oberköchin, die wenigen Dinge, welche darin standen, waren
gewissermaßen nur um das Fenster gelagert, aber Karl verstand schon nach seinen
Erfahrungen aus dem Schlafsaal den Wert eines eigenen, verhältnismäßig ruhigen Zimmers,
und wenn er es auch nicht ausdrücklich sagte, so merkte Therese doch, wie ihm ihr Zimmer
gefiel. Sie hatte keine Geheimnisse vor ihm, und es wäre auch nicht gut möglich gewesen,
nach ihrem Besuch damals, am ersten Abend, noch Geheimnisse vor ihm zu haben. Sie war ein
uneheliches Kind, ihr Vater war Baupolier und hatte die Mutter und das Kind aus Pommern
sich nachkommen lassen; aber als hätte er damit seine Pflicht erfüllt oder als hätte er
andere Menschen erwartet als die abgearbeitete Frau und das schwache Kind, die er an der
Landungsstelle in Empfang nahm, war er bald nach ihrer Ankunft ohne viel Erklärungen nach
Kanada ausgewandert, und die Zurückgebliebenen hatten weder einen Brief noch eine
sonstige Nachricht von ihm erhalten, was zum Teil auch nicht zu verwundern war, denn sie
waren in den Massenquartieren des New Yorker Ostens unauffindbar verloren.
Einmal erzählte Therese Karl stand neben ihr beim Fenster und sah auf die
Straße vom Tode ihrer Mutter. Wie die Mutter und sie an einem Winterabend
sie konnte damals etwa fünf Jahre alt gewesen sein jede mit ihrem Bündel durch
die Straßen eilten, um Schlafstellen zu suchen. Wie die Mutter sie zuerst bei der Hand
führte es war ein Schneesturm und nicht leicht vorwärts zu kommen , bis die
Hand erlahmte und sie Therese, ohne sich nach ihr umzusehen, losließ, die sich nun Mühe
geben musste, sich selbst an den Röcken der Mutter fest zu halten. Oft stolperte Therese
und fiel sogar, aber die Mutter war wie in einem Wahn und hielt nicht an. Und diese
Schneestürme in den langen, geraden New Yorker Straßen! Karl hatte noch keinen Winter in
New York mitgemacht. Geht man gegen den Wind, und der dreht sich im Kreise, kann man
keinen Augenblick die Augen öffnen, immerfort zerreibt einem der Wind den Schnee auf dem
Gesicht, man läuft, aber kommt nicht weiter, es ist etwas Verzweifeltes. Ein Kind ist
dabei natürlich gegen die Erwachsenen im Vorteil, es läuft unter dem Wind durch und hat
noch ein wenig Freude an allem. So hatte auch damals Therese ihre Mutter nicht ganz
begreifen können, und sie war fest davon überzeugt, dass, wenn sie sich an jenem Abend
klüger sie war eben noch ein so kleines Kind zu ihrer Mutter verhalten
hätte, diese nicht einen so jammervollen Tod hätte erleiden müssen. Die Mutter war
damals schon zwei Tage ohne Arbeit gewesen, nicht das kleinste Geldstück war mehr
vorhanden, der Tag war ohne einen Bissen im Freien verbracht worden, und in ihren Bündeln
schleppten sie nur unbrauchbare Fetzen mit sich herum, die sie, vielleicht aus
Aberglauben, nicht wegzuwerfen wagten. Nun war der Mutter für den nächsten Morgen Arbeit
bei einem Bau in Aussicht gestellt worden, aber sie fürchtete, wie sie Therese den ganzen
Tag über zu erklären suchte, die günstige Gelegenheit nicht ausnützen zu können, denn
sie fühlte sich todmüde, hatte schon am Morgen zum Schrecken der Passanten auf der Gasse
viel Blut gehustet, und ihre einzige Sehnsucht war, irgendwo in die Wärme zu kommen und
sich auszuruhen. Und gerade an diesem Abend war es unmöglich, ein Plätzchen zu bekommen.
