Es musste
wohl eine entlegene Vorstadtstraße sein, in der das Automobil
Halt machte, denn ringsherum herrschte Stille, am Trottoirrand hockten
Kinder und spielten. Ein Mann mit einer Menge alter Kleider über
den Schultern rief beobachtend zu den Fenstern der Häuser empor.
In seiner Müdigkeit fühlte sich Karl unbehaglich, als er aus
dem Automobil auf den Asphalt trat, den die Vormittagssonne warm und
hell beschien.
»Wohnst
du wirklich hier?« rief er ins Automobil hinein.
Robinson,
der während der ganzen Fahrt friedlich geschlafen hatte, brummte
irgendeine undeutliche Bejahung und schien darauf zu warten, dass Karl
ihn hinaustragen werde.
»Dann habe
ich hier also nichts mehr zu tun. Leb wohl«, sagte Karl und machte sich
daran, die ein wenig sich senkende Straße abwärts zu gehen.
»Aber Karl,
was fällt dir denn ein?« rief Robinson und stand schon vor lauter
Sorge ziemlich aufrecht, nur mit noch etwas unruhigen Knien, im Wagen.
»Ich muss
doch gehen«, sagte Karl, der der raschen Gesundung Robinsons zugesehen
hatte.
»In Hemdärmeln?«
fragte dieser.
»Ich werde
mir schon noch einen Rock verdienen«, antwortete Karl, nickte Robinson
zuversichtlich zu, grüßte mit erhobener Hand und wäre
wirklich fortgegangen, wenn nicht der Chauffeur gerufen hätte:
»Noch einen kleinen Augenblick Geduld, mein Herr!«
Es zeigte
sich unangenehmerweise, dass der Chauffeur noch Ansprüche auf eine
nachträgliche Bezahlung stellte, denn die Wartezeit vor dem Hotel
war noch nicht bezahlt.
»Nun ja«,
rief aus dem Automobil Robinson in Bestätigung der Richtigkeit
dieser Forderung, »ich habe ja dort so lange auf dich warten müssen.
Etwas musst du ihm noch geben.«
»Ja, freilich«,
sagte der Chauffeur.
»Ja, wenn
ich nur noch etwas hätte«, sagte Karl und griff in die Hosentaschen,
obwohl er wusste, dass es nutzlos war.
»Ich kann
mich nur an Sie halten«, sagte der Chauffeur und stellte sich breitbeinig
auf, »von dem kranken Mann dort kann ich nichts verlangen.«
Vom Tor
her näherte sich ein junger Bursch mit zerfressener Nase und hörte
aus einer Entfernung von einigen Schritten zu. Gerade machte durch die
Straße ein Polizeimann die Runde, fasste mit gesenktem Gesicht
den hemdärmeligen Menschen ins Auge und blieb stehen.
Robinson,
der den Polizeimann auch bemerkt hatte, machte die Dummheit, aus dem
anderen Fenster ihm zuzurufen: »Es ist nichts, es ist nichts!«, als
ob man einen Polizeimann wie eine Fliege verscheuchen könnte. Die
Kinder, welche den Polizeimann beobachtet hatten, wurden nun durch sein
Stillstehen auch auf Karl und den Chauffeur aufmerksam und liefen im
Trab herbei. Im Tor gegenüber stand eine alte Frau und sah starr
hinüber.
»Rossmann!«
rief da eine Stimme aus der Höhe. Es war Delamarche, der das vom
Balkon des letzten Stockwerks rief. Er selbst war nur schon recht undeutlich
gegen den weißlich blauen Himmel zu sehen, hatte offenbar einen
Schlafrock an und beobachtete mit einem Operngucker die Straße.
Neben ihm war ein roter Sonnenschirm aufgespannt, unter dem eine Frau
zu sitzen schien. »Halloh!« rief er mit größter Anstrengung,
um sich verständlich zu machen, »ist Robinson auch da?«
»Ja«, antwortete
Karl, von einem zweiten, viel lauteren »Ja« Robinsons aus dem Wagen
kräftig unterstützt.
»Halloh!«
rief es zurück, »ich komme gleich!«
Robinson
beugte sich aus dem Wagen. »Das ist ein Mann«, sagte er, und dieses
Lob Delamarches war an Karl gerichtet, an den Chauffeur, an den Polizeimann
und an jeden, der es hören wollte. Oben auf dem Balkon, den man
aus Zerstreutheit noch ansah, obwohl ihn Delamarche schon verlassen
hatte, erhob sich nun unter dem Sonnenschirm tatsächlich eine starke
Frau in rotem, taillenlosem Kleid, nahm den Operngucker von der Brüstung
und sah durch ihn auf die Leute hinunter, die nur allmählich die
Blicke von ihr wandten. Karl sah in Erwartung Delamarches in das Haustor
und weiterhin in den Hof, den eine fast ununterbrochene Reihe von Geschäftsdienern
durchquerte, von denen jeder eine kleine, aber offenbar sehr schwere
Kiste auf der Achsel trug. Der Chauffeur war zu seinem Wagen getreten
und putzte, um die Zeit auszunützen, mit einem Fetzen die Wagenlaternen.
Robinson befühlte seine Gliedschmerzen, schien erstaunt über
die geringen Schmerzen zu sein, die er trotz größter Aufmerksamkeit
fühlen konnte, und begann vorsichtig, mit tief geneigtem Gesicht,
einen der dicken Verbände am Bein zu lösen. Der Polizeimann
hielt sein schwarzes Stöckchen quer vor sich und wartete still,
mit der großen Geduld, die Polizeileute haben müssen, ob
sie nun im gewöhnlichen Dienst oder auf der Lauer sind. Der Bursche
mit der zerfressenen Nase setzte sich auf einen Torstein und streckte
die Beine von sich. Die Kinder näherten sich Karl allmählich
mit kleinen Schritten, denn dieser schien ihnen, obwohl er sie nicht
beachtete, wegen seiner blauen Hemdärmel der Wichtigste von allen
zu sein.
An der
Länge der Zeit, die bis zur Ankunft Delamarches verging, konnte
man die große Höhe dieses Hauses ermessen. Und Delamarche
kam sogar sehr eilig, mit nur flüchtig zugezogenem Schlafrock.
»Also, da seid ihr!« rief er erfreut und streng zugleich. Bei seinen
großen Schritten enthüllte sich stets für einen Augenblick
seine farbige Unterkleidung. Karl begriff nicht ganz, warum Delamarche
hier, in der Stadt, in der riesigen Mietskaserne, auf der offenen Straße,
so bequem angezogen herumging, als sei er in seiner Privatvilla. Ebenso
wie Robinson hatte auch Delamarche sich sehr verändert. Sein dunkles,
glatt rasiertes, peinlich reines, von roh ausgearbeiteten Muskeln gebildetes
Gesicht sah stolz und Respekt einflößend aus. Der grelle
Schein seiner jetzt immer etwas zusammengezogenen Augen überraschte.
Sein violetter Schlafrock war zwar alt, fleckig und für ihn zu
groß, aber aus diesem hässlichen Kleidungsstück bauschte
sich oben eine mächtige, dunkle Krawatte aus schwerer Seide.
»Nun?«
fragte er alle insgesamt. Der Polizeimann trat ein wenig näher
und lehnte sich an den Motorkasten des Automobils. Karl gab eine kleine
Erklärung.
»Robinson
ist ein wenig marod, aber wenn er sich Mühe gibt, wird er schon
die Treppen hinaufgehen können; der Chauffeur hier will noch eine
Nachzahlung zum Fahrgeld, das ich schon bezahlt habe. Und jetzt gehe
ich. Guten Tag.«
»Du gehst
nicht«, sagte Delamarche.
»Ich habe
es ihm auch schon gesagt«, meldete sich Robinson aus dem Wagen.
»Ich gehe
doch«, sagte Karl und machte ein paar Schritte. Aber Delamarche war
schon hinter ihm und schob ihn mit Gewalt zurück.
»Ich sage,
du bleibst!« rief er.
»Aber lasst
mich doch«, sagte Karl und machte sich bereit, wenn es nötig sein
sollte, mit den Fäusten sich die Freiheit zu verschaffen, so wenig
Aussicht auf Erfolg gegenüber einem Mann wie Delamarche auch war.
Aber da stand doch der Polizeimann, da war der Chauffeur, hie und da
gingen Arbeitergruppen durch die sonst freilich ruhige Straße;
würde man es denn dulden, dass ihm von Delamarche ein Unrecht geschehe?
In einem Zimmer hätte er mit ihm nicht allein sein wollen, aber
hier? Delamarche zahlte jetzt ruhig dem Chauffeur, der unter vielen
Verbeugungen den unverdient großen Betrag einsteckte und aus Dankbarkeit
zu Robinson ging und mit diesem offenbar darüber sprach, wie er
am besten herausbefördert werden könnte. Karl sah sich unbeobachtet,
vielleicht duldete Delamarche ein stillschweigendes Fortgehen leichter;
wenn Streit vermieden werden konnte, war es natürlich am besten,
und so ging Karl einfach in die Fahrbahn hinein, um möglichst rasch
wegzukommen. Die Kinder strömten zu Delamarche, um ihn auf Karls
Flucht aufmerksam zu machen, aber er musste selbst gar nicht eingreifen,
denn der Polizeimann sagte mit vorgestrecktem Stabe: »Halt!«
»Wie heißt
du?« fragte er, schob den Stab unter den Arm und zog langsam ein Buch
hervor. Karl sah ihn jetzt zum ersten Mal genauer an, es war ein kräftiger
Mann, hatte aber schon fast ganz weißes Haar.
»Karl Rossmann«,
sagte er.
»Rossmann«,
wiederholte der Polizeimann, zweifellos nur, weil er ein ruhiger und
gründlicher Mensch war, aber Karl, der es hier eigentlich zum ersten
Mal mit amerikanischen Behörden zu tun bekam, sah schon in dieser
Wiederholung das Aussprechen eines gewissen Verdachtes. Und tatsächlich
konnte seine Sache nicht gut stehen, denn selbst Robinson, der doch
so sehr mit seinen eigenen Sorgen beschäftigt war, bat aus dem
Wagen heraus mit stummen lebhaften Handbewegungen den Delamarche, er
möge Karl doch helfen. Aber Delamarche wehrte ihn mit hastigem
Kopfschütteln ab und sah untätig zu, die Hände in seinen
übergroßen Taschen. Der Bursche auf dem Türstein erklärte
einer Frau, die jetzt erst aus dem Tore trat, den ganzen Sachverhalt
von allem Anfang an. Die Kinder standen in einem Halbkreis hinter Karl
und sahen still zum Polizeimann hinauf.
»Zeig deine
Ausweispapiere«, sagte der Polizeimann. Das war wohl nur eine formelle
Frage; denn wenn man keinen Rock hat, wird man auch nicht viel Ausweispapiere
bei sich haben. Karl schwieg deshalb, um lieber auf die nächste
Frage ausführlich zu antworten und so den Mangel der Ausweispapiere
möglichst zu vertuschen.
Aber die
nächste Frage war: »du hast also keine Ausweispapiere?« und Karl
musste antworten: »Bei mir nicht.«
»Das ist
aber schlimm«, sagte der Polizeimann, sah nachdenklich im Kreise umher
und klopfte mit zwei Fingern auf den Deckel seines Buches. »Hast du
irgendeinen Verdienst?« fragte der Polizeimann schließlich.
»Ich war
Liftjunge«, sagte Karl.
»du warst
Liftjunge, bist es also nicht mehr, und wovon lebst du denn jetzt?«
»Jetzt
werde ich mir eine neue Arbeit suchen.«
»Ja, bist
du denn entlassen worden?«
»Ja, vor
einer Stunde.«
»Plötzlich?«
»Ja«, sagte
Karl und hob wie zur Entschuldigung die Hand. Die ganze Geschichte konnte
er hier nicht erzählen, und wenn es auch möglich gewesen wäre,
so schien es doch ganz aussichtslos, ein drohendes Unrecht durch Erzählung
eines erlittenen Unrechts abzuwehren. Und wenn er sein Recht nicht von
der Güte der Oberköchin und von der Einsicht des Oberkellners
erhalten hatte, von der Gesellschaft hier auf der Straße hatte
er es gewiss nicht zu erwarten.
»Und ohne
Rock bist du entlassen worden?« fragte der Polizeimann.
»Nun ja«,
sagte Karl; also auch in Amerika gehörte es zur Art der Behörden,
das, was sie sahen, noch eigens zu fragen. (Wie hatte sein Vater bei
der Beschaffung des Reisepasses über die nutzlosen Fragereien der
Behörden sich ärgern müssen!) Karl hatte große
Lust wegzulaufen, sich irgendwo zu verstecken und keine Fragen mehr
anhören zu müssen. Und nun stellte gar der Polizeimann jene
Frage, vor der sich Karl am meisten gefürchtet und in deren unruhiger
Voraussicht er sich bisher wahrscheinlich unvorsichtiger benommen hatte,
als es sonst geschehen wäre.
»In welchem
Hotel warst du denn angestellt?«
Er senkte
den Kopf und antwortete nicht, auf diese Frage wollte er unbedingt nicht
antworten. Es durfte nicht geschehen, dass er, von einem Polizeimann
eskortiert, wieder ins Hotel Occidental zurückkäme, dass dort
Verhöre stattfanden, zu denen seine Freunde und Feinde beigezogen
würden, dass die Oberköchin ihre schon sehr schwach gewordene
gute Meinung über Karl gänzlich aufgab, da sie ihn, den sie
in der Pension Brenner vermutete, von einem Polizeimann aufgegriffen,
in Hemdärmeln, ohne ihre Visitenkarte, zurückgekehrt fand,
während der Oberkellner vielleicht nur voll Verständnis nicken
und der Oberportier dagegen von der Hand Gottes sprechen würde,
die den Lumpen endlich gefunden habe.
»Er war
im Hotel Occidental angestellt«, sagte Delamarche und trat an die Seite
des Polizeimannes.
»Nein«,
rief Karl und stampfte mit dem Fuße auf, »es ist nicht wahr!«
Delamarche sah ihn mit spöttisch zugespitztem Munde an, als könne
er noch ganz andere Dinge verraten. Unter die Kinder brachte die unerwartete
Aufregung Karls große Bewegung, und sie zogen zu Delamarche hin,
um lieber von dort aus Karl genau anzusehen. Robinson hatte den Kopf
völlig aus dem Wagen gesteckt und verhielt sich vor Spannung ganz
ruhig; hie und da ein Augenzwinkern war seine einzige Bewegung. Der
Bursche im Tor schlug in die Hände vor Vergnügen, die Frau
neben ihm gab ihm einen Stoß mit dem Ellbogen, damit er ruhig
sei. Die Gepäckträger hatten gerade Frühstückspause
und erschienen sämtlich, mit großen Töpfen schwarzen
Kaffees, in dem sie mit Stangenbroten herumrührten. Einige setzten
sich auf den Trottoirrand, alle schlürften den Kaffee sehr laut.
»Sie kennen
wohl den Jungen?« fragte der Polizeimann den Delamarche.
»Besser,
als mir lieb ist«, sagte dieser. »Ich habe ihm seinerzeit viel Gutes
getan, er aber hat sich dafür sehr schlecht bedankt, was Sie wohl,
selbst nach dem ganz kurzen Verhör, das Sie mit ihm angestellt
haben, leicht begreifen werden.«
»Ja«, sagte
der Polizeimann, »er scheint ein verstockter Junge zu sein.«
»Das ist
er«, sagte Delamarche, »aber es ist das noch nicht seine schlechteste
Eigenschaft.«
»So?« sagte
der Polizeimann.
»Ja«, sagte
Delamarche, der nun im Reden war und dabei mit den Händen in den
Taschen seinen ganzen Mantel in schwingende Bewegung brachte, »das ist
ein feiner Hecht. Ich und mein Freund dort im Wagen, wir haben ihn zufällig
im Elend aufgegriffen, er hatte damals keine Ahnung von amerikanischen
Verhältnissen, er kam gerade aus Europa, wo man ihn auch nicht
hatte brauchen können; nun, wir schleppten ihn mit uns, ließen
ihn mit uns leben, erklärten ihm alles, wollten ihm einen Posten
verschaffen, dachten, trotz allen Anzeichen, die dagegen sprachen, noch
einen brauchbaren Menschen aus ihm zu machen, da verschwand er einmal
in der Nacht, war einfach weg, und das unter Begleitumständen,
die ich lieber verschweigen will. War es so oder nicht?« fragte Delamarche
schließlich und zupfte Karl am Hemdärmel.
»Zurück,
ihr Kinder!« rief der Polizeimann, denn diese hatten sich so weit vorgedrängt,
dass Delamarche fast über eines gestolpert wäre. Inzwischen
waren auch die Gepäckträger, die bisher die Interessantheit
dieses Verhörs unterschätzt hatten, aufmerksam geworden und
hatten sich in dichtem Ring hinter Karl versammelt, der nun auch nicht
einen Schritt hätte zurücktreten können und überdies
unaufhörlich in den Ohren das Durcheinander der Stimmen dieser
Gepäckträger hatte, die in einem gänzlich unverständlichen,
vielleicht mit slawischen Worten untermischten Englisch mehr polterten
als redeten.
»Danke
für die Auskunft«, sagte der Polizeimann und salutierte vor Delamarche.
