• Im leeren Sitzungssaal
• Der Student
• Die Kanzleien
K. wartete während der nächsten Woche von Tag zu Tag auf eine neuerliche
Verständigung, er konnte nicht glauben, dass man seinen Verzicht
auf Verhöre wörtlich genommen hatte, und als die erwartete Verständigung
bis Samstagabend wirklich nicht kam, nahm er an, er sei stillschweigend
in das gleiche Haus für die gleiche Zeit wieder vorgeladen. Er begab
sich daher Sonntags wieder hin, ging diesmal geradewegs über Treppen
und Gänge; einige Leute, die sich seiner erinnerten, grüßten
ihn an ihren Türen, aber er musste niemanden mehr fragen und kam
bald zu der richtigen Tür. Auf sein Klopfen wurde ihm gleich aufgemacht,
und ohne sich weiter nach der bekannten Frau umzusehen, die bei der Tür
stehen blieb, wollte er gleich ins Nebenzimmer. »Heute ist keine Sitzung«,
sagte die Frau. »Warum sollte keine Sitzung sein?« fragte er und wollte
es nicht glauben. Aber die Frau überzeugte ihn, indem sie die Tür
des Nebenzimmers öffnete. Es war wirklich leer und sah in seiner
Leere noch kläglicher aus als am letzten Sonntag. Auf dem Tisch,
der unverändert auf dem Podium stand, lagen einige Bücher. »Kann
ich mir die Bücher anschauen?« fragte K., nicht aus besonderer Neugierde,
sondern nur, um nicht vollständig nutzlos hier gewesen zu sein. »Nein«,
sagte die Frau und schloss wieder die Tür, »das ist nicht erlaubt.
Die Bücher gehören dem Untersuchungsrichter.« »Ach so«, sagte
K. und nickte, »die Bücher sind wohl Gesetzbücher, und es gehört
zu der Art dieses Gerichtswesens, dass man nicht nur unschuldig, sondern
auch unwissend verurteilt wird.« »Es wird so sein«, sagte die Frau, die
ihn nicht genau verstanden hatte. »Nun, dann gehe ich wieder«, sagte K.
»Soll ich dem Untersuchungsrichter etwas melden?« fragte die Frau. »Sie
kennen ihn?« fragte K. »Natürlich«, sagte die Frau, »mein Mann ist
ja Gerichtsdiener.« Erst jetzt merkte K., dass das Zimmer, in dem letzthin
nur ein Waschbottich gestanden war, jetzt ein völlig eingerichtetes
Wohnzimmer bildete. Die Frau bemerkte sein Staunen und sagte: »Ja, wir
haben hier freie Wohnung, müssen aber an Sitzungstagen das Zimmer
ausräumen. Die Stellung meines Mannes hat manche Nachteile.« »Ich
staune nicht so sehr über das Zimmer«, sagte K. und blickte sie böse
an, »als vielmehr darüber, dass Sie verheiratet sind.« »Spielen Sie
vielleicht auf den Vorfall in der letzten Sitzung an, durch den ich Ihre
Rede störte?« fragte die Frau. »Natürlich«, sagte K., »heute
ist es ja schon vorüber und fast vergessen, aber damals hat es mich
geradezu wütend gemacht. Und nun sagen Sie selbst, dass Sie eine
verheiratete Frau sind.« »Es war nicht zu Ihrem Nachteil, dass Ihre Rede
abgebrochen wurde. Man hat nachher noch sehr ungünstig über
sie geurteilt.« »Mag sein«, sagte K. ablenkend, »aber Sie entschuldigt
das nicht.« »Ich bin vor allen entschuldigt, die mich kennen«, sagte die
Frau, »der, welcher mich damals umarmt hat, verfolgt mich schon seit langem.