Dort, wo sie nicht schon vom Hausbesorger aus dem Torgang gewiesen wurden, in dem man sich
immerhin vom Wetter ein wenig hätte erholen können, durcheilten sie die engen, eisigen
Korridore, durchstiegen die hohen Stockwerke, umkreisten die schmalen Terrassen der Höfe,
klopften wahllos an Türen, wagten einmal niemanden anzusprechen, baten dann jeden, der
ihnen entgegenkam, und einmal oder zweimal hockte die Mutter atemlos auf der Stufe einer
stillen Treppe nieder, riss Therese, die sich fast wehrte, an sich und küsste sie mit
schmerzhaftem Anpressen der Lippen. Wenn man nachher weiß, dass das die letzten Küsse
waren, begreift man nicht, dass man, und mag man ein kleiner Wurm gewesen sein, so blind
sein konnte, das nicht einzusehen. In manchen Zimmern, an denen sie vorüberkamen, waren
die Türen geöffnet, um eine erstickende Luft herauszulassen, und aus dem rauchigen
Dunst, der, wie durch einen Brand verursacht, die Zimmer erfüllte, trat nur die Gestalt
irgendjemandes hervor, der im Türrahmen stand und entweder durch seine stumme Gegenwart
oder durch ein kurzes Wort die Unmöglichkeit eines Unterkommens in dem betreffenden
Zimmer bewies. Therese schien es jetzt im Rückblick, dass die Mutter nur in den ersten
Stunden ernstlich einen Platz suchte, denn nachdem etwa Mitternacht vorüber war, hat sie
wohl niemanden mehr angesprochen, obwohl sie mit kleinen Pausen bis zur Morgendämmerung
nicht aufhörte weiterzueilen und obwohl in diesen Häusern, in denen weder Haustore noch
Wohnungstüren je verschlossen werden, immerfort Leben ist und einem auf Schritt und Tritt
Menschen begegnen. Natürlich war es kein Laufen, das sie rasch weiterbrachte, sondern es
war nur die äußerste Anstrengung, deren sie fähig waren, und es konnte in Wirklichkeit
ganz gut auch bloß ein Schleichen sein. Therese wusste auch nicht, ob sie von Mitternacht
bis fünf Uhr früh in zwanzig Häusern oder in zwei oder gar nur in einem Haus gewesen
waren. Die Korridore dieser Häuser sind nach schlauen Plänen der besten Raumausnützung,
aber ohne Rücksicht auf leichte Orientierung angelegt; wie oft waren sie wohl durch die
gleichen Korridore gekommen! Therese hatte wohl in dunkler Erinnerung, dass sie das Tor
eines Hauses, das sie ewig durchsucht hatten, wieder verließen, aber ebenso schien es
ihr, dass sie sich auf der Gasse gleich umgewandt und wieder in dieses Haus gestürzt
hätten. Für das Kind war es natürlich ein unbegreifliches Leid, einmal von der Mutter
gehalten, einmal sich an ihr fest haltend, ohne ein kleines Wort des Trostes mitgeschleift
zu werden, und das Ganze schien damals für seinen Unverstand nur die Erklärung zu haben,
dass die Mutter von ihm weglaufen wolle. Darum hielt sich Therese desto fester, selbst
wenn die Mutter sie an einer Hand hielt, der Sicherheit halber auch noch mit der anderen
Hand an den Röcken der Mutter, und heulte in Abständen. Sie wollte nicht hier
zurückgelassen werden, zwischen den Leuten, die vor ihnen die Treppe stampfend
emporstiegen, die hinter ihnen, noch nicht zu sehen, hinter einer Wendung der Treppe
herankamen, die in den Gängen vor einer Tür Streit miteinander hatten und einander
gegenseitig in das Zimmer hineinstießen. Betrunkene wanderten mit dumpfem Gesang im Haus
umher, und glücklich schlüpfte noch die Mutter mit Therese durch solche sich gerade
schließende Gruppen. Gewiss hätten sie spät in der Nacht, wo man nicht mehr so Acht gab
und niemand mehr unbedingt auf seinem Recht bestand, wenigstens in einen der allgemeinen,
von Unternehmern vermieteten Schlafsäle sich drängen können, an deren einigen sie
vorüberkamen, aber Therese verstand es nicht, und die Mutter wollte keine Ruhe mehr. Am