»Jedenfalls werde ich ihn mitnehmen und dem Hotel Occidental zurückgeben
lassen.« Aber Delamarche sagte: »Dürfte ich die Bitte stellen,
mir den Jungen vorläufig zu überlassen, ich hätte einiges
mit ihm in Ordnung zu bringen. Ich verpflichte mich, ihn dann selbst
ins Hotel zurückzuführen.«
»Das kann
ich nicht tun«, sagte der Polizeimann.
Delamarche
sagte: »Hier ist meine Visitenkarte«, und reichte ihm ein Kärtchen.
Der Polizeimann
sah es anerkennend an, sagte aber, verbindlich lächelnd: »Nein,
es ist vergeblich.«
So sehr
sich Karl bisher vor Delamarche gehütet hatte, jetzt sah er in
ihm die einzig mögliche Rettung. Es war zwar verdächtig, wie
sich dieser beim Polizeimann um Karl bewarb, aber jedenfalls würde
sich Delamarche leichter als der Polizeimann bewegen lassen, ihn nicht
ins Hotel zurückzuführen. Und selbst wenn Karl an der Hand
des Delamarche ins Hotel zurückkam, so war es viel weniger schlimm,
als wenn es in Begleitung des Polizeimannes geschah. Vorläufig
aber durfte natürlich Karl nicht zu erkennen geben, dass er tatsächlich
zu Delamarche wollte, sonst war alles verloren. Und unruhig sah er auf
die Hand des Polizeimannes, die sich jeden Augenblick erheben konnte,
um ihn zu fassen.
»Ich müsste
doch wenigstens erfahren, warum er plötzlich entlassen worden ist«,
sagte schließlich der Polizeimann, während Delamarche mit
verdrießlichem Gesicht beiseite sah und die Visitenkarte zwischen
den Fingerspitzen zerdrückte.
»Aber er
ist doch gar nicht entlassen!« rief Robinson zu allgemeiner Überraschung
und beugte sich, auf den Chauffeur gestützt, möglichst weit
aus dem Wagen. »Im Gegenteil, er hat ja dort einen guten Posten. Im
Schlafsaal ist er der Oberste und kann hineinführen, wen er will.
Nur ist er riesig beschäftigt, und wenn man etwas von ihm haben
will, muss man lange warten. Immerfort steckt er beim Oberkellner, bei
der Oberköchin und ist Vertrauensperson. Entlassen ist er auf keinen
Fall. Ich weiß nicht, warum er das gesagt hat. Wie kann er denn
entlassen sein? Ich habe mich im Hotel schwer verletzt, und da hat er
den Auftrag bekommen, mich nach Hause zu schaffen, und weil er gerade
ohne Rock war, ist er eben ohne Rock mitgefahren. Ich konnte nicht noch
warten, bis er den Rock holt.«
»Nun also«,
sagte Delamarche mit ausgebreiteten Armen, in einem Ton, als werfe er
dem Polizeimann Mangel an Menschenkenntnis vor, und diese seine zwei
Worte schienen in die Unbestimmtheit der Aussage Robinsons eine widerspruchslose
Klarheit zu bringen.
»Ist das
aber auch wahr?« fragte der Polizeimann schon schwächer. »Und wenn
es wahr ist, warum gibt der Junge vor, entlassen zu sein?«
»Du sollst
antworten«, sagte Delamarche.
Karl sah
den Polizeimann an, der hier zwischen fremden, nur auf sich selbst bedachten
Leuten Ordnung schaffen sollte, und etwas von seinen allgemeinen Sorgen
ging auch auf Karl über. Er wollte nicht lügen und hielt die
Hände fest verschlungen auf dem Rücken.
In dem
Tore erschien ein Aufseher und klatschte in die Hände, zum Zeichen,
dass die Gepäckträger wieder an ihre Arbeit gehen sollten.
Sie schütteten den Bodensatz aus ihren Kaffeetöpfen und zogen
verstummend mit schwankenden Schritten ins Haus.
»So kommen
wir zu keinem Ende«, sagte der Polizeimann und wollte Karl am Arm fassen.
Karl wich unwillkürlich noch ein wenig zurück, fühlte
den freien Raum, der sich ihm infolge des Abmarsches der Gepäckträger
eröffnet hatte, wandte sich um und setzte sich unter einigen großen
Anfangssprüngen in Lauf. Die Kinder brachen in einen einzigen Schrei
aus und liefen mit ausgestreckten Ärmchen ein paar Schritte mit.
»Haltet
ihn!« rief der Polizeimann die lange, fast leere Gasse hinab und lief
unter gleichmäßigem Ausstoßen dieses Rufes in geräuschlosem,
große Kraft und Übung verratendem Lauf hinter Karl her. Es
war ein Glück für Karl, dass die Verfolgung in einem Arbeiterviertel
stattfand. Die Arbeiter halten es nicht mit den Behörden. Karl
lief mitten in der Fahrbahn, weil er dort die wenigsten Hindernisse
hatte, und sah nun hie und da auf dem Trottoir Arbeiter stehen bleiben
und ihn ruhig beobachten, während der Polizeimann ihnen sein »Haltet
ihn!« zurief und in seinem Lauf, er hielt sich klugerweise auf dem glatten
Trottoir, unaufhörlich den Stab gegen Karl hin ausstreckte. Karl
hatte wenig Hoffnung und verlor sie fast ganz, als der Polizeimann nun,
da sie sich Quergassen näherten, die gewiss auch Polizeipatrouillen
enthielten, geradezu betäubende Pfiffe ausstieß. Karls Vorteil
war lediglich seine leichte Kleidung, er flog, oder besser stürzte,
die sich immer mehr senkende Straße hinab, nur machte er, zerstreut
infolge seiner Verschlafenheit, oft zu hohe, Zeit raubende und nutzlose
Sprünge. Außerdem aber hatte der Polizeimann sein Ziel, ohne
nachdenken zu müssen, immer vor Augen, für Karl dagegen war
der Lauf doch eigentlich Nebensache, er musste nachdenken, unter verschiedenen
Möglichkeiten auswählen, immer neu sich entschließen.
Sein etwas verzweifelter Plan war vorläufig, die Quergassen zu
vermeiden, da man nicht wissen konnte, was in ihnen steckte, vielleicht
würde er da geradewegs in eine Wachstube hineinlaufen; er wollte
sich, solange es nur ging, an diese weithin übersiohtliche Straße
halten, die erst tief unten in eine Brücke auslief, die, kaum begonnen,
in Wasser- und Sonnendunst verschwand. Gerade wollte er sich nach diesem
Entschluss zu schnellerem Lauf zusammennehmen, um die erste Querstraße
besonders eilig zu passieren, da sah er nicht allzu weit vor sich einen
Polizeimann, lauernd an die dunkle Mauer eines im Schatten liegenden
Hauses gedrückt, bereit, im richtigen Augenblick auf Karl loszuspringen.
Jetzt blieb keine Hilfe als die Quergasse, und als er gar aus dieser
Gasse ganz harmlos beim Namen gerufen wurde es schien ihm zwar
zuerst eine Täuschung zu sein, denn ein Sausen hatte er schon die
ganze Zeit lang in den Ohren , zögerte er nicht mehr länger
und bog, um die Polizeileute möglichst zu überraschen, auf
einem Fuß sich schwenkend, rechtwinklig in diese Gasse ein.
Kaum war
er zwei Sprünge weit gekommen dass man seinen Namen gerufen
hatte, hatte er schon wieder vergessen, nun pfiff auch der zweite Polizeimann,
man merkte seine unverbrauchte Kraft, ferne Passanten in dieser Querstraße
schienen eine raschere Gangart anzunehmen , da griff aus einer
kleinen Haustüre eine Hand nach Karl und zog ihn mit den Worten
»Still sein!« in einen dunklen Flur. Es war Delamarche, ganz außer
Atem, mit erhitzten Wangen, seine Haare klebten ihm rings um den Kopf.
Den Schlafrock trug er unter dem Arm und war nur mit Hemd und Unterhose
bekleidet. Die Türe, welche nicht das eigentliche Haustor war,
sondern nur einen unscheinbaren Nebeneingang bildete, hatte er gleich
geschlossen und versperrt.
»Einen
Augenblick«, sagte er dann, lehnte sich mit hochgehaltenem Kopf an die
Wand und atmete schwer. Karl lag fast in seinen Armen und drückte
halb besinnungslos das Gesicht an seine Brust.
»Da laufen
die Herren«, sagte Delamarche und streckte den Finger aufhorchend gegen
die Tür. Wirklich liefen jetzt die zwei Polizeileute vorbei, ihr
Laufen klang in der leeren Gasse, wie wenn Stahl gegen Stein geschlagen
wird.
»Du bist
aber ordentlich hergenommen«, sagte Delamarche zu Karl, der noch immer
an seinem Atem würgte und kein Wort herausbringen konnte. Delamarche
setzte ihn vorsichtig auf den Boden, kniete neben ihm nieder, strich
ihm mehrmals über die Stirn und beobachtete ihn.
»Jetzt
geht es schon«, sagte Karl und stand mühsam auf.
»Dann also
los«, sagte Delamarche, der seinen Schlafrock wieder angezogen hatte,
und schob Karl, der noch vor Schwäche den Kopf gesenkt hielt, vor
sich her. Von Zeit zu Zeit schüttelte er Karl, um ihn frischer
zu machen.
»du willst
müde sein?« sagte er. »Du konntest doch im Freien laufen wie ein
Pferd, ich aber musste hier durch die verfluchten Gänge und Höfe
schleichen. Glücklicherweise bin ich aber auch ein Läufer.«
Vor Stolz gab er Karl einen weit ausgeholten Schlag auf den Rücken.
»Von Zeit zu Zeit ist ein solches Wettrennen mit der Polizei eine gute
Übung.«
»Ich war
schon müde, wie ich zu laufen anfing«, sagte Karl.
»Für
schlechtes Laufen gibt es keine Entschuldigung«, sagte Delamarche. »Wenn
ich nicht wäre, hätten sie dich schon längst gefasst.«
»Ich glaube
auch«, sagte Karl. »Ich bin Ihnen sehr verpflichtet.«
»Kein Zweifel«,
sagte Delamarche.
Sie gingen
durch einen langen, schmalen Flurgang, der mit dunklen, glatten Steinen
gepflastert war. Hie und da öffnete sich rechts oder links ein
Treppenaufgang oder man erhielt einen Durchblick in einen anderen, größeren
Flur. Erwachsene waren kaum zu sehen, nur Kinder spielten auf den leeren
Treppen. An einem Geländer stand ein kleines Mädchen und weinte,
dass ihr vor Tränen das ganze Gesicht glänzte. Kaum hatte
sie Delamarche bemerkt, als sie, mit offenem Munde nach Luft schnappend,
die Treppe hinauflief und sich erst hoch oben beruhigte, als sie nach
häufigem Umdrehen sich überzeugt hatte, dass ihr niemand folge
oder folgen wolle.
»Die habe
ich vor einem Augenblick niedergerannt«, sagte Delamarche lachend und
drohte ihr mit der Faust, worauf sie schreiend weiter hinauflief.
Auch die
Höfe, durch die sie kamen, waren fast gänzlich verlassen.
Nur hie und da schob ein Geschäftsdiener einen zweirädrigen
Karren vor sich her, eine Frau füllte an der Pumpe eine Kanne mit
Wasser, ein Briefträger durchquerte mit ruhigen Schritten den ganzen
Hof, ein alter Mann mit weißem Schnauzbart saß mit übergeschlagenen
Beinen vor einer Glastür und rauchte eine Pfeife, vor einem Speditionsgeschäft
wurden Kisten abgeladen, die unbeschäftigten Pferde drehten gleichmütig
die Köpfe, ein Mann in einem Arbeitsmantel überwachte mit
einem Papier in der Hand die ganze Arbeit; in einem Büro war das
Fenster geöffnet, und ein Angestellter, der an seinem Schreibpult
saß, hatte sich von ihm abgewendet und sah nachdenklich hinaus,
wo gerade Karl und Delamarche vorübergingen.
»Eine ruhigere
Gegend kann man sich gar nicht wünschen«, sagte Delamarche. »Am
Abend ist ein paar Stunden lang großer Lärm, aber während
des Tages geht es hier musterhaft zu.« Karl nickte, ihm schien die Ruhe
zu groß zu sein. »Ich könnte gar nicht anderswo wohnen«,
sagte Delamarche, »denn Brunelda verträgt absolut keinen Lärm.
Kennst du Brunelda? Nun, du wirst sie ja sehen. Jedenfalls empfehle
ich dir, dich möglichst still aufzuführen.«
Als sie
zu der Treppe kamen, die zur Wohnung Delamarches führte, war das
Automobil bereits weggefahren, und der Bursche mit der zerfressenen
Nase meldete, ohne über Karls Wiedererscheinen irgendwie zu staunen,
er habe Robinson die Treppe hinaufgetragen. Delamarche nickte ihm bloß
zu, als sei er sein Diener, der eine selbstverständliche Pflicht
erfüllt habe, und zog Karl, der ein wenig zögerte und auf
die sonnige Straße sah, mit sich die Treppe hinauf. »Wir sind
gleich oben«, sagte Delamarche einige Male während des Treppensteigens,
aber seine Voraussage wollte sich nicht erfüllen, immer wieder
setzte sich an eine Treppe eine neue in nur unmerklich veränderter
Richtung an. Einmal blieb Karl sogar stehen, nicht eigentlich vor Müdigkeit,
aber vor Wehrlosigkeit gegenüber dieser Treppenlänge. »Die
Wohnung liegt ja sehr hoch«, sagte Delamarche, als sie weitergingen,
»aber auch das hat seine Vorteile. Man geht sehr selten aus, den ganzen
Tag ist man im Schlafrock, wir haben es sehr gemütlich. Natürlich
kommen in diese Höhe auch keine Besuche herauf.«
Woher
sollten denn die Besuche kommen? dachte Karl. Endlich erschien
auf einem Treppenabsatz Robinson vor einer geschlossenen Wohnungstür,
und nun waren sie angelangt; die Treppe war noch nicht einmal zu Ende,
sondern führte im Halbdunkel weiter, ohne dass irgendetwas auf
ihren baldigen Abschluss hinzudeuten schien.
»Ich habe
es mir ja gedacht«, sagte Robinson leise, als bedrückten ihn noch
Schmerzen. »Delamarche bringt ihn! Rossmann, was wärest du ohne
Delamarche!« Robinson stand in Unterkleidung da und suchte sich nur,
soweit es möglich war, in die kleine Bettdecke einzuwickeln, die
man ihm aus dem Hotel Occidental mitgegeben hatte; es war nicht einzusehen,
warum er nicht in die Wohnung ging, statt hier vor möglicherweise
vorüberkommenden Leuten sich lächerlich zu machen.
»Schläft
sie?« fragte Delamarche.
»Ich glaube
nicht«, sagte Robinson, »aber ich habe doch lieber gewartet, bis du
kommst.«
»Zuerst
müssen wir schauen, ob sie schläft«, sagte Delamarche und
beugte sich zum Schlüsselloch. Nachdem er lange unter verschiedenartigen
Kopfdrehungen hindurchgeschaut hatte, erhob er sich und sagte: »Man
sieht sie nicht genau, das Rouleau ist heruntergelassen. Sie sitzt auf
dem Kanapee, aber vielleicht schläft sie.«
»Ist sie
denn krank?« fragte Karl, denn Delamarche stand da, als bitte er um
Rat. Nun aber fragte er in scharfem Tone zurück:
»Krank?«
»Er kennt
sie ja nicht«, sagte Robinson entschuldigend.
Ein paar
Türen weiter waren zwei Frauen auf den Korridor getreten, sie wischten
die Hände an ihren Schürzen rein, sahen auf Delamarche und
Robinson und schienen sich über sie zu unterhalten. Aus einer Tür
sprang ein noch ganz junges Mädchen mit glänzendem blondem
Haar und schmiegte sich zwischen die zwei Frauen, indem es sich in ihre
Arme einhängte.
»Das sind
widerliche Weiber«, sagte Delamarche leise, aber offenbar nur aus Rücksicht
auf die schlafende Brunelda, »nächstens werde ich sie bei der Polizei
anzeigen und werde für Jahre Ruhe vor ihnen haben. Schau nicht
hin«, zischte er dann Karl an, der nichts Böses daran gefunden
hatte, die Frauen anzuschauen, wenn man nun schon einmal auf dem Gang
auf das Erwachen Bruneldas warten musste. Und ärgerlich schüttelte
er den Kopf, als habe er von Delamarche keine Ermahnungen anzunehmen,
und wollte, um dies noch deutlicher zu zeigen, auf die Frauen zugehen,
da hielt ihn aber Robinson mit den Worten »Rossmann, hüte dich!«
am Ärmel zurück, und Delamarche, schon durch Karl gereizt,
wurde über ein lautes Auflachen des Mädchens so wütend,
dass er mit großem Anlauf, Arme und Beine werfend, auf die Frauen
zueilte, die jede in ihre Türe wie weggeweht verschwanden.
»So muss
ich hier öfters die Gänge reinigen«, sagte Delamarche, als
er mit langsamen Schritten zurückkehrte; da erinnerte er sich an
Karls Widerstand und sagte: »Von dir aber erwarte ich ein ganz anderes
Benehmen, sonst könntest du mit mir schlechte Erfahrungen machen.«
Da rief
aus dem Zimmer eine fragende Stimme in sanftem, müdem Tonfall:
»Delamarche?«
»Ja«, antwortete
Delamarche und sah freundlich die Tür an, »können wir eintreten?«
»O ja«,
hieß es, und Delamarche öffnete, nachdem er noch die zwei
hinter ihm Wartenden mit einem Blick gestreift hatte, langsam die Tür.