Ich mag im Allgemeinen nicht verlockend sein, für ihn bin ich es
aber. Es gibt hierfür keinen Schutz, auch mein Mann hat sich schon
damit abgefunden; will er seine Stellung behalten, muss er es dulden,
denn jener Mann ist Student und wird voraussichtlich zu größerer
Macht kommen. Er ist immerfort hinter mir her, gerade ehe Sie kamen, ist
er fortgegangen.« »Es passt zu allem anderen«, sagte K., »es überrascht
mich nicht.« »Sie wollen hier wohl einiges verbessern?« fragte die Frau
langsam und prüfend, als sage sie etwas, was sowohl für sie
als für K. gefährlich war. »Ich habe das schon aus Ihrer Rede
geschlossen, die mir persönlich sehr gut gefallen hat. Ich habe allerdings
nur einen Teil gehört, den Anfang habe ich versäumt und während
des Schlusses lag ich mit dem Studenten auf dem Boden. Es ist ja
so widerlich hier«, sagte sie nach einer Pause und fasste K.s Hand. »Glauben
Sie, dass es Ihnen gelingen wird, eine Besserung zu erreichen?« K. lächelte
und drehte seine Hand ein wenig in ihren weichen Händen. »Eigentlich«,
sagte er, »bin ich nicht dazu angestellt, Besserungen hier zu erreichen,
wie Sie sich ausdrücken, und wenn Sie es zum Beispiel dem Untersuchungsrichter
sagten, würden Sie ausgelacht oder bestraft werden. Tatsächlich
hätte ich mich auch aus freiem Willen in diese Dinge gewiss nicht
eingemischt, und meinen Schlaf hätte die Verbesserungsbedürftigkeit
dieses Gerichtswesens niemals gestört. Aber ich bin dadurch, dass
ich angeblich verhaftet wurde ich bin nämlich verhaftet ,
gezwungen worden, hier einzugreifen, und zwar um meinetwillen. Wenn ich
aber dabei auch Ihnen irgendwie nützlich sein kann, werde ich es
natürlich sehr gerne tun. Nicht etwa nur aus Nächstenliebe,
sondern außerdem deshalb, weil auch Sie mir helfen können.«
»Wie könnte ich denn das?« fragte die Frau. »Indem Sie mir zum Beispiel
die Bücher dort auf dem Tisch zeigen.« »Aber gewiss«, rief die Frau
und zog ihn eiligst hinter sich her. Es waren alte, abgegriffene Bücher,
ein Einbanddeckel war in der Mitte fast zerbrochen, die Stücke hingen
nur durch Fasern zusammen. »Wie schmutzig hier alles ist«, sagte K. kopfschüttelnd,
und die Frau wischte mit ihrer Schürze, ehe K. nach den Büchern
greifen konnte, wenigstens oberflächlich den Staub weg. K. schlug
das oberste Buch auf, es erschien ein unanständiges Bild. Ein Mann
und eine Frau saßen nackt auf einem Kanapee, die gemeine Absicht
des Zeichners war deutlich zu erkennen, aber seine Ungeschicklichkeit
war so groß gewesen, dass schließlich doch nur ein Mann und
eine Frau zu sehen waren, die allzu körperlich aus dem Bilde hervorragten,
übermäßig aufrecht dasaßen und sich infolge falscher
Perspektive nur mühsam einander zuwendeten. K. blätterte nicht
weiter, sondern schlug nur noch das Titelblatt des zweiten Buches auf,
es war ein Roman mit dem Titel: »Die Plagen, welche Grete von ihrem Manne
Hans zu erleiden hatte.« »Das sind die Gesetzbücher, die hier studiert
werden«, sagte K., »von solchen Menschen soll ich gerichtet werden.« »Ich
werde Ihnen helfen«, sagte die Frau. »Wollen Sie?« »Könnten Sie denn
das wirklich, ohne sich selbst in Gefahr zu bringen? Sie sagten doch vorhin,
Ihr Mann sei sehr abhängig von Vorgesetzten.« »Trotzdem will ich
Ihnen helfen«, sagte die Frau, »kommen Sie, wir müssen es besprechen.