Morgen, dem Beginn eines schönen Wintertages, lehnten sie beide an einer Hausmauer und
hatten dort vielleicht ein wenig geschlafen, vielleicht nur mit offenen Augen
herumgestarrt. Es zeigte sich, dass Therese ihr Bündel verloren hatte, und die Mutter
machte sich daran, Therese zur Strafe für die Unachtsamkeit zu schlagen, aber Therese
hörte keinen Schlag und spürte keinen. Sie gingen dann weiter durch die sich belebenden
Gassen, die Mutter an der Mauer, kamen über eine Brücke, wo die Mutter mit der Hand den
Reif vom Geländer streifte, und gelangten schließlich, damals hatte Therese es
hingenommen, heute verstand sie es nicht, gerade zu jenem Bau, zu dem die Mutter für
jenen Morgen bestellt war. Sie sagte Therese nicht, ob sie warten oder weggehen solle, und
Therese nahm dies als Befehl zum Warten, da dies ihren Wünschen am besten entsprach. Sie
setzte sich also auf einen Ziegelhaufen und sah zu, wie die Mutter ihr Bündel
aufschnürte, einen bunten Fetzen herausnahm und damit ihr Kopftuch umband, das sie
während der ganzen Nacht getragen hatte. Therese war zu müde, als dass ihr auch nur der
Gedanke gekommen wäre, der Mutter zu helfen. Ohne sich in der Bauhütte zu melden, wie
dies üblich war, und ohne jemanden zu fragen, stieg die Mutter eine Leiter hinauf, als
wisse sie schon selbst, welche Arbeit ihr zugeteilt war. Therese wunderte sich darüber,
da die Handlangerinnen gewöhnlich nur unten mit Kalklöschen, mit dem Hinreichen der
Ziegel und mit sonstigen einfachen Arbeiten beschäftigt werden. Sie dachte daher, die
Mutter wolle heute eine besser bezahlte Arbeit ausführen, und lächelte verschlafen zu
ihr hinauf. Der Bau war noch nicht hoch, kaum bis zum Erdgeschoss, gediehen, wenn auch
schon die hohen Gerüststangen für den weiteren Bau, allerdings noch ohne
Verbindungshölzer, zum blauen Himmel ragten. Oben umging die Mutter geschickt die Maurer,
die Ziegel auf Ziegel legten und sie unbegreiflicherweise nicht zur Rede stellten, sie
hielt sich vorsichtig mit zarter Hand an einem Holzverschlag, der als Geländer diente,
und Therese staunte unten in ihrem Dusel diese Geschicklichkeit an und glaubte noch einen
freundlichen Blick der Mutter erhalten zu haben. Nun kam aber die Mutter auf ihrem Gang zu
einem kleinen Ziegelhaufen, vor dem das Geländer und wahrscheinlich auch der Weg
aufhörte, aber sie hielt sich nicht daran, ging auf den Ziegelhaufen los, ihre
Geschicklichkeit schien sie verlassen zu haben, sie stieß den Ziegelhaufen um und fiel
über ihn hinweg in die Tiefe. Viele Ziegel rollten ihr nach und schließlich, eine ganze
Weile später, löste sich irgendwo ein schweres Brett los und krachte auf sie nieder. Die
letzte Erinnerung Thereses an ihre Mutter war, wie sie mit auseinandergestreckten Beinen
dalag in dem karierten Rock, der noch aus Pommern stammte, wie jenes auf ihr liegende rohe
Brett sie fast bedeckte, wie nun die Leute von allen Seiten zusammenliefen und wie oben
vom Bau irgendein Mann zornig etwas hinunterrief.
Es war spät geworden, als Therese ihre Erzählung beendet hatte. Sie hatte
ausführlich erzählt, wie es sonst nicht ihre Gewohnheit war, und gerade bei
gleichgültigen Stellen, wie bei der Beschreibung der Gerüststangen, die jede für sich
allein in den Himmel ragten, hatte sie mit Tränen in den Augen innehalten müssen. Sie
wusste jede Kleinigkeit, die damals vorgefallen war, jetzt, nach zehn Jahren, ganz genau,
und weil der Anblick ihrer Mutter oben im halb fertigen Erdgeschoss das letzte Andenken an
das Leben der Mutter war und sie es ihrem Freunde gar nicht deutlich genug überantworten
konnte, wollte sie nach dem Schlusse ihrer Erzählung noch einmal darauf zurückkommen,
stockte aber, legte das Gesicht in die Hände und sagte kein Wort mehr.