Man trat
in vollständiges Dunkel ein. Der Vorhang der Balkontür, ein
Fenster war nicht vorhanden, war bis zum Boden hinabgelassen und wenig
durchscheinend, außerdem aber trug die Überfüllung des
Zimmers mit Möbeln und herumhängenden Kleidern viel zu seiner
Verdunkelung bei. Die Luft war dumpf, und man roch geradezu den Staub,
der sich hier in Winkeln, die offenbar für jede Hand unzugänglich
waren, angesammelt hatte. Das Erste, was Karl beim Eintritt bemerkte,
waren drei Kasten, die knapp hintereinander aufgestellt waren.
Auf dem
Kanapee lag die Frau, die früher vom Balkon hinuntergeschaut hatte.
Ihr rotes Kleid hatte sich unten ein wenig verzogen und hing in einem
großen Zipfel bis auf den Boden, man sah ihre Beine fast bis zu
den Knien, sie trug dicke weiße Wollstrümpfe; Schuhe hatte
sie keine.
»Das ist
eine Hitze, Delamarche«, sagte sie, wandte das Gesicht von der Wand,
hielt ihre Hand lässig in Schwebe gegen Delamarche hin, der sie
ergriff und küsste. Karl sah nur ihr Doppelkinn an, das bei der
Wendung des Kopfes auch mitrollte.
»Soll ich
den Vorhang vielleicht hinaufziehen lassen?« fragte Delamarche.
»Nur das
nicht«, sagte sie mit geschlossenen Augen und wie verzweifelt, »dann
wird es ja noch ärger.«
Karl war
zum Fußende des Kanapees getreten, um die Frau genauer anzusehen,
er wunderte sich über ihre Klagen, denn die Hitze war gar nicht
außerordentlich.
»Warte,
ich werde es dir ein wenig bequem machen«, sagte Delamarche ängstlich,
öffnete oben am Hals ein paar Knöpfe und zog dort das Kleid
auseinander, sodass der Hals und der Ansatz der Brust frei wurde und
ein zarter, gelblicher Spitzensaum des Hemdes erschien.
»Wer ist
das«, sagte die Frau plötzlich und zeigte mit dem Finger auf Karl,
»warum starrt er mich so an?«
»du fängst
bald an, dich nützlich zu machen«, sagte Delamarche und schob Karl
beiseite, während er die Frau mit den Worten beruhigte: »Es ist
nur der Junge, den ich zu deiner Bedienung mitgebracht habe.«
»Aber ich
will doch niemanden haben!« rief sie. »Warum bringst du mir fremde Leute
in die Wohnung?«
»Aber die
ganze Zeit wünschst du dir doch eine Bedienung«, sagte Delamarche
und kniete nieder; auf dem Kanapee war trotz seiner großen Breite
neben Brunelda nicht der geringste Platz.
»Ach, Delamarche«,
sagte sie, »du verstehst mich nicht und verstehst mich nicht.«
»Dann verstehe
ich dich also wirklich nicht«, sagte Delamarche und nahm ihr Gesicht
zwischen beide Hände. »Aber es ist ja nichts geschehen, wenn du
willst, geht er augenblicklich fort.«
»Wenn er
schon einmal hier ist, soll er bleiben«, sagte sie nun wieder, und Karl
war ihr in seiner Müdigkeit für diese vielleicht gar nicht
freundlich gemeinten Worte so dankbar, dass er, immer in undeutlichen
Gedanken an diese endlose Treppe, die er nun vielleicht gleich wieder
hätte abwärtssteigen müssen, über den auf seiner
Decke friedlich schlafenden Robinson hinwegtrat und trotz allem ärgerlichen
Händefuchteln Delamarches sagte: »Ich danke Ihnen jedenfalls dafür,
dass Sie mich noch ein wenig hier lassen wollen. Ich habe wohl schon
vierundzwanzig Stunden nicht geschlafen, dabei genug gearbeitet und
verschiedene Aufregungen gehabt. Ich bin schrecklich müde. Ich
weiß gar nicht recht, wo ich bin. Wenn ich aber ein paar Stunden
geschlafen habe, können Sie mich ohne Rücksichtnahme fortschicken,
und ich werde gerne gehen.«
»du kannst
überhaupt hier bleiben«, sagte die Frau und fügte ironisch
hinzu, »Platz haben wir ja in Überfluss, wie du siehst.«
»du musst
also fortgehen«, sagte Delamarche, »wir können dich nicht brauchen.«
»Nein,
er soll bleiben«, sagte die Frau nun wieder im Ernste. Und Delamarche
sagte zu Karl wie in Ausführung dieses Wunsches: »Also leg dich
schon irgendwo hin.«
»Er kann
sich auf die Vorhänge legen, aber er muss sich die Stiefel ausziehen,
damit er nichts zerreißt.«
Delamarche
zeigte Karl den Platz, den sie meinte. Zwischen der Türe und den
drei Schränken war ein großer Haufen von verschiedenartigsten
Fenstervorhängen hingeworfen. Wenn man alle regelmäßig
zusammengefaltet, die schweren zu unterst und weiter hinauf die leichteren
gelegt und schließlich die verschiedenen in den Haufen gesteckten
Bretter und Holzringe herausgezogen hätte, so wäre es ein
erträgliches Lager geworden, so war es nur eine schaukelnde und
gleitende Masse, auf die sich aber Karl trotzdem augenblicklich legte,
denn zu besonderen Schlafvorbereitungen war er zu müde und musste
sich auch mit Rücksicht auf seine Gastgeber hüten, viel Umstände
zu machen.
Er war
schon fast im eigentlichen Schlaf, da hörte er einen lauten Schrei,
erhob sich und sah die Brunelda aufrecht auf dem Kanapee sitzen, die
Arme weit ausbreiten und Delamarche, der vor ihr kniete, umschlingen.
Karl, dem der Anblick peinlich war, lehnte sich wieder zurück und
versenkte sich in die Vorhänge zur Fortsetzung des Schlafes. Dass
er es hier auch nicht zwei Tage aushalten würde, schien ihm klar
zu sein, desto nötiger aber war es, sich zuerst gründlich
auszuschlafen, um sich dann bei völligem Verstande schnell und
ruhig entschließen zu können.
Aber Brunelda
hatte schon Karls vor Müdigkeit groß aufgerissene Augen,
die sie schon einmal erschreckt hatten, bemerkt und rief: »Delamarche,
ich halte es vor Hitze nicht aus, ich brenne, ich muss mich ausziehen,
ich muss baden, schick die beiden aus dem Zimmer, wohin du willst, auf
den Gang, auf den Balkon, nur dass ich sie nicht mehr sehe! Man ist
in seiner eigenen Wohnung und immerfort gestört. Wenn ich mit dir
allein wäre, Delamarche! Ach Gott, sie sind noch immer da! Wie
dieser unverschämte Robinson sich in Gegenwart einer Dame in seiner
Unterkleidung streckt! Und wie dieser fremde Junge, der mich vor einem
Augenblick ganz wild angeschaut hat, sich wieder gelegt hat, um mich
zu täuschen! Nur weg mit ihnen, Delamarche, sie sind mir eine Last,
sie liegen mir auf der Brust, wenn ich jetzt umkomme, ist es ihretwegen.«
»Sofort
sind sie draußen, zieh dich nur aus«, sagte Delamarche, ging zu
Robinson hin und schüttelte ihn mit dem Fuß, den er ihm auf
die Brust setzte. Gleichzeitig rief er Karl zu: »Rossmann, aufstehen!
Ihr müsst beide auf den Balkon! Und wehe euch, wenn ihr hereinkommt,
ehe man euch ruft! Und jetzt flink, Robinson« dabei schüttelte
er Robinson stärker , »und du, Rossmann, gib acht, dass ich
nicht auch über dich komme«, dabei klatschte er laut zweimal in
die Hände.
»Wie lange
das dauert!« rief Brunelda auf dem Kanapee, sie hatte beim Sitzen die
Beine weit auseinandergestellt, um ihrem übermäßig dicken
Körper mehr Raum zu verschaffen, nur mit größter Anstrengung,
unter vielem Schnappen und häufigem Ausruhen, konnte sie sich so
weit bücken, um ihre Strümpfe am obersten Ende zu fassen und
ein wenig hinunterzuziehen, gänzlich ausziehen konnte sie sich
nicht, das musste Delamarche besorgen, auf den sie nun ungeduldig wartete.
Ganz stumpf
vor Müdigkeit war Karl von dem Haufen hinuntergekrochen und ging
langsam zur Balkontüre, ein Stück Vorhangstoff hatte sich
ihm um den Fuß gewickelt, und er schleppte es gleichgültig
mit. In seiner Zerstreutheit sagte er sogar, als er an Brunelda vorüberkam:
»Ich wünsche gute Nacht« und wanderte dann an Delamarche vorbei,
der den Vorhang der Balkontüre ein wenig zurückzog, auf den
Balkon hinaus. Gleich hinter Karl kam Robinson, wohl nicht minder schläfrig,
denn er summte vor sich hin: »Immerfort malträtiert man einen!
Wenn Brunelda nicht mitkommt, gehe ich nicht auf den Balkon.« Aber trotz
dieser Versicherung ging er ohne jeden Widerstand hinaus, wo er sich,
da Karl schon in den Lehnstuhl gesunken war, sofort auf den Steinboden
legte.
Als Karl
erwachte, war es schon Abend, die Sterne standen schon am Himmel, hinter
den hohen Häusern der gegenüberliegenden Straßenseite
stieg der Schein des Mondes empor. Erst nach einigem Umherschauen in
der unbekannten Gegend, einigem Aufatmen in der kühlen, erfrischenden
Luft wurde sich Karl dessen bewusst, wo er war. Wie unvorsichtig war
er gewesen, alle Ratschläge der Oberköchin, alle Warnungen
Theresens, alle eigenen Befürchtungen hatte er vernachlässigt,
saß hier ruhig auf dem Balkon Delamarches und hatte hier gar den
halben Tag verschlafen, als sei nicht hier hinter dem Vorhang Delamarche,
sein großer Feind. Auf dem Boden wand sich der faule Robinson
und zog Karl am Fuße, er schien ihn auch auf diese Weise geweckt
zu haben, denn er sagte: »du hast einen Schlaf, Rossmann! Das ist die
sorglose Jugend. Wie lange willst du denn noch schlafen? Ich hätte
dich ja noch schlafen lassen, aber erstens ist es mir da auf dem Boden
zu langweilig und zweitens habe ich einen großen Hunger. Ich bitte
dich, steh ein wenig auf, ich habe da unten, im Sessel drin, etwas zum
Essen aufgehoben, ich möchte es gern herausziehen. du bekommst
dann auch etwas.« Und Karl, der aufstand, sah nun, wie Robinson, ohne
aufzustehen, sich auf dem Bauch herüberwälzte und mit ausgestreckten
Händen unter dem Sessel eine versilberte Schale hervorzog, wie
sie etwa zum Aufbewahren von Visitenkarten dient. Auf dieser Schale
lag aber eine halbe, ganz schwarze Wurst, einige dünne Zigaretten,
eine geöffnete, aber noch gut gefüllte und von Öl überfließende
Sardinenbüchse und eine Menge meist zerdrückter und zu einem
Ballen gewordener Bonbons. Dann erschien noch ein großes Stück
Brot und eine Art Parfümflasche, die aber etwas anderes als Parfüm
zu enthalten schien, denn Robinson zeigte mit besonderer Genugtuung
auf sie und schnalzte zu Karl hinauf.
»Siehst
du, Rossmann«, sagte Robinson, während er Sardine nach Sardine
hinunterschlang und hie und da die Hände vom Öl an einem Wolltuch
reinigte, das offenbar Brunelda auf dem Balkon vergessen hatte. »Siehst
du, Rossmann, so muss man sich sein Essen aufheben, wenn man nicht verhungern
will. Du, ich bin ganz beiseitegeschoben. Und wenn man immerfort als
Hund behandelt wird, denkt man schließlich, man ist's wirklich.
Gut, dass du da bist, Rossmann, ich kann wenigstens mit jemandem reden.
Im Hause spricht ja niemand mit mir. Wir sind verhasst. Und alles wegen
der Brunelda. Sie ist ja natürlich ein prächtiges Weib. Du
« und er winkte Karl zu sich herab, um ihm zuzuflüstern
»ich habe sie einmal nackt gesehen. O!« Und in der Erinnerung an diese
Freude fing er an, Karls Beine zu drücken und zu schlagen, bis
Karl ausrief: »Robinson, du bist ja verrückt«, seine Hände
packte und zurückstieß.
»Du bist
eben noch ein Kind, Rossmann«, sagte Robinson, zog einen Dolch, den
er an seiner Halsschnur trug, unter dem Hemd hervor, nahm die Dolchkappe
ab und zerschnitt die harte Wurst. »Du musst noch viel zulernen. Bist
aber bei uns an der richtigen Quelle. Setz dich doch. Willst du nicht
auch etwas essen? Nun, vielleicht bekommst du Appetit, wenn du mir zuschaust.
Trinken willst du auch nicht? Du willst aber rein gar nichts. Und gesprächig
bist du gerade auch nicht besonders. Aber es ist ganz gleichgültig,
mit wem man auf dem Balkon ist, wenn nur überhaupt jemand da ist.
Ich bin nämlich sehr oft auf dem Balkon. Das macht der Brunelda
solchen Spaß. Es muss ihr nur etwas einfallen, einmal ist es ihr
kalt, einmal heiß, einmal will sie schlafen, einmal will sie sich
kämmen, einmal will sie das Mieder öffnen, einmal will sie
es anziehen, und da werde ich immer auf den Balkon geschickt. Manchmal
tut sie wirklich das, was sie sagt, aber meistens liegt sie nur so wie
früher auf dem Kanapee und rührt sich nicht. Früher habe
ich öfters den Vorhang so ein wenig weggezogen und durchgeschaut,
aber seit einmal Delamarche bei einer solchen Gelegenheit ich
weiß genau, dass er es nicht wollte, sondern es nur auf Bruneldas
Bitte tat mir mit der Peitsche einige Male ins Gesicht geschlagen
hat siehst du die Striemen? , wage ich nicht mehr, durchzuschauen.
Und so liege ich dann hier auf dem Balkon und habe kein Vergnügen
außer essen. Vorgestern, wie ich des Abends so allein gelegen
bin, damals war ich noch in meinen eleganten Kleidern, die ich leider
in deinem Hotel verloren habe diese Hunde; reißen einem
die teuren Kleider vom Leib! , wie ich also da so allein gelegen
bin und durch das Geländer hinuntergeschaut habe, war mir alles
so traurig und ich habe zu heulen angefangen. Da ist zufällig,
ohne dass ich es gleich bemerkt habe, die Brunelda zu mir herausgekommen
in dem roten Kleid das passt ihr doch von allen am besten ,
hat mir ein wenig zugeschaut und hat endlich gesagt: Robinson,
warum weinst du? Dann hat sie ihr Kleid gehoben und hat mir mit
dem Saum die Augen abgewischt. Wer weiß, was sie noch getan hätte,
wenn nicht Delamarche nach ihr gerufen hätte und sie nicht sofort
wieder ins Zimmer hätte hineingehen müssen. Natürlich
habe ich gedacht, jetzt sei die Reihe an mir, und habe durch den Vorhang
gefragt, ob ich schon ins Zimmer darf. Und was, meinst du, hat die Brunelda
gesagt: Nein! hat sie gesagt, und Was fällt dir
ein? hat sie gesagt.«
»Warum
bleibst du denn hier, wenn man dich so behandelt?« fragte Karl.
»Verzeih,
Rossmann, du fragst nicht sehr gescheit«, antwortete Robinson. »Du wirst
schon auch noch hier bleiben, und wenn man dich noch ärger behandelt.
Übrigens behandelt man mich gar nicht so arg.«
»Nein«,
sagte Karl, »ich gehe bestimmt weg, und womöglich noch heute Abend.
Ich bleibe nicht bei euch.«
»Wie willst
du denn zum Beispiel das anstellen, heute Abend wegzugehen?« fragte
Robinson, der das Weiche aus dem Brot herausgeschnitten hatte und sorgfältig
in dem Öl der Sardinenbüchse tränkte. »Wie willst du
weggehen, wenn du nicht einmal ins Zimmer hineingehen darfst?«
»Warum
dürfen wir denn nicht hineingehen?«
»Nun, solange
es nicht geläutet hat, dürfen wir nicht hineingehen«, sagte
Robinson, der mit möglichst weit geöffnetem Munde das fette
Brot verspeiste, während er mit einer Hand das vom Brot herabtropfende
Öl auffing, um von Zeit zu Zeit das noch übrige Brot in diese
als Reservoir dienende hohle Hand zu tauchen. »Es ist hier alles strenger
geworden. Zuerst war da nur ein dünner Vorhang, man hat zwar nicht
durchgesehen, aber am Abend hat man doch die Schatten erkannt. Das war
der Brunelda unangenehm, und da habe ich einen ihrer Theatermäntel
zu einem Vorhang umarbeiten und statt des alten Vorhangs hier aufhängen
müssen. Jetzt sieht man gar nichts mehr. Dann habe ich früher
immer fragen dürfen, ob ich schon hineingehen darf, und man hat
mir, je nach den Umständen, ja oder nein geantwortet, aber dann
habe ich das wahrscheinlich zu sehr ausgenützt und zu oft gefragt.