Über meine Gefahr reden Sie nicht mehr, ich fürchte die Gefahr
nur dort, wo ich sie fürchten will. Kommen Sie.« Sie zeigte auf das
Podium und bat ihn, sich mit ihr auf die Stufe zu setzen. »Sie haben schöne
dunkle Augen«, sagte sie, nachdem sie sich gesetzt hatten, und sah K.
von unten ins Gesicht, »man sagt mir, ich hätte auch schöne
Augen, aber Ihre sind viel schöner. Sie fielen mir übrigens
gleich damals auf, als Sie zum ersten Mal hier eintraten. Sie waren auch
der Grund, warum ich dann später hierher ins Versammlungszimmer ging,
was ich sonst niemals tue und was mir sogar gewissermaßen verboten
ist.« Das ist also alles, dachte K., sie bietet sich mir an, sie ist verdorben
wie alle hier rings herum, sie hat die Gerichtsbeamten satt, was ja begreiflich
ist, und begrüßt deshalb jeden beliebigen Fremden mit einem
Kompliment wegen seiner Augen. Und K. stand stillschweigend auf, als hätte
er seine Gedanken laut ausgesprochen und dadurch der Frau sein Verhalten
erklärt. »Ich glaube nicht, dass Sie mir helfen können«, sagte
er, »um mir wirklich zu helfen, müsste man Beziehungen zu hohen Beamten
haben. Sie aber kennen gewiss nur die niedrigen Angestellten, die sich
hier in Mengen herumtreiben. Diese kennen Sie gewiss sehr gut und könnten
bei ihnen auch manches durchsetzen, das bezweifle ich nicht, aber das
Größte, was man bei ihnen durchsetzen könnte, wäre
für den endgültigen Ausgang des Prozesses gänzlich belanglos.
Sie aber hätten sich dadurch doch einige Freunde verscherzt. Das
will ich nicht. Führen Sie ihr bisheriges Verhältnis zu diesen
Leuten weiter, es scheint mir nämlich, dass es Ihnen unentbehrlich
ist. Ich sage das nicht ohne Bedauern, denn, um Ihr Kompliment doch auch
irgendwie zu erwidern, auch Sie gefallen mir gut, besonders wenn Sie mich
wie jetzt so traurig ansehen, wozu übrigens für Sie gar kein
Grund ist. Sie gehören zu der Gesellschaft, die ich bekämpfen
muss, befinden sich aber in ihr sehr wohl, Sie lieben sogar den Studenten,
und wenn Sie ihn nicht lieben, so ziehen Sie ihn doch wenigstens Ihrem
Manne vor. Das konnte man aus Ihren Worten leicht erkennen.« »Nein!« rief
sie, blieb sitzen und griff nach K.s Hand, die er ihr nicht rasch genug
entzog. »Sie dürfen jetzt nicht weggehen, Sie dürfen nicht mit
einem falschen Urteil über mich weggehen! Brächten Sie es wirklich
zu Stande, jetzt wegzugehen? Bin ich wirklich so wertlos, dass Sie mir
nicht einmal den Gefallen tun wollen, noch ein kleines Weilchen hier zu
bleiben?« »Sie missverstehen mich«, sagte K. und setzte sich, »wenn Ihnen
wirklich daran liegt, dass ich hier bleibe, bleibe ich gern, ich habe
ja Zeit, ich kam doch in der Erwartung her, dass heute eine Verhandlung
sein werde. Mit dem, was ich früher sagte, wollte ich Sie nur bitten,
in meinem Prozess nichts für mich zu unternehmen. Aber auch das muss
Sie nicht kränken, wenn Sie bedenken, dass mir am Ausgang des Prozesses
gar nichts liegt und dass ich über eine Verurteilung nur lachen werde.