Es gab aber auch lustigere Zeiten in Theresens Zimmer. Gleich bei seinem ersten Besuch
hatte Karl dort ein Lehrbuch der kaufmännischen Korrespondenz liegen gesehen und auf
seine Bitten geborgt erhalten. Es wurde gleichzeitig besprochen, dass Karl die im Buch
enthaltenen Aufgaben machen und Therese, die das Buch, soweit es für ihre kleinen
Arbeiten nötig war, schon durchstudiert hatte, zur Durchsicht vorlegen solle. Nun lag
Karl ganze Nächte lang, Watte in den Ohren, unten auf seinem Bett im Schlafsaal, der
Abwechslung halber in allen möglichen Lagen, las im Buch und kritzelte die Aufgaben in
ein Heftchen, mit einer Füllfeder, die ihm die Oberköchin zur Belohnung dafür geschenkt
hatte, dass er für sie ein großes Inventarverzeichnis sehr praktisch angelegt und rein
ausgeführt hatte. Es gelang ihm, die meisten Störungen der anderen Jungen dadurch zum
Guten zu wenden, dass er sich von ihnen immer kleine Ratschläge in der englischen Sprache
geben ließ, bis sie dessen müde wurden und ihn in Ruhe ließen. Oft staunte er, wie die
anderen mit ihrer gegenwärtigen Lage ganz ausgesöhnt waren, ihren provisorischen
Charakter ältere als zwanzigjährige Liftjungen wurden nicht geduldet gar
nicht fühlten, die Notwendigkeit einer Entscheidung über ihren künftigen Beruf nicht
einsahen und trotz Karls Beispiel nichts anderes lasen als höchstens Detektivgeschichten,
die in schmutzigen Fetzen von Bett zu Bett gereicht wurden. Bei den Zusammenkünften
korrigierte nun Therese mit übergroßer Umständlichkeit; es ergaben sich strittige
Ansichten, Karl führte als Zeugen seinen großen New Yorker Professor an, aber der galt
bei Therese ebenso wenig wie die grammatikalischen Meinungen der Liftjungen. Sie nahm ihm
die Füllfeder aus der Hand und strich die Stelle, von deren Fehlerhaftigkeit sie
überzeugt war, durch, Karl aber strich in solchen Zweifelsfällen, obwohl im Allgemeinen
keine höhere Autorität als Therese die Sache zu Gesicht bekommen sollte, aus Genauigkeit
die Striche Theresens wieder durch. Manchmal allerdings kam die Oberköchin und entschied
dann immer zu Theresens Gunsten, was noch nicht beweisend war, denn Therese war ihre
Sekretärin. Gleichzeitig aber brachte sie die allgemeine Versöhnung, denn es wurde Tee
gekocht, Gebäck geholt, und Karl musste von Europa erzählen, allerdings mit vielen
Unterbrechungen von Seiten der Oberköchin, die immer wieder fragte und staunte, wodurch
sie Karl zu Bewusstsein brachte, wie vieles sich dort in verhältnismäßig kurzer Zeit
von Grund aus geändert hatte und wie vieles wohl auch schon seit seiner Abwesenheit
anders geworden war und immerfort anders wurde.
Karl mochte etwa einen Monat in Ramses gewesen sein, als ihm eines Abends Renell im
Vorübergehen sagte, er sei vor dem Hotel von einem Mann mit Namen Delamarche angesprochen
und nach Karl ausgefragt worden. Renell habe nun keinen Grund gehabt, etwas zu
verschweigen, und habe der Wahrheit gemäß erzählt, dass Karl Liftjunge sei, jedoch
Aussicht habe, infolge der Protektion der Oberköchin noch ganz andere Stellen zu
bekommen. Karl merkte, wie vorsichtig Renell von Delamarche behandelt worden war, der ihn
sogar für diesen Abend zu einem gemeinsamen Nachtmahl eingeladen hatte.
»Ich habe nichts mehr mit Delamarche zu tun«, sagte Karl, »nimm du dich nur auch vor
ihm in acht!«
»Ich?« sagte Renell, streckte sich und eilte weg. Er war der zierlichste Junge im
Hotel, und es ging unter den anderen Jungen, ohne dass man den Urheber wusste, das
Gerücht um, dass er von einer vornehmen Dame, die schon längere Zeit im Hotel wohnte, im
Lift zumindest abgeküsst worden sei. Für den, der das Gerücht kannte, hatte es
unbedingt einen großen Reiz, jene selbstbewusste Dame, in deren Äußerem nicht das
Geringste die Möglichkeit eines solchen Benehmens ahnen ließ, mit ihren ruhigen,
leichten Schritten, zarten Schleiern, streng geschnürter Taille an sich vorübergehen zu
sehen. Sie wohnte im ersten Stock, und Renells Lift war nicht der ihre, aber man konnte
natürlich, wenn die anderen Lifts augenblicklich besetzt waren, solchen Gästen den
Eintritt in einen anderen Lift nicht verwehren. So kam es, dass diese Dame hie und da in
Karls und Renells Lift fuhr, und tatsächlich immer nur, wenn Renell Dienst hatte. Es
konnte Zufall sein, aber niemand glaubte daran, und wenn der Lift mit den beiden abfuhr,
gab es in der ganzen Reihe der Liftjungen eine mühsam unterdrückte Unruhe, die sogar
schon zum Einschreiten eines Oberkellners geführt hatte. Sei es nun, dass die Dame, sei
es, dass das Gerücht die Ursache war, jedenfalls hatte sich Renell verändert, war noch
bei weitem selbstbewusster geworden, überließ das Putzen gänzlich Karl, der schon auf
die nächste Gelegenheit einer gründlichen Aussprache hierüber wartete, und war im
Schlafsaal gar nicht mehr zu sehen. Kein anderer war so vollständig aus der Gemeinschaft
der Liftjungen ausgetreten, denn im Allgemeinen hielten alle, zumindest in Dienstfragen,
streng zusammen und hatten eine Organisation, die von der Hoteldirektion anerkannt war.