Brunelda konnte das nicht ertragen und sie ist trotz ihrer Dicke
sehr schwach veranlagt, Kopfschmerzen hat sie oft und Gicht in den Beinen
fast immer , und so wurde bestimmt, dass ich nicht mehr fragen
darf, sondern dass, wenn ich hineingehen kann, auf die Tischglocke gedrückt
wird. Das gibt ein solches Läuten, dass es mich selbst aus dem
Schlafe weckt ich habe einmal eine Katze zu meiner Unterhaltung
hier gehabt, die ist vor Schrecken über dieses Läuten weggelaufen
und nicht eher zurückgekommen; also, geläutet hat es heute
noch nicht, wenn es nämlich läutet, dann darf ich nicht nur,
sondern muss hineingehen und wenn es einmal so lange nicht läutet,
dann kann es noch sehr lange dauern.«
»Ja«, sagte
Karl, »aber was für dich gilt, muss doch noch nicht für mich
gelten. Überhaupt gilt so etwas nur für den, der es sich gefallen
lässt.«
»Aber«,
rief Robinson, »warum sollte denn das nicht auch für dich gelten?
Selbstverständlich gilt es auch für dich. Warte hier nur ruhig
mit mir, bis es läutet. Dann kannst du ja versuchen, ob du wegkommst.«
»Warum
gehst du denn eigentlich nicht fort von hier? Nur deshalb, weil Delamarche
dein Freund ist oder, besser, war. Ist denn das ein Leben? Wäre
es da nicht in Butterford besser, wohin ihr zuerst wolltet? Oder gar
in Kalifornien, wo du Freunde hast?«
»Ja«, sagte
Robinson, »das konnte niemand voraussehen.« Und ehe er weiter erzählte,
sagte er noch: »Auf dein Wohl, lieber Rossmann« und nahm einen langen
Zug aus der Parfümflasche. »Wir waren ja damals, wie du uns so
gemein hast sitzen lassen, sehr schlecht daran. Arbeit konnten wir in
den ersten Tagen keine bekommen, Delamarche übrigens wollte keine
Arbeit, er hätte sie schon bekommen, sondern schickte nur immer
mich auf die Suche, und ich habe kein Glück. Er hat sich nur so
herumgetrieben, aber es war schon fast Abend, da hatte er nur ein Damenportmonee
mitgebracht. Es war zwar sehr schön, aus Perlen, jetzt hat er es
der Brunelda geschenkt, aber es war fast nichts darin. Dann sagte er,
wir sollten in die Wohnungen betteln gehen, bei dieser Gelegenheit kann
man natürlich manches Brauchbare finden, wir sind also betteln
gegangen, und ich habe, damit es besser aussieht, vor den Wohnungstüren
gesungen. Und wie schon Delamarche immer Glück hat, kaum sind wir
vor der zweiten Wohnung gestanden, einer sehr reichen Wohnung im Parterre,
und haben an der Tür der Köchin und dem Diener etwas vorgesungen,
da kommt die Dame, der diese Wohnung gehört, eben Brunelda, die
Treppe herauf. Sie war vielleicht zu stark geschnürt und konnte
die paar Stufen gar nicht heraufkommen. Aber wie schön sie ausgesehen
hat, Rossmann! Sie hat ein ganz weißes Kleid mit einem roten Sonnenschirm
gehabt. Zum Ablecken war sie. Zum Austrinken war sie. Ach Gott, ach
Gott, war sie schön! So ein Frauenzimmer! Nein, sag mir nur, wie
kann es so ein Frauenzimmer geben? Natürlich ist das Mädchen
und der Diener ihr gleich entgegengelaufen und haben sie fast hinaufgetragen.
Wir sind rechts und links von der Tür gestanden und haben salutiert,
das macht man hier so. Sie ist ein wenig stehen geblieben, weil sie
noch immer nicht genug Atem hatte, und nun weiß ich nicht, wie
das eigentlich geschehen ist, ich war durch das Hungern nicht ganz bei
Verstand, und sie war eben in der Nähe noch schöner und riesig
breit und infolge eines besonderen Mieders, ich kann es dir dann im
Kasten zeigen, überall so fest; kurz, ich habe sie ein bisschen
hinten angerührt, aber ganz leicht, weißt du, nur so angerührt.
Natürlich kann man das nicht dulden, dass ein Bettler eine reiche
Dame anrührt. Es war ja fast keine Berührung, aber schließlich
war es eben doch eine Berührung. Wer weiß, wie schlimm das
ausgefallen wäre, wenn mir nicht Delamarche sofort eine Ohrfeige
gegeben hätte, und zwar eine solche Ohrfeige, dass ich sofort meine
beiden Hände für die Wange brauchte.«
»Was ihr
getrieben habt!« sagte Karl, von der Geschichte ganz gefangen genommen,
und setzte sich auf den Boden. »Das war also Brunelda?«
»Nun ja«,
sagte Robinson, »das war Brunelda.«
»Sagtest
du nicht einmal, dass sie eine Sängerin ist?« fragte Karl.
»Freilich
ist sie eine Sängerin, und eine große Sängerin«, antwortete
Robinson, der eine große Bonbonmasse auf der Zunge wälzte
und hie und da ein Stück, das aus dem Mund gedrängt wurde,
mit dem Finger wieder zurückdrückte. »Aber das wussten wir
natürlich damals noch nicht, wir sahen nur, dass es eine reiche
und sehr feine Dame war. Sie tat, als wäre nichts geschehen, und
vielleicht hatte sie auch nichts gespürt, denn ich hatte sie tatsächlich
nur mit den Fingerspitzen angetippt. Aber immerfort hat sie den Delamarche
angesehen, der ihr wieder wie er das schon trifft gerade
in die Augen zurückgeschaut hat. Darauf hat sie zu ihm gesagt:
Komm mal auf ein Weilchen hinein und hat mit dem Sonnenschirm
in die Wohnung gezeigt, wohin Delamarche ihr vorangehen sollte. Dann
sind sie beide hineingegangen, und die Dienerschaft hat hinter ihnen
die Tür zugemacht. Mich haben sie draußen vergessen, und
da habe ich gedacht, es wird nicht gar so lange dauern, und habe mich
auf die Treppe gesetzt, um Delamarche zu erwarten. Aber statt Delamarches
ist der Diener herausgekommen und hat mir eine ganze Schüssel Suppe
herausgebracht. Eine Aufmerksamkeit Delamarches! sagte ich
mir. Der Diener blieb noch, während ich aß, ein Weilchen
bei mir stehen und erzählte mir einiges über Brunelda, und
da habe ich gesehen, welche Bedeutung der Besuch bei Brunelda für
uns haben könnte. Denn Brunelda war eine geschiedene Frau, hatte
ein großes Vermögen und war vollständig selbstständig!
Ihr früherer Mann, ein Kakaofabrikant, liebte sie zwar noch immer,
aber sie wollte von ihm nicht das Geringste hören. Er kam sehr
oft in die Wohnung, immer sehr elegant, wie zu einer Hochzeit, angezogen
das ist Wort für Wort wahr, ich kenne ihn selbst ,
aber der Diener wagte trotz der größten Bestechung nicht,
Brunelda zu fragen, ob sie ihn empfangen wollte, denn er hatte schon
einige Male gefragt, und immer hatte ihm Brunelda das, was sie gerade
bei der Hand hatte, ins Gesicht geworfen. Einmal sogar ihre große
gefüllte Wärmflasche, und mit der hatte sie ihm einen Vorderzahn
ausgeschlagen. Ja, Rossmann, da schaust du!«
»Woher
kennst du den Mann?« fragte Karl.
»Er kommt
manchmal auch herauf«, sagte Robinson.
»Herauf?«
Karl schlug vor Staunen leicht mit der Hand auf den Boden.
»Du kannst
ruhig staunen«, fuhr Robinson fort, »selbst ich habe gestaunt, wie mir
das der Diener damals erzählt hat. Denk nur, wenn Brunelda nicht
zu Hause war, hat sich der Mann von dem Diener in ihre Zimmer führen
lassen und immer eine Kleinigkeit als Andenken mitgenommen und immer
etwas sehr Teures und Feines für Brunelda zurückgelassen und
dem Diener streng verboten zu sagen, von wem es ist. Aber einmal, als
er etwas wie der Diener sagte, und ich glaube es geradezu
Unbezahlbares aus Porzellan mitgebracht hatte, muss Brunelda es irgendwie
erkannt haben, hat es sofort auf den Boden geworfen, ist daraufherumgetreten,
hat es angespuckt und noch einiges andere damit gemacht, sodass es der
Diener vor Ekel kaum hinaustragen konnte.«
»Was hat
ihr denn der Mann getan?« fragte Karl.
»Das weiß
ich eigentlich nicht«, sagte Robinson. »Ich glaube aber, nichts Besonderes,
wenigstens weiß er es selbst nicht. Ich habe ja schon manchmal
mit ihm darüber gesprochen. Er erwartet mich täglich dort
an der Straßenecke, wenn ich komme, so muss ich ihm Neuigkeiten
erzählen; kann ich nicht kommen, wartet er eine halbe Stunde und
geht dann wieder weg. Es war für mich ein guter Nebenverdienst,
denn er bezahlte die Nachrichten sehr vornehm, aber seit Delamarche
davon erfahren hat, muss ich ihm alles abliefern, und so gehe ich seltener
hin.«
»Aber was
will der Mann haben?« fragte Karl. »Was will er denn haben? Er hört
doch, sie will ihn nicht.«
»Ja«, seufzte
Robinson, zündete sich eine Zigarette an und blies unter großen
Armschwenkungen den Rauch in die Höhe. Dann schien er sich anders
zu entschließen und sagte: »Was kümmert das mich? Ich weiß
nur, er würde viel Geld dafür geben, wenn er so hier auf dem
Balkon liegen dürfte wie wir.«
Karl stand
auf, lehnte sich ans Geländer und sah auf die Straße hinunter.
Der Mond war schon sichtbar, in die Tiefe der Gasse drang sein Licht
aber noch nicht. Die am Tag so leere Gasse war, besonders vor den Haustoren,
gedrängt voll von Menschen, alle waren in langsamer, schwerfälliger
Bewegung, die Hemdärmel der Männer, die hellen Kleider der
Frauen hoben sich schwach vom Dunkel ab, alle waren ohne Kopfbedeckung.
Die vielen Balkone ringsum waren nun insgesamt besetzt, dort saßen
beim Licht einer Glühlampe die Familien, je nach der Größe
des Balkons, um einen kleinen Tisch herum oder bloß auf Sesseln
in einer Reihe oder sie steckten wenigstens die Köpfe aus dem Zimmer
hervor. Die Männer saßen breitbeinig da, die Füße
zwischen den Geländerstangen hinausgestreckt, und lasen Zeitungen,
die fast bis auf den Boden reichten, oder spielten Karten, scheinbar
stumm, aber unter starken Schlägen auf die Tische, die Frauen hatten
den Schoß voll Näharbeit und erübrigten nur hier und
da einen kurzen Blick für ihre Umgebung oder für die Straße.
Eine blonde, schwache Frau auf dem benachbarten Balkon gähnte immerfort,
verdrehte dabei die Augen und hob immer vor den Mund ein Wäschestück,
das sie gerade flickte; selbst auf den kleinsten Balkonen verstanden
es die Kinder, einander zu jagen, was den Eltern sehr lästig fiel.
Im Inneren vieler Zimmer waren Grammofone aufgestellt und bliesen Gesang
oder Orchestralmusik hervor, man kümmerte sich nicht besonders
um diese Musik, nur hie und da gab der Familienvater einen Wink, und
irgendjemand eilte ins Zimmer hinein, um eine neue Platte einzulegen.
An manchen Fenstern sah man vollständig bewegungslose Liebespaare,
an einem Fenster Karl gegenüber stand ein solches Paar aufrecht,
der junge Mann hatte seinen Arm um das Mädchen gelegt und drückte
mit der Hand ihre Brust.
»Kennst
du jemanden von den Leuten hier nebenan?« fragte Karl Robinson, der
nun auch aufgestanden war, und, weil es ihn fröstelte, außer
der Bettdecke auch noch die Decke Bruneldas um sich gewickelt hielt.
»Fast niemanden,
das ist ja eben das Schlimme an meiner Stellung«, sagte Robinson und
zog Karl näher zu sich, um ihm ins Ohr flüstern zu können,
»sonst hätte ich mich augenblicklich nicht gerade zu beklagen.
Die Brunelda hat ja Delamarches wegen alles, was sie hatte, verkauft
und ist mit all ihren Reichtümern hierher in diese Vorstadtwohnung
gezogen, damit sie sich ihm ganz widmen kann und damit sie niemand stört,
übrigens war das auch der Wunsch Delamarches.«
»Und die
Dienerschaft hat sie entlassen?« fragte Karl.
»Ganz richtig«,
sagte Robinson. »Wo sollte man auch die Dienerschaft hier unterbringen?
Diese Diener sind ja sehr anspruchsvolle Herren. Einmal hat Delamarche
bei der Brunelda einen solchen Diener einfach mit Ohrfeigen aus dem
Zimmer getrieben, da ist eine nach der andern geflogen, bis der Mann
draußen war. Natürlich haben die anderen Diener sich mit
ihm vereinigt und vor der Tür Lärm gemacht, da ist Delamarche
herausgekommen (ich war damals nicht Diener, sondern Hausfreund, aber
doch war ich mit den Dienern beisammen) und hat gefragt: Was wollt
ihr? Der älteste Diener, ein gewisser Isidor, hat daraufhin
gesagt: Sie haben mit uns nichts zu reden, unsere Herrin ist die
gnädige Frau. Wie du wahrscheinlich merkst, haben sie Brunelda
verehrt. Aber Brunelda ist, ohne sich um sie zu kümmern, zu Delamarche
gelaufen, sie war damals doch noch nicht so schwer wie jetzt, hat ihn
vor allen umarmt, geküsst und Liebster Delamarche genannt.
Und schick doch schon diese Affen weg, hat sie endlich gesagt.
Affendas sollten die Diener sein; stell dir die Gesichter vor, die sie
da machten. Dann hat die Brunelda die Hand Delamarches zu ihrer Geldtasche
hingezogen, die sie am Gürtel trug, Delamarche hat hineingegriffen
und also angefangen, die Diener auszuzahlen; die Brunelda hat sich nur
dadurch an der Auszahlung beteiligt, dass sie mit der offenen Geldtasche
im Gürtel dabei gestanden ist. Delamarche musste oft hineingreifen,
denn er verteilte das Geld, ohne zu zählen und ohne die Forderungen
zu prüfen. Schließlich sagte er: Da ihr also mit mir
nicht reden wollt, sage ich euch nur im Namen Bruneldas: Packt euch,
aber sofort. So sind sie entlassen worden, es gab dann noch einige
Prozesse, Delamarche musste sogar einmal zu Gericht, aber davon weiß
ich nichts Genaueres. Nur gleich nach dem Abschied der Diener hat Delamarche
zu Brunelda gesagt: Jetzt hast du also keine Dienerschaft?
Sie hat gesagt: Aber da ist ja Robinson. Daraufhin hat Delamarche
gesagt und hat mir dabei einen Schlag auf die Achsel gegeben: Also
gut, du wirst unser Diener sein. Und Brunelda hat mir dann auf
die Wange geklopft. Wenn sich die Gelegenheit findet, Rossmann, lass
dir auch einmal von ihr auf die Wange klopfen. du wirst staunen, wie
schön das ist.«
»du bist
also Delamarches Diener geworden?« sagte Karl zusammenfassend.
Robinson
hörte das Bedauern aus der Frage heraus und antwortete: »Ich bin
Diener, aber das bemerken nur wenige Leute. Du siehst, du selbst wusstest
es nicht, obwohl du doch schon ein Weilchen bei uns bist. Du hast ja
gesehen, wie ich in der Nacht bei euch im Hotel angezogen war. Das Feinste
vom Feinen hatte ich an. Gehen Diener so angezogen? Nur ist eben die
Sache die, dass ich nicht oft weggehen darf, ich muss immer bei der
Hand sein, in der Wirtschaft ist eben immer etwas zu tun. Eine Person
ist eben zu wenig für die viele Arbeit. Wie du vielleicht bemerkt
hast, haben wir sehr viele Sachen im Zimmer herumstehen; was wir eben
bei dem großen Auszug nicht verkaufen konnten, haben wir mitgenommen.
Natürlich hätte man es wegschenken können, aber Brunelda
schenkt nichts weg. Denk dir nur, welche Arbeit es gegeben hat, diese
Sachen die Treppe heraufzutragen.«
»Robinson,
du hast das alles heraufgetragen?« fragte Karl.
»Wer denn
sonst?« sagte Robinson. »Es war noch ein Hilfsarbeiter da, ein faules
Luder; ich habe die meiste Arbeit allein machen müssen. Brunelda
ist unten beim Wagen gestanden, Delamarche hat oben angeordnet, wohin
die Sachen zu legen sind, und ich bin immerfort hin und her gelaufen.