Vorausgesetzt, dass es überhaupt zu einem wirklichen Abschluss des
Prozesses kommt, was ich sehr bezweifle. Ich glaube vielmehr, dass das
Verfahren infolge Faulheit oder Vergesslichkeit oder vielleicht sogar
infolge Angst der Beamtenschaft schon abgebrochen ist oder in der nächsten
Zeit abgebrochen werden wird. Möglich ist allerdings auch, dass man
in Hoffnung auf irgendeine größere Bestechung den Prozess scheinbar
weiterführen wird, ganz vergeblich, wie ich heute schon sagen kann,
denn ich besteche niemanden. Es wäre immerhin eine Gefälligkeit,
die Sie mir leisten könnten, wenn Sie dem Untersuchungsrichter oder
irgendjemandem sonst, der wichtige Nachrichten gern verbreitet, mitteilten,
dass ich niemals und durch keine Kunststücke, an denen die Herren
wohl reich sind, zu einer Bestechung zu bewegen sein werde. Es wäre
ganz aussichtslos, das können Sie ihnen offen sagen. Übrigens
wird man es vielleicht selbst schon bemerkt haben, und selbst wenn dies
nicht sein sollte, liegt mir gar nicht so viel daran, dass man es jetzt
schon erfährt. Es würde ja dadurch den Herren nur Arbeit erspart
werden, allerdings auch mir einige Unannehmlichkeiten, die ich aber gern
auf mich nehme, wenn ich weiß, dass jede gleichzeitig ein Hieb für
die anderen ist. Und dass es so wird, dafür will ich sorgen. Kennen
Sie eigentlich den Untersuchungsrichter?« »Natürlich«, sagte die
Frau, »an den dachte ich sogar zuerst, als ich Ihnen Hilfe anbot. Ich
wusste nicht, dass er nur ein niedriger Beamter ist, aber da Sie es sagen,
wird es wahrscheinlich richtig sein. Trotzdem glaube ich, dass der Bericht,
den er nach oben liefert, immerhin einigen Einfluss hat. Und er schreibt
so viel Berichte. Sie sagen, dass die Beamten faul sind, alle gewiss nicht,
besonders dieser Untersuchungsrichter nicht, er schreibt sehr viel. Letzten
Sonntag zum Beispiel dauerte die Sitzung bis gegen Abend. Alle Leute gingen
weg, der Untersuchungsrichter aber blieb im Saal, ich musste ihm eine
Lampe bringen, ich hatte nur eine kleine Küchenlampe, aber er war
mit ihr zufrieden und fing gleich zu schreiben an. Inzwischen war auch
mein Mann gekommen, der an jenem Sonntag gerade Urlaub hatte, wir holten
die Möbel, richteten wieder unser Zimmer ein, es kamen dann noch
Nachbarn, wir unterhielten uns noch bei einer Kerze, kurz, wir vergaßen
den Untersuchungsrichter und gingen schlafen. Plötzlich in der Nacht,
es muss schon tief in der Nacht gewesen sein, wache ich auf, neben dem
Bett steht der Untersuchungsrichter und blendet die Lampe mit der Hand
ab, sodass auf meinen Mann kein Licht fällt, es war unnötige
Vorsicht, mein Mann hat einen solchen Schlaf, dass ihn auch das Licht
nicht geweckt hätte. Ich war so erschrocken, dass ich fast geschrien
hätte, aber der Untersuchungsrichter war sehr freundlich, ermahnte
mich zur Vorsicht, flüsterte mir zu, dass er bis jetzt geschrieben
habe, dass er mir jetzt die Lampe zurückbringe und dass er niemals
den Anblick vergessen werde, wie er mich schlafend gefunden habe. Mit
dem allem wollte ich Ihnen nur sagen, dass der Untersuchungsrichter tatsächlich
viele Berichte schreibt, insbesondere über Sie, denn Ihre Einvernahme
war gewiss einer der Hauptgegenstände der sonntäglichen Sitzung.