Alles dieses ließ sich Karl durch den Kopf gehen, dachte auch an Delamarche, und
verrichtete im Übrigen seinen Dienst wie immer. Gegen Mitternacht hatte er eine kleine
Abwechslung, denn Therese, die ihn öfters mit kleinen Geschenken überraschte, brachte
ihm einen großen Apfel und eine Tafel Schokolade. Sie unterhielten sich ein wenig, durch
die Unterbrechungen, welche die Fahrten mit dem Aufzug brachten, kaum gestört. Das
Gespräch kam auch auf Delamarche, und Karl merkte, dass er sich eigentlich durch Therese
hatte beeinflussen lassen, wenn er ihn seit einiger Zeit für einen gefährlichen Menschen
hielt, denn so erschien er allerdings Therese nach Karls Erzählungen. Karl jedoch hielt
ihn im Grunde nur für einen Lumpen, der durch das Unglück sich hatte verderben lassen
und mit dem man schon auskommen konnte. Therese widersprach dem aber sehr lebhaft und
forderte Karl in langen Reden das Versprechen ab, kein Wort mit Delamarche mehr zu reden.
Statt dieses Versprechen zu geben, drängte sie Karl wiederholt, schlafen zu gehen, da
Mitternacht schon längst vorüber war, und als sie sich weigerte, drohte er, seinen
Posten zu verlassen und sie in ihr Zimmer zu führen. Als sie endlich bereit war
wegzugehen, sagte er: »Warum machst du dir so unnötige Sorgen, Therese? Für den Fall,
dass du dadurch besser schlafen solltest, verspreche ich dir gerne, dass ich mit
Delamarche nur reden werde, wenn es sich nicht vermeiden lässt.« Dann kamen viele
Fahrten, denn der Junge am Nebenlift wurde zu irgendeiner anderen Hilfeleistung verwendet,
und Karl musste beide Lifts besorgen. Es gab Gäste, die von Unordnung sprachen, und ein
Herr, der eine Dame begleitete, berührte Karl sogar leicht mit dem Spazierstock, um ihn
zur Eile anzutreiben, eine Ermahnung, die Recht unnötig war. Wenn doch wenigstens die
Gäste, da sie sahen, dass bei dem einen Lift kein Junge stand, gleich zu Karls Lift
getreten wären, aber das taten sie nicht, sondern gingen zu dem Nebenlift und blieben
dort, die Hand an der Klinke, stehen oder traten gar selbst in den Aufzug ein, was nach
dem strengsten Paragrafen der Dienstordnung die Liftjungen um jeden Preis verhüten
sollten. So gab es für Karl ein sehr ermüdendes Hin- und Herlaufen, ohne dass er aber
dabei das Bewusstsein gehabt hätte, seine Pflicht genau zu erfüllen. Gegen drei Uhr
früh wollte überdies ein Packträger, ein alter Mann, mit dem er ein wenig befreundet
war, irgendeine Hilfeleistung von ihm haben, aber die konnte er nun keinesfalls leisten,
denn gerade standen Gäste vor seinen beiden Lifts. Und es gehörte Geistesgegenwart dazu,
sich sofort mit großen Schritten für eine Gruppe zu entscheiden. Er war daher
glücklich, als der andere Junge wieder antrat, und rief ein paar Worte des Vorwurfs wegen
seines langen Ausbleibens zu ihm hinüber, obwohl er wahrscheinlich keine Schuld daran
hatte.
Nach vier Uhr früh trat ein wenig Ruhe ein, aber Karl brauchte sie auch schon
dringend. Er lehnte schwer am Geländer neben seinem Aufzug, aß langsam den Apfel, aus
dem schon nach dem ersten Biss ein starker Duft strömte, und sah in einen Lichtschacht
hinunter, der von den großen Fenstern der Vorratskammern umgeben war, hinter denen
hängende Massen von Bananen im Dunkel gerade noch schimmerten.