Es hat zwei Tage gedauert, sehr lange, nicht wahr? Aber du weißt
ja gar nicht, wie viel Sachen hier im Zimmer sind, alle Kasten sind
voll und hinter den Kasten ist alles voll gestopft bis zur Decke hinauf.
Wenn man ein paar Leute für den Transport aufgenommen hätte,
wäre ja alles bald fertig gewesen, aber Brunelda wollte es niemandem
außer mir anvertrauen. Das war ja sehr schön, aber ich habe
damals meine Gesundheit für mein ganzes Leben verdorben, und was
habe ich denn sonst gehabt als meine Gesundheit? Wenn ich mich nur ein
wenig anstrenge, sticht es mich hier und hier und hier. Glaubst du,
diese Jungen im Hotel, diese Grasfrösche was sind sie denn
sonst? , hätten mich jemals besiegen können, wenn ich
gesund wäre? Aber was mir auch fehlen sollte, dem Delamarche und
der Brunelda sage ich kein Wort, ich werde arbeiten, solange es gehen
wird, und wenn es nicht mehr gehen wird, werde ich mich hinlegen und
sterben, und dann erst, zu spät, werden sie sehen, dass ich krank
gewesen bin und trotzdem immerfort und immerfort weitergearbeitet und
mich in ihren Diensten zu Tode gearbeitet habe. Ach, Rossmann «,
sagte er schließlich und trocknete die Augen an Karls Hemdärmel.
Nach einem Weilchen sagte er: »Ist dir denn nicht kalt, du stehst da
so im Hemd?«
»Geh, Robinson«,
sagte Karl, »immerfort weinst du. Ich glaube nicht, dass du so krank
bist. Du siehst ganz gesund aus, aber weil du immerfort da auf dem Balkon
liegst, hast du dir so Verschiedenes ausgedacht. Du hast vielleicht
manchmal einen Stich in der Brust, das habe ich auch, das hat jeder.
Wenn alle Menschen wegen jeder Kleinigkeit so weinen wollten wie du,
müssten die Leute auf allen Balkonen weinen.«
»Ich weiß
es besser«, sagte Robinson und wischte nun die Augen mit dem Zipfel
seiner Decke. »Der Student, der nebenan bei der Vermieterin wohnt, die
auch für uns kochte, hat mir letzthin, als ich das Essgeschirr
zurückbrachte, gesagt: Hören Sie einmal, Robinson, sind
Sie nicht krank? Mir ist verboten, mit den Leuten zu reden, und
so habe ich nur das Geschirr hingelegt und wollte weggehen. Da ist er
zu mir gegangen und hat gesagt: Hören Sie, Mann, treiben
Sie die Sache nicht zum Äußersten, Sie sind krank.
Ja, also, ich bitte, was soll ich denn machen? habe ich
gefragt. Das ist Ihre Sache, hat er gesagt und hat sich
umgedreht. Die anderen dort bei Tisch haben gelacht, wir haben ja hier
überall Feinde, und so bin ich lieber weggegangen.«
»Also Leuten,
die dich zum Narren halten, glaubst du, und Leuten, die es gut mit dir
meinen, glaubst du nicht.«
»Aber ich
muss doch wissen, wie mir ist«, fuhr Robinson auf, kehrte aber gleich
wieder zum Weinen zurück.
»Du weißt
eben nicht, was dir fehlt, du solltest irgendeine ordentliche Arbeit
für dich suchen, statt hier Delamarches Diener zu machen. Denn
soweit ich nach deinen Erzählungen und nach dem, was ich selbst
gesehen habe, urteilen kann, ist das hier kein Dienst, sondern eine
Sklaverei. Das kann kein Mensch ertragen, das glaube ich dir. Du aber
denkst, weil du Delamarches Freund bist, darfst du ihn nicht verlassen.
Das ist falsch; wenn er nicht einsieht, was für ein elendes Leben
du führst, so hast du ihm gegenüber nicht die geringsten Verpflichtungen
mehr.«
»du glaubst
also wirklich, Rossmann, dass ich mich wieder erholen werde, wenn ich
das Dienen hier aufgebe?«
»Gewiss«,
sagte Karl.
»Gewiss?«
fragte nochmals Robinson.
»Ganz gewiss«,
sagte Karl lächelnd.
»Dann könnte
ich ja gleich anfangen, mich zu erholen«, sagte Robinson und sah Karl
an.
»Wieso
denn?« fragte dieser.
»Nun, weil
du doch meine Arbeit hier übernehmen sollst«, antwortete Robinson.
»Wer hat
dir denn das gesagt?« fragte Karl.
»Das ist
doch ein alter Plan. Davon wird ja schon seit einigen Tagen gesprochen.
Es hat damit angefangen, dass Brunelda mich ausgezankt hat, weil ich
die Wohnung nicht sauber genug halte. Natürlich habe ich versprochen,
dass ich alles gleich in Ordnung bringen werde. Nun, das ist aber sehr
schwer. Ich kann zum Beispiel in meinem Zustand nicht überallhin
kriechen, um den Staub wegzuwischen, man kann sich schon in der Mitte
des Zimmers nicht rühren, wie erst dort zwischen den Möbeln
und den Vorräten? Und wenn man alles genau reinigen will, muss
man doch auch die Möbel von ihrem Platz wegschieben, und das soll
ich allein machen? Außerdem müsste das alles ganz leise geschehen,
weil doch Brunelda, die ja das Zimmer kaum verlässt, nicht gestört
werden darf. Ich habe also zwar versprochen, dass ich alles rein machen
werde, aber rein gemacht habe ich es tatsächlich nicht. Als Brunelda
das bemerkt hat, hat sie zu Delamarche gesagt, dass das nicht so weitergeht
und dass man noch eine Hilfskraft wird aufnehmen müssen. Ich
will nicht, Delamarche, hat sie gesagt, dass du mir einmal
Vorwürfe machst, ich hätte die Wirtschaft nicht gut geführt.
Selbst kann ich mich nicht anstrengen, das siehst du doch ein, und Robinson
genügt nicht; am Anfang war er so frisch und hat sich überall
umgesehen, aber jetzt ist er immerfort müde und sitzt meist in
einem Winkel. Aber ein Zimmer mit so viel Gegenständen wie das
unsrige hält sich nicht selbst in Ordnung. Daraufhin hat
Delamarche nachgedacht, was sich da tun ließe, denn eine beliebige
Person kann man natürlich in einen solchen Haushalt nicht aufnehmen,
auch zur Probe nicht, denn man passt uns ja von allen Seiten auf. Weil
ich aber dein guter Freund bin und von Renell gehört habe, wie
du dich im Hotel plagen musst, habe ich dich in Vorschlag gebracht.
Delamarche war gleich einverstanden, obwohl du dich damals gegen ihn
so keck benommen hast, und ich habe mich natürlich sehr gefreut,
dass ich dir so nützlich sein konnte. Für dich ist nämlich
diese Stellung wie geschaffen, du bist jung, stark und geschickt, während
ich nichts mehr wert bin. Nur will ich dir sagen, dass du noch keineswegs
aufgenommen bist; wenn du Brunelda nicht gefällst, können
wir dich nicht brauchen. Also strenge dich nur an, dass du ihr angenehm
bist, für das Übrige werde ich schon sorgen.«
»Und was
wirst du machen, wenn ich hier Diener sein werde?« fragte Karl; er fühlte
sich so frei, der erste Schrecken, den ihm die Mitteilungen Robinsons
verursacht hatten, war vorüber. Delamarche hatte also keine schlimmeren
Absichten mit ihm, als ihn zum Diener zu machen hätte er
schlimmere Absichten gehabt, dann hätte sie der plapperhafte Robinson
gewiss verraten , wenn es aber so stand, dann getraute sich Karl,
noch heute Nacht den Abschied durchzuführen. Man kann niemanden
zwingen, einen Posten anzunehmen. Und während Karl früher
Sorgen gehabt hatte, ob er nach seiner Entlassung aus dem Hotel bald
genug, um vor Hunger geschützt zu sein, einen passenden und womöglich
nicht unansehnlicheren Posten bekommen werde, schien ihm jetzt im Vergleich
zu dem ihm hier zugedachten Posten, der ihm widerlich war, jeder andere
Posten gut genug, und selbst die stellungslose Not hätte er diesem
Posten vorgezogen. Robinson das aber begreiflich zu machen, versuchte
er gar nicht, besonders da Robinson jetzt in jedem Urteil durch die
Hoffnung völlig befangen war, von Karl entlastet zu werden.
»Ich werde
also«, sagte Robinson und begleitete die Rede mit behaglichen Handbewegungen
die Ellbogen hatte er auf das Geländer aufgestützt
, »dir zunächst alles erklären und die Vorräte
zeigen. Du bist gebildet und hast sicher auch eine schöne Schrift,
du könntest also gleich ein Verzeichnis all der Sachen machen,
die wir da haben. Das hat sich Brunelda schon längst gewünscht.
Wenn morgen Vormittag schönes Wetter ist, werden wir Brunelda bitten,
dass sie sich auf den Balkon setzt, und inzwischen werden wir ruhig
und ohne sie zu stören im Zimmer arbeiten können. Denn darauf,
Rossmann, musst du vor allem Acht geben. Nur nicht Brunelda stören.
Sie hört alles, wahrscheinlich hat sie als Sängerin so empfindliche
Ohren. Du rollst zum Beispiel das Fass mit Schnaps, das hinter dem Kasten
steht, heraus, es macht Lärm, weil es schwer ist und dort überall
verschiedene Sachen herumliegen, sodass man es nicht mit einem Male
durchrollen kann. Brunelda liegt zum Beispiel ruhig auf dem Kanapee
und fängt Fliegen, die sie überhaupt sehr belästigen.
Du glaubst also, sie kümmert sich um dich nicht, und rollst dein
Fass weiter. Sie liegt noch immer ruhig. Aber in einem Augenblick, wo
du es gar nicht erwartest und wo du am wenigsten Lärm machst, setzt
sie sich plötzlich aufrecht, schlägt mit beiden Händen
auf das Kanapee, dass man sie vor Staub nicht sieht seit wir
hier sind, habe ich das Kanapee nicht ausgeklopft; ich kann ja nicht,
sie liegt doch immerfort darauf , und fängt schrecklich zu
schreien an, wie ein Mann, und schreit so stundenlang. Das Singen haben
ihr die Nachbarn verboten, das Schreien aber kann ihr niemand verbieten,
sie muss schreien, übrigens geschieht es ja jetzt nur selten, ich
und Delamarche sind sehr vorsichtig geworden. Es hat ihr ja auch sehr
geschadet. Einmal ist sie ohnmächtig geworden, und ich habe
Delamarche war gerade weg den Studenten von nebenan holen müssen,
der hat sie aus einer großen Flasche mit Flüssigkeit bespritzt,
es hat auch geholfen, aber diese Flüssigkeit hat einen unerträglichen
Geruch gehabt, noch jetzt, wenn man die Nase zum Kanapee hält,
riecht man es. Der Student ist sicher unser Feind, wie alle hier, du
musst dich auch vor allen in Acht nehmen und dich mit keinem einlassen.«
»Du, Robinson«,
sagte Karl, »das ist aber ein schwerer Dienst. Da hast du mich für
einen schönen Posten empfohlen.«
»Mach dir
keine Sorgen«, sagte Robinson und schüttelte mit geschlossenen
Augen den Kopf, um alle möglichen Sorgen Karls abzuwehren. »Der
Posten hat auch Vorteile, wie sie dir kein anderer Posten bieten kann.
Du bist immerfort in der Nähe einer Dame wie Brunelda, du schläfst
manchmal mit ihr im gleichen Zimmer, das bringt schon, wie du dir denken
kannst, verschiedene Annehmlichkeiten mit sich. Du wirst reichlich bezahlt
werden, Geld ist in Menge da, ich habe als Freund Delamarches nichts
bekommen; nur wenn ich ausgegangen bin, hat mir Brunelda immer etwas
mitgegeben, aber du wirst natürlich bezahlt werden wie ein anderer
Diener. Du bist ja auch nichts anderes. Das Wichtigste für dich
aber ist, dass ich dir den Posten sehr erleichtern werde. Zunächst
werde ich natürlich nichts machen, damit ich mich erhole, aber
wie ich nur ein wenig erholt bin, kannst du auf mich rechnen. Die eigentliche
Bedienung Bruneldas behalte ich überhaupt für mich, also das
Frisieren und Anziehen, soweit es nicht Delamarche besorgt. du wirst
dich nur um das Aufräumen des Zimmers, um Besorgungen und die schwereren
häuslichen Arbeiten zu kümmern haben.«
»Nein,
Robinson«, sagte Karl, »das alles verlockt mich nicht.«
»Mach keine
Dummheiten, Rossmann«, sagte Robinson nahe an Karls Gesicht, »verscherze
dir nicht diese schöne Gelegenheit. Wo bekommst du denn gleich
einen Posten? Wer kennt dich? Wen kennst du? Wir, zwei Männer,
die schon viel erlebt haben und große Erfahrungen besitzen, sind
wochenlang herumgelaufen, ohne Arbeit zu bekommen. Es ist nicht leicht,
es ist sogar verzweifelt schwer.«
Karl nickte
und wunderte sich, wie vernünftig Robinson sprechen konnte. Für
ihn hatten diese Ratschläge allerdings keine Geltung, er durfte
hier nicht bleiben, in der großen Stadt würde sich wohl noch
ein Plätzchen für ihn finden, die ganze Nacht über, das
wusste er, waren alle Gasthäuser überfüllt, man brauchte
Bedienung für die Gäste, darin hatte er nun schon Übung.
Er würde sich schon rasch und unauffällig in irgendeinen Betrieb
einfügen. Gerade im gegenüberliegenden Hause war unten ein
kleines Gasthaus untergebracht, aus dem eine rauschende Musik hervordrang.
Der Haupteingang war nur mit einem großen gelben Vorhang verdeckt,
der manchmal, von einem Luftzug bewegt, mächtig in die Gasse hinausflatterte.
Sonst war es in der Gasse freilich viel stiller geworden. Die meisten
Balkone waren finster, nur in der Ferne fand sich noch hier und dort
ein einzelnes Licht, aber kaum fasste man es für ein Weilchen ins
Auge, erhoben sich dort die Leute, und während sie in die Wohnung
zurückdrängten, griff ein Mann an die Glühlampe und drehte,
als Letzter auf dem Balkon zurückbleibend, nach einem kurzen Blick
auf die Gasse das Licht aus.
Nun
beginnt ja schon die Nacht, sagte sich Karl, bleibe ich
noch länger hier, gehöre ich schon zu ihnen. Er drehte
sich um, um den Vorhang vor der Wohnungstür wegzuziehen. »Was willst
du?« sagte Robinson und stellte sich zwischen Karl und den Vorhang.
»Weg will
ich«, sagte Karl. »Lass mich! Lass mich!«
»du willst
sie doch nicht stören«, rief Robinson, »was fällt dir denn
nur ein!« Und er legte Karl die Arme um den Hals, hing sich mit seiner
ganzen Last an ihn, umklammerte mit den Beinen Karls Beine und zog ihn
so im Augenblick auf die Erde nieder. Aber Karl hatte unter den Liftjungen
ein wenig raufen gelernt, und so stieß er Robinson die Faust unter
das Kinn, aber schwach und voll Schonung. Der gab Karl noch rasch und
ganz rücksichtslos mit dem Knie einen vollen Stoß in den
Bauch, fing dann aber, beide Hände am Kinn, so laut zu heulen an,
dass von dem benachbarten Balkon ein Mann unter wildem Händeklatschen
»Ruhe!« befahl. Karl lag noch ein wenig still, um den Schmerz, den ihm
der Stoß Robinsons verursacht hatte, zu verwinden. Er wandte nur
das Gesicht zum Vorhang hin, der ruhig und schwer vor dem offenbar dunklen
Zimmer hing. Es schien ja niemand mehr im Zimmer zu sein, vielleicht
war Delamarche mit Brunelda ausgegangen, und Karl hatte schon völlige
Freiheit. Robinson, der sich wirklich wie ein Wächterhund benahm,
war ja endgültig abgeschüttelt.
Da ertönten
aus der Ferne von der Gasse her stoßweise Trommeln und Trompeten.
Einzelne Rufe vieler Leute sammelten sich bald zu einem allgemeinen
Schreien. Karl drehte den Kopf und sah, wie sich alle Balkone von neuem
belebten. Langsam erhob er sich, er konnte sich nicht ganz aufrichten
und musste sich schwer gegen das Geländer drücken. Unten auf
dem Trottoir marschierten junge Burschen mit großen Schritten,
ausgestreckten Armen, die Mützen in der erhobenen Hand, die Gesichter
zurückgewandt. Die Fahrbahn blieb noch frei. Einzelne schwenkten
auf hohen Stangen Lampions, die von einem gelblichen Rauch umhüllt
waren. Gerade traten die Trommler und Trompeter in breiten Reihen ans
Licht, und Karl staunte über ihre Menge, da hörte er hinter
sich Stimmen, drehte sich um und sah den Delamarche den schweren Vorhang
heben und dann aus dem Zimmerdunkel Brunelda treten, im roten Kleid,
mit einem Spitzenüberwurf um die Schultern, einem dunklen Häubchen
über dem wahrscheinlich unfrisierten und bloß aufgehäuften
Haar, dessen Enden lose hie und da hervorsahen. In der Hand hielt sie
einen kleinen ausgespannten Fächer, bewegte ihn aber nicht, sondern
drückte ihn eng an sich.