Solche langen Berichte können aber doch nicht ganz bedeutungslos
sein. Außerdem aber können Sie doch auch aus dem Vorfall sehen,
dass sich der Untersuchungsrichter um mich bewirbt und dass ich gerade
jetzt in der ersten Zeit, er muss mich überhaupt erst jetzt bemerkt
haben, großen Einfluss auf ihn haben kann. Dass ihm viel an mir
liegt, dafür habe ich jetzt auch noch andere Beweise. Er hat mir
gestern durch den Studenten, zu dem er viel Vertrauen hat und der sein
Mitarbeiter ist, seidene Strümpfe zum Geschenk geschickt, angeblich
dafür, dass ich das Sitzungszimmer aufräume, aber das ist nur
ein Vorwand, denn diese Arbeit ist doch nur meine Pflicht und für
sie wird mein Mann bezahlt. Es sind schöne Strümpfe, sehen Sie«
sie streckte die Beine, zog die Röcke bis zum Knie hinauf und sah
auch selbst die Strümpfe an , »es sind schöne Strümpfe,
aber doch eigentlich zu fein und für mich nicht geeignet.«
Plötzlich
unterbrach sie sich, legte ihre Hand auf K.s Hand, als wolle sie ihn beruhigen,
und flüsterte: »Still, Berthold sieht uns zu.« K. hob langsam den
Blick. In der Tür des Sitzungszimmers stand ein junger Mann, er war
klein, hatte nicht ganz gerade Beine und suchte sich durch einen kurzen,
schütteren, rötlichen Vollbart, in dem er die Finger fortwährend
herumführte, Würde zu geben. K. sah ihn neugierig an, es war
ja der erste Student der unbekannten Rechtswissenschaft, dem er gewissermaßen
menschlich begegnete, ein Mann, der wahrscheinlich auch einmal zu höheren
Beamtenstellen gelangen würde. Der Student dagegen kümmerte
sich um K. scheinbar gar nicht, er winkte nur mit einem Finger, den er
für einen Augenblick aus seinem Barte zog, der Frau und ging zum
Fenster, die Frau beugte sich zu K. und flüsterte: »Seien Sie mir
nicht böse, ich bitte Sie vielmals, denken Sie auch nicht schlecht
von mir, ich muss jetzt zu ihm gehen, zu diesem scheußlichen Menschen,
sehen Sie nur seine krummen Beine an. Aber ich komme gleich zurück,
und dann gehe ich mit Ihnen, wenn Sie mich mitnehmen, ich gehe, wohin
Sie wollen, Sie können mit mir tun, was Sie wollen, ich werde glücklich
sein, wenn ich von hier für möglichst lange Zeit fort bin, am
liebsten allerdings für immer.« Sie streichelte noch K.s Hand, sprang
auf und lief zum Fenster. Unwillkürlich haschte noch K. nach ihrer
Hand ins Leere. Die Frau verlockte ihn wirklich, er fand trotz allem Nachdenken
keinen haltbaren Grund dafür, warum er der Verlockung nicht nachgeben
sollte. Den flüchtigen Einwand, dass ihn die Frau für das Gericht
einfange, wehrte er ohne Mühe ab. Auf welche Weise konnte sie ihn
einfangen? Blieb er nicht immer so frei, dass er das ganze Gericht, wenigstens
soweit es ihn betraf, sofort zerschlagen konnte? Konnte er nicht dieses
geringe Vertrauen zu sich haben? Und ihr Anerbieten einer Hilfe klang
aufrichtig und war vielleicht nicht wertlos. Und es gab vielleicht keine
bessere Rache an dem Untersuchungsrichter und seinem Anhang, als dass
er ihnen diese Frau entzog und an sich nahm. Es könnte sich dann
einmal der Fall ereignen, dass der Untersuchungsrichter nach mühevoller
Arbeit an Lügenberichten über K. in später Nacht das Bett
der Frau leer fand. Und leer deshalb, weil sie K. gehörte, weil diese
Frau am Fenster, dieser üppige, gelenkige, warme Körper im dunklen
Kleid aus grobem, schwerem Stoff, durchaus nur K. gehörte.