Karl schob
sich dem Geländer entlang zur Seite, um den beiden Platz zu machen.
Gewiss würde ihn niemand zum Hierbleiben zwingen, und wenn es auch
Delamarche versuchen wollte, Brunelda würde ihn auf seine Bitte
sofort entlassen. Sie konnte ihn ja gar nicht leiden, seine Augen erschreckten
sie. Aber als er einen Schritt zur Tür hin machte, hatte sie es
doch bemerkt und sagte: »Wohin denn, Kleiner?« Karl stockte vor den
strengen Blicken Delamarches, und Brunelda zog ihn zu sich. »Willst
du dir denn nicht den Aufzug unten ansehen?« sagte sie und schob ihn
vor sich an das Geländer. »Weißt du, worum es sich handelt?«
hörte Karl sie hinter sich sagen und machte ohne Erfolg eine unwillkürliche
Bewegung, um sich ihrem Druck zu entziehen. Traurig sah er auf die Gasse
hinunter, als sei dort der Grund seiner Traurigkeit.
Delamarche
stand zuerst mit gekreuzten Armen hinter Brunelda, dann lief er ins
Zimmer und brachte Brunelda den Operngucker. Unten war hinter den Musikanten
der Hauptteil des Aufzuges erschienen. Auf den Schultern eines riesenhaften
Mannes saß ein Herr, von dem man in dieser Höhe nichts anderes
sah als seine mattschimmernde Glatze, über der er seinen Zylinderhut
ständig grüßend hoch erhoben hielt. Rings um ihn wurden
offenbar Holztafeln getragen, die, vom Balkon aus gesehen, ganz weiß
erschienen; die Anordnung war derartig getroffen, dass diese Plakate
von allen Seiten sich förmlich an den Herrn anlehnten, der aus
ihrer Mitte hervorragte. Da alles im Gange war, lockerte sich diese
Mauer von Plakaten immerfort und ordnete sich auch immerfort von neuem.
Im weiteren Umkreis war um den Herrn die ganze Breite der Gasse, wenn
auch, soweit man im Dunkel schätzen konnte, auf eine unbedeutende
Länge hin, von Anhängern des Herrn angefüllt, die sämtlich
in die Hände klatschten und wahrscheinlich den Namen des Herrn,
einen ganz kurzen, aber unverständlichen Namen, in einem getragenen
Gesange verkündeten. Einzelne, die geschickt in der Menge verteilt
waren, hatten Automobillaternen mit äußerst starkem Licht,
das sie die Häuser auf beiden Seiten der Straße langsam auf-
und abwärts führten. In Karls Höhe störte das Licht
nicht mehr, aber auf den unteren Balkonen sah man die Leute, die davon
bestrichen wurden, eiligst die Hände an die Augen führen.
Delamarche
erkundigte sich auf die Bitte Bruneldas bei den Leuten auf dem Nachbarbalkon,
was die Veranstaltung zu bedeuten habe. Karl war ein wenig neugierig,
ob und wie man ihm antworten würde. Und tatsächlich musste
Delamarche dreimal fragen, ohne eine Antwort zu bekommen. Er beugte
sich schon gefährlich über das Geländer, Brunelda stampfte
vor Ärger über die Nachbarn leicht auf, Karl fühlte ihre
Knie. Endlich kam doch irgendeine Antwort, aber gleichzeitig fingen
auf diesem Balkon, der gedrängt voll Menschen war, alle laut zu
lachen an. Daraufhin schrie Delamarche etwas hinüber, so laut,
dass, wenn nicht augenblicklich in der ganzen Gasse viel Lärm gewesen
wäre, alles ringsum erstaunt hätte aufhorchen müssen.
Jedenfalls hatte es die Wirkung, dass das Lachen unnatürlich bald
sich legte.
»Es wird
morgen ein Richter in unserem Bezirk gewählt und der, den sie unten
tragen, ist ein Kandidat«, sagte Delamarche, vollkommen ruhig zu Brunelda
zurückkehrend. »Nein!« rief er dann und klopfte liebkosend Brunelda
auf den Rücken. »Wir wissen schon gar nicht mehr, was in der Welt
vorgeht.«
»Delamarche«,
sagte Brunelda, auf das Benehmen der Nachbarn zurückkommend, »wie
gern wollte ich übersiedeln, wenn es nicht so anstrengend wäre!
Ich darf es mir aber leider nicht zumuten.« Und unter großen Seufzern,
unruhig und zerstreut, nestelte sie an Karls Hemd, der möglichst
unauffällig immer wieder diese kleinen, fetten Händchen wegzuschieben
suchte, was ihm auch leicht gelang, denn Brunelda dachte nicht an ihn,
sie war mit ganz anderen Gedanken beschäftigt.
Aber auch
Karl vergaß bald Brunelda und duldete die Last ihrer Arme auf
seinen Achseln, denn die Vorgänge auf der Straße nahmen ihn
sehr in Anspruch. Auf Anordnung einer kleinen Gruppe gestikulierender
Männer, die knapp vor dem Kandidaten marschierten und deren Unterhaltungen
eine besondere Bedeutung haben mussten, denn von allen Seiten sah man
lauschende Gesichter sich ihnen zuneigen, wurde unerwarteterweise vor
dem Gasthaus Halt gemacht. Einer dieser maßgebenden Männer
machte mit erhobener Hand ein Zeichen, das sowohl der Menge als auch
dem Kandidaten galt. Die Menge verstummte, und der Kandidat, der sich
auf den Schultern seines Trägers mehrfach aufzustellen suchte und
mehrmals in den Sitz zurückfiel, hielt eine kleine Rede, während
welcher er seinen Zylinder in Windeseile hin und her fahren ließ.
Man sah das ganz deutlich, denn während seiner Rede waren alle
Automobillaternen auf ihn gerichtet worden, sodass er in der Mitte eines
hellen Sternes sich befand.
Nun erkannte
man aber auch schon das Interesse, welches die ganze Straße an
der Angelegenheit nahm. Auf den Balkonen, die von Parteigängern
des Kandidaten besetzt waren, fiel man mit in das Singen seines Namens
ein und ließ die weit über das Geländer vorgestreckten
Hände maschinenmäßig klatschen. Auf den übrigen
Balkonen, die sogar in der Mehrzahl waren, erhob sich ein starker Gegengesang,
der allerdings keine einheitliche Wirkung hatte, da es sich um die Anhänger
verschiedener Kandidaten handelte. Dagegen verbanden sich weiterhin
alle Feinde des anwesenden Kandidaten zu einem allgemeinen Pfeifen,
und sogar Grammofone wurden vielfach wieder in Gang gesetzt. Zwischen
den einzelnen Balkonen wurden politische Streitigkeiten mit einer durch
die nächtliche Stunde verstärkten Erregung ausgetragen. Die
meisten waren schon in Nachtkleidern und hatten nur Überröcke
umgeworfen, die Frauen hüllten sich in große, dunkle Tücher,
die unbeachteten Kinder kletterten beängstigend auf den Einfassungen
der Balkone umher und kamen in immer größerer Zahl aus den
dunklen Zimmern, in denen sie schon geschlafen hatten, hervor. Hie und
da wurden einzelne unkenntliche Gegenstände von besonders erhitzten
in der Richtung ihrer Gegner geschleudert, manchmal gelangten sie an
ihr Ziel, meist aber fielen sie auf die Straße hinab, wo sie oft
ein Wutgeheul hervorriefen. Wurde den führenden Männern unten
der Lärm zu arg, so erhielten die Trommler und Trompeter den Auftrag
einzugreifen, und ihr schmetterndes, mit ganzer Kraft ausgeführtes,
nicht enden wollendes Signal unterdrückte alle menschlichen Stimmen
bis zu den Dächern der Häuser hinauf. Und immer, ganz plötzlich
man glaubte es kaum , hörten sie auf, worauf die hierfür
offenbar eingeübte Menge auf der Straße in die für einen
Augenblick eingetretene allgemeine Stille ihren Parteigesang emporbrüllte
man sah im Lichte der Automobillaternen den Mund jedes Einzelnen
weit geöffnet , bis dann die inzwischen zur Besinnung gekommenen
Gegner zehnmal so stark wie früher aus allen Balkonen und Fenstern
hervorschrien und die Partei unten nach ihrem kurzen Sieg zu einem für
diese Höhe wenigstens gänzlichen Verstummen brachten.
»Wie gefällt
es dir, Kleiner?« fragte Brunelda, die sich eng hinter Karl hin und
her drehte, um mit dem Gucker möglichst alles zu übersehen.
Karl antwortete nur durch Kopfnicken. Nebenbei bemerkte er, wie Robinson
dem Delamarche eifrig verschiedene Mitteilungen offenbar über Karls
Verhalten machte, denen aber Delamarche keine Bedeutung beizumessen
schien, denn er suchte Robinson mit der Linken, mit der Rechten hatte
er Brunelda umfasst, immerfort beiseitezuschieben. »Willst du nicht
durch den Gucker schauen?« fragte Brunelda und klopfte auf Karls Brust,
um zu zeigen, dass sie ihn meine.
»Ich sehe
genug«, sagte Karl.
»Versuch
es doch«, sagte sie, »du wirst besser sehen.«
»Ich habe
gute Augen«, antwortete Karl, »ich sehe alles.« Er empfand es nicht
als Liebenswürdigkeit, sondern als Störung, als sie den Gucker
seinen Augen näherte, und tatsächlich sagte sie nun nichts
als das eine Wort »du!« melodisch, aber drohend. Und schon hatte Karl
den Gucker an seinen Augen und sah nun tatsächlich nichts.
»Ich sehe
ja nichts«, sagte er und wollte den Gucker loswerden, aber den Gucker
hielt sie fest, und den auf ihrer Brust eingebetteten Kopf konnte er
weder zurück noch seitwärts schieben.
»Jetzt
siehst du aber schon«, sagte sie und drehte an der Schraube des Guckers.
»Nein,
ich sehe noch immer nichts«, sagte Karl und dachte daran, dass er Robinson
ohne seinen Willen nun tatsächlich entlastet habe, denn Bruneldas
unerträgliche Launen wurden nun an ihm ausgelassen.
»Wann wirst
du denn endlich sehen?« sagte sie und drehte Karl hatte nun sein
ganzes Gesicht in ihrem schweren Atem weiter an der Schraube.
»Jetzt?« fragte sie.
»Nein,
nein, nein!« rief Karl, obwohl er nun tatsächlich, wenn auch nur
sehr undeutlich, alles unterscheiden konnte. Aber gerade hatte Brunelda
irgendetwas mit Delamarche zu tun, sie hielt den Gucker nur lose vor
Karls Gesicht, und Karl konnte, ohne dass sie es besonders beachtete,
unter dem Gucker hinweg auf die Straße sehen. Später bestand
sie auch nicht mehr auf ihrem Willen und benützte den Gucker für
sich.
Aus dem
Gasthaus unten war ein Kellner getreten, und aus der Türschwelle
hin und her eilend, nahm er die Bestellungen der Führer entgegen.
Man sah, wie er sich streckte, um das Innere des Lokals zu übersehen
und möglichst viel Bedienung herbeizurufen. Während dieser
offenbar einem großen Freitrinken dienenden Vorbereitungen ließ
der Kandidat nicht vom Reden ab. Sein Träger, der riesige, nur
ihm dienende Mann, machte immer nach einigen Sätzen eine kleine
Drehung, um die Rede allen Teilen der Menge zukommen zu lassen. Der
Kandidat hielt sich meist ganz zusammengekrümmt und versuchte mit
ruckweisen Bewegungen der einen freien Hand und des Zylinders in der
anderen seinen Worten möglichste Eindringlichkeit zu geben. Manchmal
aber, in fast regelmäßigen Zwischenräumen, durchfuhr
es ihn, er erhob sich mit ausgebreiteten Armen, er redete nicht mehr
eine Gruppe, sondern die Gesamtheit an, er sprach zu den Bewohnern der
Häuser bis zu den höchsten Stockwerken hinauf, und doch war
es vollkommen klar, dass ihn schon in den untersten Stockwerken niemand
hören konnte; ja, dass ihm auch, wenn die Möglichkeit gewesen
wäre, niemand hätte zuhören wollen, denn jedes Fenster
und jeder Balkon war doch zumindest von einem schreienden Redner besetzt.
Inzwischen brachten einige Kellner aus dem Gasthaus ein mit gefüllten
leuchtenden Gläsern besetztes Brett, im Umfang eines Billards,
hervor. Die Führer organisierten die Verteilung, die in Form eines
Vorbeimarsches an der Gasthaustür erfolgte. Aber obwohl die Gläser
auf dem Brett immer wieder nachgefüllt wurden, genügten sie
für die Menge nicht, und zwei Reihen von Schankburschen mussten
rechts und links vom Brett durchschlüpfen und die Menge weiterhin
versorgen. Der Kandidat hatte natürlich mit dem Reden aufgehört
und benützte die Pause, um sich neu zu kräftigen. Abseits
von der Menge und dem grellen Licht trug ihn sein Träger langsam
hin und her, und nur einige seiner nächsten Anhänger begleiteten
ihn dort und sprachen zu ihm hinauf.
»Sieh mal
den Kleinen«, sagte Brunelda, »er vergisst vor lauter Schauen, wo er
ist.« Und sie überraschte Karl und drehte mit beiden Händen
sein Gesicht sich zu, sodass sie ihm in die Augen sah. Es dauerte aber
nur einen Augenblick, denn Karl schüttelte gleich ihre Hände
ab, und ärgerlich darüber, dass man ihn nicht ein Weilchen
in Ruhe ließ, und gleichzeitig voll Lust, auf die Straße
zu gehen und alles von der Nähe anzusehen, suchte er sich nun mit
aller Kraft vom Druck Bruneldas zu befreien und sagte:
»Bitte,
lassen Sie mich weg.«
»Du wirst
bei uns bleiben«, sagte Delamarche, ohne den Blick von der Straße
zu wenden, und streckte nur eine Hand aus, um Karl am Weggehen zu verhindern.
»Lass nur«,
sagte Brunelda und wehrte die Hand des Delamarche ab, »er bleibt ja
schon.« Und sie drückte Karl noch fester ans Geländer, er
hätte mit ihr raufen müssen, um sich von ihr zu befreien.
Und wenn ihm das auch gelungen wäre, was hätte er damit erreicht!
Links von ihm stand Delamarche, rechts hatte sich nun Robinson aufgestellt,
er war in einer regelrechten Gefangenschaft.
»Sei froh,
dass man dich nicht hinauswirft«, sagte Robinson und beklopfte Karl
mit der Hand, die er unter Bruneldas Arm durchgezogen hatte.
»Hinauswirft?«
sagte Delamarche. »Einen entlaufenen Dieb wirft man nicht hinaus, den
übergibt man der Polizei. Und das kann ihm gleich morgen früh
geschehen, wenn er nicht ganz ruhig ist.«
Von diesem
Augenblick an hatte Karl an dem Schauspiel unten keine Freude mehr.
Nur gezwungen, weil er Bruneldas wegen sich nicht aufrichten konnte,
beugte er sich ein wenig über das Geländer. Voll eigener Sorgen,
mit zerstreuten Blicken sah er die Leute unten an, die in Gruppen von
etwa zwanzig Mann vor die Gasthaustüre traten, die Gläser
ergriffen, sich umdrehten und diese Gläser in der Richtung gegen
den jetzt mit sich beschäftigten Kandidaten schwenkten, einen Parteigruß
ausriefen, die Gläser leerten und sie, jedenfalls dröhnend,
in dieser Höhe aber unhörbar, auf das Brett wieder niedersetzten,
um einer neuen, vor Ungeduld lärmenden Gruppe Platz zu machen.
Über Auftrag der Führer war die Kapelle, die bisher im Gasthaus
gespielt hatte, auf die Gasse getreten, ihre großen Blasinstrumente
strahlten aus der dunklen Menge, aber ihr Spiel verging fast im allgemeinen
Lärm. Die Straße war nun, wenigstens auf der Seite, wo sich
das Gasthaus befand, weithin mit Menschen angefüllt. Von oben,
woher Karl am Morgen im Automobil gekommen war, strömten sie herab,
von unten, von der Brücke her, liefen sie herauf, und selbst die
Leute in den Häusern hatten der Verlockung nicht widerstehen können,
in diese Angelegenheit mit eigenen Händen einzugreifen, auf den
Balkonen und in den Fenstern waren fast nur Frauen und Kinder zurückgeblieben,
während die Männer unten aus den Haustoren drängten.
Nun aber hatte die Musik und die Bewirtung ihren Zweck erreicht, die
Versammlung war genügend groß, ein von zwei Automobillaternen
flankierter Führer winkte der Musik ab, stieß einen starken
Pfiff aus, und nun sah man den ein wenig abgeirrten Träger mit
dem Kandidaten durch einen von Anhängern gebahnten Weg eiligst
herbeikommen.
Kaum war
er bei der Gasthaustüre, begann der Kandidat im Schein der nun
im engen Kreis um ihn gehaltenen Automobillaternen seine neue Rede.
Aber nun war alles viel schwieriger als früher, der Träger
hatte nicht die geringste Bewegungsfreiheit mehr, das Gedränge
war zu groß. Die nächsten Anhänger, die früher
mit allen möglichen Mitteln die Wirkung der Reden des Kandidaten
zu verstärken versucht hatten, hatten nun Mühe, sich in seiner
Nähe zu erhalten, wohl zwanzig hielten sich mit aller Anstrengung
am Träger fest. Aber selbst dieser starke Mann konnte keinen Schritt
nach seinem Willen mehr machen, an eine Einflussnahme auf die Menge
durch bestimmte Wendungen oder durch passendes Vorrücken oder Zurückweichen
war nicht mehr zu denken. Die Menge flutete ohne Plan, einer lag am
anderen, keiner stand mehr aufrecht, die Gegner schienen sich durch
neues Publikum sehr vermehrt zu haben, der Träger hatte sich lange
in der Nähe der Gasthaustüre gehalten, nun aber ließ
er sich, scheinbar ohne Widerstand, die Gasse auf- und abwärts
treiben, der Kandidat redete immerfort, aber es war nicht mehr ganz
klar, ob er sein Programm auseinanderlegte oder um Hilfe rief; wenn
nicht alles täuschte, hatte sich auch ein Gegenkandidat eingefunden
oder gar mehrere, denn hie und da sah man in irgendeinem plötzlich
aufflammenden Licht einen von der Menge emporgehobenen Mann mit bleichem
Gesicht und geballten Fäusten eine von vielstimmigen Rufen begrüßte
Rede halten.
»Was geschieht
denn da?« fragte Karl und wandte sich in atemloser Verwirrung an seine
Wächter.
»Wie es
den Kleinen aufregt!« sagte Brunelda zu Delamarche und fasste Karl am
Kinn, um seinen Kopf an sich zu ziehen. Aber das hatte Karl nicht wollen
und er schüttelte sich, durch die Vorgänge auf der Straße
förmlich rücksichtslos gemacht, so stark, dass Brunelda ihn
nicht nur losließ, sondern zurückwich und ihn gänzlich
freigab. »Jetzt hast du genug gesehen«, sagte sie, offenbar durch Karls
Benehmen böse gemacht, »geh ins Zimmer, bette auf und bereite alles
für die Nacht vor.« Sie streckte die Hand nach dem Zimmer aus.
Das war ja die Richtung, die Karl schon seit einigen Stunden nehmen
wollte, er widersprach mit keinem Wort. Da hörte man von der Gasse
her das Krachen von viel zersplitterndem Glas. Karl konnte sich nicht
bezwingen und sprang noch rasch zum Geländer, um flüchtig
noch einmal hinunterzuschauen. Ein Anschlag der Gegner, und vielleicht
ein entscheidender, war geglückt, die Automobillaternen der Anhänger,
die mit ihrem starken Licht wenigstens die Hauptvorgänge vor der
gesamten Öffentlichkeit geschehen ließen und dadurch alles
in gewissen Grenzen gehalten hatten, waren sämtlich und gleichzeitig
zerschmettert worden, den Kandidaten und seinen Träger umfing nun
die gemeinsame unsichere Beleuchtung, die in ihrer plötzlichen
Ausbreitung wie völlige Finsternis wirkte. Auch nicht beiläufig
hätte man jetzt angeben können, wo sich der Kandidat befand,
und das Täuschende des Dunkels wurde noch vermehrt durch einen
gerade einsetzenden, breiten, einheitlichen Gesang, der von unten, von
der Brücke her sich näherte.
»Habe ich
dir nicht gesagt, was du jetzt zu tun hast!« sagte Brunelda. »Beeile
dich. Ich bin müde«, fügte sie hinzu und streckte dann die
Arme in die Höhe, sodass sich ihre Brust noch viel mehr wölbte
als gewöhnlich. Delamarche, der sie noch immer umfasst hielt, zog
sie mit sich in eine Ecke des Balkons. Robinson ging ihnen nach, um
die Überbleibsel seines Essens, die noch dort lagen, beiseitezuschieben.
Diese günstige
Gelegenheit musste Karl ausnützen, jetzt war keine Zeit hinunterzuschauen,
von den Vorgängen auf der Straße würde er unten noch
genug sehen, und mehr als von hier oben. In zwei Sprüngen eilte
er durch das rötlich beleuchtete Zimmer, aber die Tür war
verschlossen und der Schlüssel abgezogen. Der musste jetzt gefunden
werden, aber wer wollte in dieser Unordnung einen Schlüssel finden
und gar in der kurzen, kostbaren Zeit, die Karl zur Verfügung stand!
Jetzt hätte er schon eigentlich auf der Treppe sein, hätte
laufen und laufen sollen. Und nun suchte er den Schlüssel! Suchte
ihn in allen zugänglichen Schubladen, stöberte auf dem Tisch
herum, wo verschiedenes Essgeschirr, Servietten und irgendeine angefangene
Stickerei herumlagen, wurde durch einen Lehnstuhl angelockt, auf dem
ein ganz verfitzter Haufen alter Kleidungsstücke sich befand, in
denen der Schlüssel sich möglicherweise befinden, aber niemals
aufgefunden werden konnte, und warf sich schließlich auf das tatsächlich
übel riechende Kanapee, um in allen Ecken und Falten nach dem Schlüssel
zu tasten. Dann ließ er vom Suchen ab und stockte in der Mitte
des Zimmers. Gewiss hatte Brunelda den Schlüssel an ihrem Gürtel
befestigt, sagte er sich, dort hingen ja so viele Sachen, alles Suchen
war umsonst.
Und blindlings
ergriff Karl zwei Messer und bohrte sie zwischen die Türflügel,
eines oben, eines unten, um zwei voneinander entfernte Angriffspunkte
zu erhalten. Kaum hatte er an den Messern gezogen, brachen natürlich
die Klingen entzwei. Er hatte nichts anderes wollen, die Stümpfe,
die er nun fester einbohren konnte, würden desto besser halten.
Und nun zog er mit aller Kraft, die Arme weit ausgebreitet, die Beine
weit auseinander gestemmt, stöhnend und dabei genau auf die Tür
aufpassend. Sie würde nicht auf die Dauer widerstehen können,
das erkannte er mit Freuden aus dem deutlich hörbaren Sichlockern
der Riegel, je langsamer es aber ging, desto richtiger war es, aufspringen
durfte ja das Schloss gar nicht, sonst würde man ja auf dem Balkon
aufmerksam werden, das Schloss musste sich vielmehr ganz langsam voneinanderlösen,
und darauf arbeitete Karl mit größter Vorsicht hin, die Augen
immer mehr dem Schlosse nähernd.
»Seht einmal«,
hörte er da die Stimme des Delamarche. Alle drei standen im Zimmer,
der Vorhang war hinter ihnen schon zugezogen, Karl musste ihr Kommen
überhört haben, die Hände sanken ihm bei dem Anblick
von den Messern herab. Aber er hatte gar nicht Zeit, irgendein Wort
zur Erklärung oder Entschuldigung zu sagen, denn in einem weit
über die augenblickliche Gelegenheit hinausgehenden Wutanfall sprang
Delamarche sein gelöstes Schlafrockseil beschrieb eine große
Figur in der Luft auf Karl los. Karl wich noch im letzten Augenblick
dem Angriff aus, er hätte die Messer aus der Tür ziehen und
zur Verteidigung benützen können, aber das tat er nicht, dagegen
griff er, sich bückend und aufspringend, nach dem breiten Schlafrockkragen
des Delamarche, schlug ihn in die Höhe, zog ihn dann noch weiter
hinauf der Schlafrock war ja für Delamarche viel zu groß
und hielt nun glücklich den Delamarche beim Kopf, der, allzu
sehr überrascht, zuerst blind mit den Händen fuchtelte und
erst nach einem Weilchen, aber noch nicht mit ganzer Wirkung mit den
Fäusten auf Karls Rücken schlug, der sich, um sein Gesicht
zu schützen, an die Brust des Delamarche geworfen hatte. Die Faustschläge
ertrug Karl, wenn er sich auch vor Schmerzen wand und wenn auch die
Schläge immer stärker wurden, aber wie hätte er das nicht
ertragen sollen, vor sich sah er ja den Sieg. Die Hände am Kopf
des Delamarche, die Daumen wohl gerade über seinen Augen, führte
er ihn vor sich her gegen das ärgste Möbeldurcheinander und
versuchte überdies, mit den Fußspitzen das Schlafrockseil
um die Füße des Delamarche zu schlingen, um ihn auch so zu
Fall zu bringen.
Da er sich
aber ganz und gar mit Delamarche beschäftigen musste, zumal er
dessen Widerstand immer mehr wachsen fühlte und immer sehniger
dieser feindliche Körper sich ihm entgegenstemmte, vergaß
er tatsächlich, dass er nicht mit Delamarche allein war. Aber nur
allzu bald wurde er daran erinnert, denn plötzlich versagten seine
Füße, die Robinson, der sich hinter ihm auf den Boden geworfen
hatte, schreiend auseinander presste. Seufzend ließ Karl von Delamarche
ab, der noch einen Schritt zurückwich. Brunelda stand mit weit
auseinander gestellten Beinen und gebeugten Knien in ihrer ganzen Breite
in der Zimmermitte und verfolgte die Vorgänge mit leuchtenden Augen.
Als beteilige sie sich tatsächlich an dem Kampf, atmete sie tief,
visierte mit den Augen und ließ ihre Fäuste langsam vorrücken.
Delamarche schlug seinen Kragen nieder, hatte nun wieder freien Blick,
und nun gab es natürlich keinen Kampf mehr, sondern bloß
eine Bestrafung. Er fasste Karl vorn beim Hemd, hob ihn fast vom Boden
und schleuderte ihn, vor Verachtung sah er ihn gar nicht an, so gewaltig
gegen einen ein paar Schritte entfernten Schrank, dass Karl im ersten
Augenblick meinte, die stechenden Schmerzen im Rücken und am Kopf,
die ihm das Aufschlagen am Kasten verursachte, stammten unmittelbar
von der Hand des Delamarche. »du Halunke!« hörte er den Delamarche
in dem Dunkel, das vor seinen zitternden Augen entstand, noch laut ausrufen.
Und in der ersten Erschöpfung, in der er vor dem Kasten zusammensank,
klangen ihm die Worte »Warte nur!« noch schwach in den Ohren nach.
Als er
zur Besinnung kam, war es um ihn ganz finster, es mochte noch spät
in der Nacht sein, vom Balkon her drang unter dem Vorhang ein leichter
Schimmer des Mondlichts in das Zimmer. Man hörte die ruhigen Atemzüge
der drei Schläfer, die bei weitem lautesten stammten von Brunelda,
sie schnaufte im Schlaf, wie sie es bisweilen beim Reden tat; es war
aber nicht leicht festzustellen, in welcher Richtung die einzelnen Schläfer
sich befanden, das ganze Zimmer war von dem Rauschen ihres Atems voll.
Erst nachdem er seine Umgebung ein wenig geprüft hatte, dachte
Karl an sich, und da erschrak er sehr, denn wenn er sich auch ganz krumm
und steif von Schmerzen fühlte, so hatte er doch nicht daran gedacht,
dass er eine schwere blutige Verletzung erlitten haben könnte.
Nun aber hatte er eine Last auf dem Kopf, und das ganze Gesicht, der
Hals, die Brust unter dem Hemd waren feucht wie von Blut. Er musste
ans Licht, um seinen Zustand genau festzustellen, vielleicht hatte man
ihn zum Krüppel geschlagen, dann würde ihn Delamarche wohl
gerne entlassen, aber was sollte er dann anfangen, dann gab es wirklich
keine Aussichten mehr für ihn. Der Bursche mit der zerfressenen
Nase im Torweg fiel ihm ein, und er legte einen Augenblick lang das
Gesicht in seine Hände.
Unwillkürlich
wandte er sich dann der Tür zu und tastete sich auf allen vieren
hin. Bald erfühlte er mit den Fingerspitzen einen Stiefel und weiterhin
ein Bein. Das war Robinson, wer schlief sonst in Stiefeln? Man hatte
ihm befohlen, sich quer vor die Tür zu legen, um Karl an der Flucht
zu hindern. Aber kannte man denn Karls Zustand nicht? Vorläufig
wollte er gar nicht entfliehen, er wollte nur ans Licht kommen. Konnte
er also nicht zur Tür hinaus, so musste er auf den Balkon.
Den Esstisch
fand er an einer offenbar ganz anderen Stelle als am Abend, das Kanapee,
dem sich Karl natürlich sehr vorsichtig näherte, war überraschenderweise
leer, dagegen stieß er in der Zimmermitte aufhochgeschichtete,
wenn auch stark gepresste Kleider, Decken, Vorhänge, Polster und
Teppiche. Zuerst dachte er, es sei nur ein kleiner Haufen, ähnlich
dem, den er am Abend auf dem Sofa gefunden hatte und der etwa auf die
Erde gerollt war, aber zu seinem Staunen bemerkte er beim Weiterkriechen,
dass da eine ganze Wagenladung solcher Sachen lag, die man wahrscheinlich
für die Nacht aus dem Kasten herausgenommen hatte, wo sie während
des Tages aufbewahrt wurden. Er umkroch den Haufen und erkannte bald,
dass das Ganze eine Art Bettlager darstellte, auf dem hoch oben, wie
er sich durch vorsichtiges Tasten überzeugte, Delamarche und Brunelda
ruhten.
Jetzt wusste
er also, wo alle schliefen, und beeilte sich nun, auf den Balkon zu
kommen. Es war eine ganz andere Welt, in der er sich nun, außerhalb
des Vorhangs, schnell erhob. In der frischen Nachtluft, im vollen Schein
des Mondes ging er einigemal auf dem Balkon auf und ab. Er sah auf die
Straße, sie war ganz still, aus dem Gasthaus klang noch die Musik,
aber nur gedämpft, hervor, vor der Tür kehrte ein Mann das
Trottoir, in der Gasse, in der am Abend innerhalb des wüsten allgemeinen
Lärms das Schreien eines Wahlkandidaten von tausend anderen Stimmen
nicht hatte unterschieden werden können, hörte man nun deutlich
das Kratzen des Besens auf dem Pflaster.
Das Rücken
eines Tisches auf dem Nachbarbalkon machte Karl aufmerksam, dort saß
ja jemand und studierte. Es war ein junger Mann mit einem kleinen Spitzbart,
an dem er beim Lesen, das er mit raschen Lippenbewegungen begleitete,
ständig drehte. Er saß, das Gesicht Karl zugewendet, an einem
kleinen, mit Büchern bedeckten Tisch, die Glühlampe hatte
er von der Mauer abgenommen, zwischen zwei große Bücher geklemmt,
und war nun von ihrem grellen Licht ganz überleuchtet.
»Guten
Abend«, sagte Karl, da er bemerkt zu haben glaubte, dass der junge Mann
zu ihm herübergeschaut hätte.
Aber das
musste wohl ein Irrtum gewesen sein, denn der junge Mann schien ihn
überhaupt noch nicht bemerkt zu haben, legte die Hand über
die Augen, um das Licht abzublenden und festzustellen, wer da plötzlich
grüßte, und hob dann, da er noch immer nichts sah, die Glühlampe
hoch, um mit ihr auch den Nachbarbalkon ein wenig zu beleuchten.
»Guten
Abend«, sagte dann auch er, blickte einen Augenblick lang scharf hinüber
und fügte dann hinzu: »Und was weiter?«
»Ich störe
Sie?« fragte Karl.
»Gewiss,
gewiss«, sagte der Mann und brachte die Glühlampe wieder an ihren
früheren Ort.
Mit diesen
Worten war allerdings jede Anknüpfung abgelehnt, aber Karl verließ
trotzdem die Balkonecke, in der er dem Manne am nächsten war, nicht.
Stumm sah er zu, wie der Mann in seinem Buche las, die Blätter
wendete, hie und da in einem anderen Buche, das er immer mit Blitzesschnelle
ergriff, irgendetwas nachschlug und öfters Notizen in ein Heft
eintrug, wobei er immer überraschend tief das Gesicht zu dem Hefte
senkte.
Ob dieser
Mann vielleicht ein Student war? Es sah ganz so aus, als ob er studierte.
Nicht viel anders jetzt war es schon lange her war Karl
zu Hause am Tisch der Eltern gesessen und hatte seine Aufgaben geschrieben,
während der Vater die Zeitung las oder Bucheintragungen und Korrespondenzen
für einen Verein erledigte und die Mutter mit einer Näharbeit
beschäftigt war und hoch den Faden aus dem Stoffe zog. Um den Vater
nicht zu belästigen, hatte Karl nur das Heft und das Schreibzeug
auf den Tisch gelegt, während er die nötigen Bücher rechts
und links von sich auf Sesseln angeordnet hatte. Wie still war es dort
gewesen! Wie selten waren fremde Leute in jenes Zimmer gekommen! Schon
als kleines Kind hatte Karl immer gerne zugesehen, wenn die Mutter gegen
Abend die Wohnungstür mit dem Schlüssel absperrte. Sie hatte
keine Ahnung davon, dass es jetzt mit Karl so weit gekommen war, dass
er fremde Türen mit Messern aufzubrechen suchte.
Und welchen
Zweck hatte sein ganzes Studium gehabt! Er hatte ja alles vergessen;
wenn es darauf angekommen wäre, hier sein Studium fortzusetzen,
es wäre ihm sehr schwer geworden. Er erinnerte sich daran, dass
er zu Hause einmal einen Monat lang krank gewesen war; welche Mühe
hatte es ihn damals gekostet, sich nachher wieder in dem unterbrochenen
Lernen zurechtzufinden! Und nun hatte er außer dem Lehrbuch der
englischen Handelskorrespondenz schon so lange kein Buch gelesen.