Nachdem
er auf diese Weise die Bedenken gegen die Frau beseitigt hatte, wurde
ihm das leise Zwiegespräch am Fenster zu lang, er klopfte mit den
Knöcheln auf das Podium und dann auch mit der Faust. Der Student
sah kurz über die Schulter der Frau hinweg nach K. hin, ließ
sich aber nicht stören, ja drückte sich sogar eng an die Frau
und umfasste sie. Sie senkte tief den Kopf, als höre sie ihm aufmerksam
zu, er küsste sie, als sie sich bückte, laut auf den Hals, ohne
sich im Reden wesentlich zu unterbrechen. K. sah darin die Tyrannei bestätigt,
die der Student nach den Klagen der Frau über sie ausübte, stand
auf und ging im Zimmer auf und ab. Er überlegte unter Seitenblicken
nach dem Studenten, wie er ihn möglichst schnell wegschaffen könnte,
und es war ihm daher nicht unwillkommen, als der Student, offenbar gestört
durch K.s Herumgehen, das schon zeitweilig zu einem Trampeln ausgeartet
war, bemerkte: »Wenn Sie ungeduldig sind, können Sie weggehen. Sie
hätten auch schon früher weggehen können, es hätte
Sie niemand vermisst. Ja, Sie hätten sogar weggehen sollen, und zwar
schon bei meinem Eintritt, und zwar schleunigst.« Es mochte in dieser
Bemerkung alle mögliche Wut zum Ausbruch kommen, jedenfalls lag darin
aber auch der Hochmut des künftigen Gerichtsbeamten, der zu einem
missliebigen Angeklagten sprach. K. blieb ganz nahe bei ihm stehen und
sagte lächelnd: »Ich bin ungeduldig, das ist richtig, aber diese
Ungeduld wird am leichtesten dadurch zu beseitigen sein, dass Sie uns
verlassen. Wenn Sie aber vielleicht hergekommen sind, um zu studieren
ich hörte, dass Sie Student sind , so will ich Ihnen
gerne Platz machen und mit der Frau weggehen. Sie werden übrigens
noch viel studieren müssen, ehe Sie Richter werden. Ich kenne zwar
Ihr Gerichtswesen noch nicht sehr genau, nehme aber an, dass es mit groben
Reden allein, die Sie allerdings schon unverschämt gut zu führen
wissen, noch lange nicht getan ist.« »Man hätte ihn nicht so frei
herumlaufen lassen sollen«, sagte der Student, als wolle er der Frau eine
Erklärung für K.s beleidigende Rede geben, »es war ein Missgriff.
Ich habe es dem Untersuchungsrichter gesagt. Man hätte ihn zwischen
den Verhören zumindest in seinem Zimmer halten sollen. Der Untersuchungsrichter
ist manchmal unbegreiflich.« »Unnütze Reden«, sagte K. und streckte
die Hand nach der Frau aus, »kommen Sie.« »Ach so«, sagte der Student,
»nein, nein, die bekommen Sie nicht«, und mit einer Kraft, die man ihm
nicht zugetraut hätte, hob er sie auf einen Arm und lief mit gebeugtem
Rücken, zärtlich zu ihr aufsehend, zur Tür. Eine gewisse
Angst vor K. war hierbei nicht zu verkennen, trotzdem wagte er es, K.
noch zu reizen, indem er mit der freien Hand den Arm der Frau streichelte
und drückte. K. lief ein paar Schritte neben ihm her, bereit, ihn
zu fassen und, wenn es sein musste, zu würgen, da sagte die Frau:
»Es hilft nichts, der Untersuchungsrichter lässt mich holen, ich
darf nicht mit Ihnen gehen, dieses kleine Scheusal«, sie fuhr hierbei
dem Studenten mit der Hand übers Gesicht, »dieses kleine Scheusal
lässt mich nicht.« »Und Sie wollen nicht befreit werden!« schrie
K. und legte die Hand auf die Schulter des Studenten, der mit den Zähnen
nach ihr schnappte. »Nein!« rief die Frau und wehrte K. mit beiden Händen
ab, »nein, nein, nur das nicht, woran denken Sie denn! Das wäre mein
Verderben. Lassen Sie ihn doch, o bitte, lassen Sie ihn doch. Er führt
ja nur den Befehl des Untersuchungsrichters aus und trägt mich zu
ihm.« »Dann mag er laufen und Sie will ich nie mehr sehen«, sagte K. wütend
vor Enttäuschung und gab dem Studenten einen Stoß in den Rücken,
dass er kurz stolperte, um gleich darauf, vor Vergnügen darüber,
dass er nicht gefallen war, mit seiner Last desto höher zu springen.
K. ging ihnen langsam nach, er sah ein, dass das die erste zweifellose
Niederlage war, die er von diesen Leuten erfahren hatte. Es war natürlich
kein Grund, sich deshalb zu ängstigen, er erhielt die Niederlage
nur deshalb, weil er den Kampf aufsuchte. Wenn er zu Hause bliebe und
sein gewohntes Leben führte, war er jedem dieser Leute tausendfach
überlegen und konnte jeden mit einem Fußtritt von seinem Wege
räumen. Und er stellte sich die allerlächerlichste Szene vor,
die es zum Beispiel geben würde, wenn dieser klägliche Student,
dieses aufgeblasene Kind, dieser krumme Bartträger vor Elsas Bett
knien und mit gefalteten Händen um Gnade bitten würde. K. gefiel
diese Vorstellung so, dass er beschloss, wenn sich nur irgendeine Gelegenheit
dafür ergeben sollte, den Studenten einmal zu Elsa mitzunehmen.
Aus
Neugierde eilte K. noch zur Tür, er wollte sehen, wohin die Frau
getragen wurde, der Student würde sie doch nicht etwa über die
Straßen auf dem Arm tragen. Es zeigte sich, dass der Weg viel kürzer
war. Gleich gegenüber der Wohnung führte eine schmale hölzerne
Treppe wahrscheinlich zum Dachboden, sie machte eine Wendung, sodass man
ihr Ende nicht sah. Über diese Treppe trug der Student die Frau hinauf,
schon sehr langsam und stöhnend, denn er war durch das bisherige
Laufen geschwächt. Die Frau grüßte mit der Hand zu K.
hinunter und suchte durch Auf- und Abziehen der Schultern zu zeigen, dass
sie an der Entführung unschuldig sei, viel Bedauern lag aber in dieser
Bewegung nicht. K. sah sie ausdruckslos wie eine Fremde an, er wollte
weder verraten, dass er enttäuscht war, noch auch, dass er die Enttäuschung
leicht überwinden könne.
Die
zwei waren schon verschwunden, K. aber stand noch immer in der Tür.
Er musste annehmen, dass ihn die Frau nicht nur betrogen, sondern mit
der Angabe, dass sie zum Untersuchungsrichter getragen werde, auch belogen
habe. Der Untersuchungsrichter würde doch nicht auf dem Dachboden
sitzen und warten. Die Holztreppe erklärte nichts, so lange man sie
auch ansah. Da bemerkte K. einen kleinen Zettel neben dem Aufgang, ging
hinüber und las in einer kindlichen, ungeübten Schrift: »Aufgang
zu den Gerichtskanzleien.« Hier auf dem Dachboden dieses Miethauses waren
also die Gerichtskanzleien? Das war keine Einrichtung, die viel Achtung
einzuflößen im Stande war, und es war für einen Angeklagten
beruhigend, sich vorzustellen, wie wenig Geldmittel diesem Gericht zur
Verfügung standen, wenn es seine Kanzleien dort unterbrachte, wo
die Mietsparteien, die schon selbst zu den Ärmsten gehörten,
ihren unnützen Kram hinwarfen. Allerdings war es nicht ausgeschlossen,
dass man Geld genug hatte, dass aber die Beamtenschaft sich darüber
warf, ehe es für Gerichtszwecke verwendet wurde. Das war nach den
bisherigen Erfahrungen K.s sogar sehr wahrscheinlich, nur war dann eine
solche Verlotterung des Gerichtes für einen Angeklagten zwar entwürdigend,
aber im Grunde noch beruhigender, als es die Armut des Gerichtes gewesen
wäre. Nun war es K. auch begreiflich, dass man sich beim ersten Verhör
schämte, den Angeklagten auf den Dachboden vorzuladen und es vorzog,
ihn in seiner Wohnung zu belästigen. In welcher Stellung befand sich
doch K. gegenüber dem Richter, der auf dem Dachboden saß, während
er selbst in der Bank ein großes Zimmer mit einem Vorzimmer hatte
und durch eine riesige Fensterscheibe auf den belebten Stadtplatz hinuntersehen
konnte! Allerdings hatte er keine Nebeneinkünfte aus Bestechungen
oder Unterschlagungen und konnte sich auch vom Diener keine Frau auf dem
Arm ins Büro tragen lassen. Darauf wollte K. aber, wenigstens in
diesem Leben, gerne verzichten.