»Sie, junger
Mann«, hörte sich Karl plötzlich angesprochen, »könnten
Sie sich nicht anderswo aufstellen? Ihr Herüberstarren stört
mich schrecklich. Um zwei Uhr in der Nacht kann man doch schließlich
verlangen, auf dem Balkon ungestört arbeiten zu können. Wollen
Sie denn etwas von mir?«
»Sie studieren?«
fragte Karl.
»Ja, ja«,
sagte der Mann und benützte dieses für das Lernen verlorene
Weilchen, um unter seinen Büchern eine neue Ordnung einzurichten.
»Dann will
ich Sie nicht stören«, sagte Karl, »ich gehe überhaupt schon
ins Zimmer zurück. Gute Nacht.«
Der Mann
gab nicht einmal eine Antwort, mit einem plötzlichen Entschlusse
hatte er sich nach Beseitigung dieser Störung wieder ans Studieren
gemacht und stützte die Stirn schwer in die rechte Hand.
Da erinnerte
sich Karl knapp vor dem Vorhang daran, warum er eigentlich herausgekommen
war, er wusste ja noch gar nicht, wie es mit ihm stand. Was lastete
nur so auf seinem Kopf? Er griff hinauf und staunte, da war keine blutige
Verletzung, wie er im Dunkel des Zimmers gefürchtet hatte, es war
nur ein noch immer feuchter, turbanartiger Verband. Er war, nach den
noch hie und da hängenden Spitzenüberresten zu schließen,
aus einem alten Wäschestück Bruneldas gerissen, und Robinson
hatte ihn wohl flüchtig Karl um den Kopf gewickelt. Nur hatte er
vergessen, ihn auszuwinden, und so war während Karls Bewusstlosigkeit
das viele Wasser das Gesicht hinab- und unter das Hemd geronnen und
hatte Karl solchen Schrecken eingejagt.
»Sie sind
wohl noch immer da?« fragte der Mann und blinzelte hinüber.
»Jetzt
gehe ich aber wirklich schon«, sagte Karl, »ich wollte hier nur etwas
anschauen, im Zimmer ist es ganz finster.«
»Wer sind
Sie denn?« sagte der Mann, legte den Federhalter in das vor ihm geöffnete
Buch und trat an das Geländer. »Wie heißen Sie? Wie kommen
Sie zu den Leuten? Sind Sie schon lange hier? Was wollen Sie denn anschauen?
Drehen Sie doch Ihre Glühlampe dort auf, damit man Sie sehen kann.«
Karl tat
dies, zog aber, ehe er antwortete, noch den Vorhang der Tür fester
zu, damit man im Innern nichts merken konnte. »Verzeihen Sie«, sagte
er dann im Flüsterton, »dass ich so leise rede. Wenn mich die drinnen
hören, habe ich wieder einen Krawall.«
»Wieder?«
fragte der Mann.
»Ja«, sagte
Karl, »ich habe ja erst abends einen großen Streit mit ihnen gehabt.
Ich muss da noch eine fürchterliche Beule haben.« Und er tastete
hinten seinen Kopf ab.
»Was war
denn das für ein Streit?« fragte der Mann und fügte, da Karl
nicht gleich antwortete, hinzu: »Mir können Sie ruhig alles anvertrauen,
was Sie gegen diese Herrschaften auf dem Herzen haben. Ich hasse sie
nämlich alle drei, und ganz besonders Ihre Madame. Es sollte mich
übrigens wundern, wenn man Sie nicht schon gegen mich gehetzt hätte.
Ich heiße Josef Mendel und bin Student.«
»Ja«, sagte
Karl, »erzählt hat man mir schon von Ihnen, aber nichts Schlimmes.
Sie haben wohl einmal Frau Brunelda behandelt, nicht wahr?«
»Das stimmt«,
sagte der Student und lachte. »Riecht das Kanapee noch danach?«
»O ja«,
sagte Karl.
»Das freut
mich aber«, sagte der Student und fuhr mit der Hand durchs Haar. »Und
warum macht man Ihnen Beulen?«
»Es war
ein Streit«, sagte Karl im Nachdenken darüber, wie er es dem Studenten
erklären sollte. Dann aber unterbrach er sich und sagte: »Störe
ich Sie denn nicht?«
»Erstens«,
sagte der Student, »haben Sie mich schon gestört, und ich bin leider
so nervös, dass ich lange Zeit brauche, um mich wieder zurechtzufinden.
Seit Sie da Ihre Spaziergänge auf dem Balkon angefangen haben,
komme ich mit dem Studieren nicht vorwärts. Zweitens aber mache
ich um drei Uhr immer eine Pause. Erzählen Sie also nur ruhig.
Es interessiert mich auch.«
»Es ist
ganz einfach«, sagte Karl. »Delamarche will, dass ich bei ihm Diener
werde. Aber ich will nicht. Ich wäre am liebsten noch gleich abends
weggegangen. Er wollte mich nicht lassen, hat die Tür abgesperrt,
ich wollte sie aufbrechen, und dann kam es zu der Rauferei. Ich bin
unglücklich, dass ich noch hier bin.«
»Haben
Sie denn eine andere Stellung?« fragte der Student.
»Nein«,
sagte Karl, »aber daran liegt mir nichts, wenn ich nur von hier fort
wäre.«
»Hören
Sie einmal«, sagte der Student, »daran liegt Ihnen nichts?« Und beide
schwiegen ein Weilchen. »Warum wollen Sie denn bei den Leuten nicht
bleiben?« fragte dann der Student.
»Delamarche
ist ein schlechter Mensch«, sagte Karl, »ich kenne ihn schon von früher
her. Ich marschierte einmal einen Tag lang mit ihm und war froh, als
ich nicht mehr bei ihm war. Und jetzt soll ich Diener bei ihm werden?«
»Wenn alle
Diener bei der Auswahl ihrer Herrschaften so heikel sein wollten wie
Sie!« sagte der Student und schien zu lächeln. »Sehen Sie, ich
bin während des Tages Verkäufer, niedrigster Verkäufer,
eher schon Laufbursche im Warenhaus von Montly. Dieser Montly ist zweifellos
ein Schurke, aber das lässt mich ganz ruhig, wütend bin ich
nur, dass ich so elend bezahlt werde. Nehmen Sie sich also an mir ein
Beispiel.«
»Wie?«
sagte Karl, »Sie sind bei Tag Verkäufer und in der Nacht studieren
Sie?«
»Ja«, sagte
der Student, »es geht nicht anders. Ich habe schon alles Mögliche
versucht, aber diese Lebensweise ist noch die beste. Vor Jahren war
ich nur Student, bei Tag und Nacht, wissen Sie, nur bin ich dabei fast
verhungert, habe in einer schmutzigen alten Höhle geschlafen und
wagte mich in meinem damaligen Anzug nicht in die Hörsäle.
Aber das ist vorüber.«
»Aber wann
schlafen Sie?« fragte Karl und sah den Studenten verwundert an.
»Ja, schlafen!«
sagte der Student. »Schlafen werde ich, wenn ich mit meinem Studium
fertig bin. Vorläufig trinke ich schwarzen Kaffee.« Und er wandte
sich um, zog unter seinem Studiertisch eine große Flasche hervor,
goss aus ihr schwarzen Kaffee in ein Tässchen und schüttete
ihn in sich hinein, so wie man Medizinen eilig schluckt, um möglichst
wenig von ihrem Geschmack zu spüren.
»Eine feine
Sache, der schwarze Kaffee«, sagte der Student. »Schade, dass Sie so
weit sind, dass ich Ihnen nicht ein wenig hinüberreichen kann.«
»Mir schmeckt
schwarzer Kaffee nicht«, sagte Karl.
»Mir auch
nicht«, sagte der Student und lachte. »Aber was wollte ich ohne ihn
anfangen. Ohne den schwarzen Kaffee würde mich Montly keinen Augenblick
behalten. Ich sage immer Montly, obwohl der natürlich keine Ahnung
hat, dass ich auf der Welt bin. Ganz genau weiß ich nicht, wie
ich mich im Geschäft benehmen würde, wenn ich nicht dort im
Pult eine gleich große Flasche wie diese immer vorbereitet hätte,
denn ich habe noch nie gewagt, mit dem Kaffeetrinken auszusetzen, aber,
glauben Sie mir nur, ich würde bald hinter dem Pulte liegen und
schlafen. Leider ahnt man das, sie nennen mich dort den Schwarzen
Kaffee, was ein blödsinniger Witz ist und mir gewiss in meinem
Vorwärtskommen schon geschadet hat.«
»Und wann
werden Sie mit Ihrem Studium fertig werden?« fragte Karl.
»Es geht
langsam«, sagte der Student mit gesenktem Kopf. Er verließ das
Geländer und setzte sich wieder an den Tisch; die Ellbogen auf
das offene Buch aufgestützt, mit den Händen durch seine Haare
fahrend, sagte er dann: »Es kann noch ein bis zwei Jahre dauern.«
»Ich wollte
auch studieren«, sagte Karl, als gebe ihm dieser Umstand ein Anrecht
auf ein noch größeres Vertrauen, als es der jetzt verstummende
Student ihm gegenüber schon bewiesen hatte.
»So«, sagte
der Student, und es war nicht ganz klar, ob er in seinem Buche schon
wieder las oder nur zerstreut hineinstarrte, »seien Sie froh, dass Sie
das Studium aufgegeben haben. Ich selbst studiere schon seit Jahren
eigentlich nur aus Konsequenz. Befriedigung habe ich wenig davon und
Zukunftsaussichten noch weniger. Welche Aussichten wollte ich denn haben!
Amerika ist voll von Schwindeldoktoren.«
»Ich wollte
Ingenieur werden«, sagte Karl noch eilig zu dem scheinbar schon gänzlich
unaufmerksamen Studenten hinüber.
»Und jetzt
sollen Sie Diener bei diesen Leuten werden«, sagte der Student und sah
flüchtig auf, »das schmerzt Sie natürlich.«
Diese Schlussfolgerung
des Studenten war allerdings ein Missverständnis, aber vielleicht
konnte es Karl beim Studenten nützen. Er fragte deshalb: »Könnte
ich nicht vielleicht auch eine Stelle im Warenhaus bekommen?«
Diese Frage
riss den Studenten völlig von seinem Buche los; der Gedanke, dass
er Karl bei seiner Postenbewerbung behilflich sein könnte, kam
ihm gar nicht. »Versuchen Sie es«, sagte er, »oder versuchen Sie es
lieber nicht. Dass ich meinen Posten bei Montly bekommen habe, ist der
bisher größte Erfolg meines Lebens gewesen. Wenn ich zwischen
dem Studium und meinem Posten zu wählen hätte, würde
ich natürlich den Posten wählen. Meine Anstrengung geht nur
darauf hin, die Notwendigkeit einer solchen Wahl nicht eintreten zu
lassen.«
»So schwer
ist es, dort einen Posten zu bekommen«, sagte Karl mehr für sich.
»Ach, was
denken Sie denn«, sagte der Student, »es ist leichter, hier Bezirksrichter
zu werden als Türöffner bei Montly.«
Karl schwieg.
Dieser Student, der doch so viel erfahrener war als er und der den Delamarche
aus irgendwelchen Karl noch unbekannten Gründen hasste, der dagegen
Karl gewiss nichts Schlechtes wünschte, fand für Karl kein
Wort der Aufmunterung, den Delamarche zu verlassen. Und dabei kannte
er noch gar nicht die Gefahr, die Karl von der Polizei drohte und vor
der er nur bei Delamarche halbwegs geschützt war.
»Sie haben
doch am Abend die Demonstration unten gesehen? Nicht wahr? Wenn man
die Verhältnisse nicht kennte, sollte man doch denken, dieser Kandidat,
er heißt Lobter, werde doch irgendwelche Aussichten haben oder
er komme doch wenigstens in Betracht, nicht?«
»Ich verstehe
von Politik nichts«, sagte Karl.
»Das ist
ein Fehler«, sagte der Student. »Aber abgesehen davon haben Sie doch
Augen und Ohren. Der Mann hat doch zweifellos Freunde und Feinde gehabt,
das kann Ihnen doch nicht entgangen sein. Und nun bedenken Sie, der
Mann hat, meiner Meinung nach, nicht die geringsten Aussichten, gewählt
zu werden. Ich weiß zufällig alles über ihn, es wohnt
da bei uns einer, der ihn kennt. Er ist kein unfähiger Mensch,
und seinen politischen Ansichten und seiner politischen Vergangenheit
nach wäre gerade er der passende Richter für den Bezirk. Aber
kein Mensch denkt daran, dass er gewählt werden könnte, er
wird so prachtvoll durchfallen, als man durchfallen kann, er wird für
die Wahlkampagne seine paar Dollars hinausgeworfen haben, das wird alles
sein.«
Karl und
der Student sahen einander ein Weilchen schweigend an. Der Student nickte
lächelnd und drückte mit einer Hand die müden Augen.
»Nun, werden
Sie noch nicht schlafen gehen?« fragte er dann. »Ich muss ja auch wieder
studieren. Sehen Sie, wie viel ich noch durchzuarbeiten habe.« Und er
blätterte ein halbes Buch rasch durch, um Karl einen Begriff von
der Arbeit zu geben, die noch auf ihn wartete.
»Dann also
gute Nacht«, sagte Karl und verbeugte sich.
»Kommen
Sie doch einmal zu uns herüber«, sagte der Student, der schon wieder
an seinem Tisch saß, »natürlich nur, wenn Sie Lust haben.
Sie werden hier immer große Gesellschaft finden. Von neun bis
zehn Uhr abends habe ich auch für Sie Zeit.«
»Sie raten
mir also, bei Delamarche zu bleiben?« fragte Karl.
»Unbedingt«,
sagte der Student und senkte schon den Kopf zu seinen Büchern.
Es schien, als hätte gar nicht er das Wort gesagt; wie von einer
Stimme gesprochen, die tiefer war als jene des Studenten, klang es noch
in Karls Ohren nach. Langsam ging er zum Vorhang, warf noch einen Blick
auf den Studenten, der jetzt ganz unbeweglich, von der großen
Finsternis umgeben, in seinem Lichtschein saß, und schlüpfte
ins Zimmer. Die vereinten Atemzüge der drei Schläfer empfingen
ihn. Er suchte die Wand entlang das Kanapee, und als er es gefunden
hatte, streckte er sich ruhig auf ihm aus, als sei es sein gewohntes
Lager. Da ihm der Student, der den Delamarche und die hiesigen Verhältnisse
genau kannte und überdies ein gebildeter Mann war, geraten hatte,
hier zu bleiben, hatte er vorläufig keine Bedenken. So hohe Ziele
wie der Student hatte er nicht, wer weiß, ob es ihm sogar zu Hause
gelungen wäre, das Studium zu Ende zu führen, und wenn es
zu Hause kaum möglich schien, so konnte niemand verlangen, dass
er es hier im fremden Lande tue. Die Hoffnung aber, einen Posten zu
finden, in dem er etwas leisten und für seine Leistungen anerkannt
werden könnte, war gewiss größer, wenn er vorläufig
die Dienerstelle bei Delamarche annahm und aus dieser Sicherheit heraus
eine günstige Gelegenheit abwartete. Es schienen sich ja in dieser
Straße viele Büros mittleren und unteren Ranges zu befinden,
die vielleicht im Falle des Bedarfes bei der Auswahl ihres Personals
nicht gar zu wählerisch waren. Er wollte ja gern, wenn es sein
musste, Geschäftsdiener werden, aber schließlich war es ja
gar nicht ausgeschlossen, dass er auch für reine Büroarbeiten
aufgenommen werden konnte und einstmals als Bürobeamter an seinem
Schreibtisch sitzen und ohne Sorgen ein Weilchen lang aus dem offenen
Fenster schauen würde wie jener Beamte, den er heute früh
beim Durchmarsch durch die Höfe gesehen hatte. Beruhigend fiel
ihm ein, als er die Augen schloss, dass er doch jung war und dass Delamarche
ihn doch einmal freigeben würde; dieser Haushalt sah ja wirklich
nicht danach aus, als sei er für die Ewigkeit gemacht. Wenn aber
Karl einmal einen solchen Posten in einem Büro hätte, dann
wollte er sich mit nichts anderem beschäftigen als mit seinen Büroarbeiten
und nicht die Kräfte zersplittern wie der Student. Wenn es nötig
sein sollte, wollte er auch die Nacht fürs Büro verwenden,
was man ja im Beginn bei seiner geringen kaufmännischen Vorbildung
sowieso von ihm verlangen würde. Er wollte nur an das Interesse
des Geschäftes denken, dem er zu dienen hätte, und allen Arbeiten
sich unterziehen, selbst solchen, die andere Bürobeamte als ihrer
nicht würdig zurückweisen würden. Die guten Vorsätze
drängten sich in seinem Kopf, als stehe sein künftiger Chef
vor dem Kanapee und lese sie von seinem Gesicht ab.
In solchen
Gedanken schlief Karl ein und nur im ersten Halbschlaf störte ihn
noch ein gewaltiges Seufzen Bruneldas, die, scheinbar von schweren Träumen
geplagt, sich auf ihrem Lager wälzte.