K.
stand noch vor dem Anschlagzettel, als ein Mann die Treppe heraufkam,
durch die offene Tür ins Wohnzimmer sah, aus dem man auch das Sitzungszimmer
sehen konnte, und schließlich K. fragte, ob er hier nicht vor kurzem
eine Frau gesehen habe. »Sie sind der Gerichtsdiener, nicht?« fragte K.
»Ja«, sagte der Mann, »ach so, Sie sind der Angeklagte K., jetzt erkenne
ich Sie auch, seien Sie willkommen.« Und er reichte K., der es gar nicht
erwartet hatte, die Hand. »Heute ist aber keine Sitzung angezeigt«, sagte
dann der Gerichtsdiener, als K. schwieg. »Ich weiß«, sagte K. und
betrachtete den Zivilrock des Gerichtsdieners, der als einziges amtliches
Abzeichen neben einigen gewöhnlichen Knöpfen auch zwei vergoldete
Knöpfe aufwies, die von einem alten Offiziersmantel abgetrennt zu
sein schienen. »Ich habe vor einem Weilchen mit Ihrer Frau gesprochen.
Sie ist nicht mehr hier. Der Student hat sie zum Untersuchungsrichter
getragen.« »Sehen Sie«, sagte der Gerichtsdiener, »immer trägt man
sie mir weg. Heute ist doch Sonntag, und ich bin zu keiner Arbeit verpflichtet,
aber nur, um mich von hier zu entfernen, schickt man mich mit einer jedenfalls
unnützen Meldung weg. Und zwar schickt man mich nicht weit weg, sodass
ich die Hoffnung habe, wenn ich mich sehr beeile, vielleicht noch rechtzeitig
zurückzukommen. Ich laufe also, so sehr ich kann, schreie dem Amt,
zu dem ich geschickt wurde, meine Meldung durch den Türspalt so atemlos
zu, dass man sie kaum verstanden haben wird, laufe wieder zurück,
aber der Student hat sich noch mehr beeilt als ich, er hatte allerdings
auch einen kürzeren Weg, er musste nur die Bodentreppe hinunterlaufen.
Wäre ich nicht so abhängig, ich hätte den Studenten schon
längst hier an der Wand zerdrückt. Hier neben dem Anschlagzettel.
Davon träume ich immer. Hier, ein wenig über dem Fußboden,
ist er festgedrückt, die Arme gestreckt, die Finger gespreizt, die
krummen Beine zum Kreis gedreht, und ringsherum Blutspritzer. Bisher war
es aber nur Traum.« »Eine andere Hilfe gibt es nicht?« fragte K. lächelnd.
»Ich wüsste keine«, sagte der Gerichtsdiener. »Und jetzt wird es
ja noch ärger, bisher hat er sie nur zu sich getragen, jetzt trägt
er sie, was ich allerdings längst erwartet habe, auch zum Untersuchungsrichter.«
»Hat denn Ihre Frau gar keine Schuld dabei«, fragte K., er musste sich
bei dieser Frage bezwingen, so sehr fühlte auch er jetzt die Eifersucht.
»Aber gewiss«, sagte der Gerichtsdiener, »sie hat sogar die größte
Schuld. Sie hat sich ja an ihn gehängt. Was ihn betrifft, er läuft
allen Weibern nach. In diesem Hause allein ist er schon aus fünf
Wohnungen, in die er sich eingeschlichen hat, hinausgeworfen worden. Meine
Frau ist allerdings die Schönste im ganzen Haus, und gerade ich darf
mich nicht wehren.« »Wenn es sich so verhält, dann gibt es allerdings
keine Hilfe«, sagte K. »Warum denn nicht?« fragte der Gerichtsdiener.
»Man müsste den Studenten, der ein Feigling ist, einmal, wenn er
meine Frau anrühren will, so durchprügeln, dass er es niemals
mehr wagt. Aber ich darf es nicht, und andere machen mir den Gefallen
nicht, denn alle fürchten seine Macht. Nur ein Mann wie Sie könnte
es tun.« »Wieso denn ich?« fragte K. erstaunt. »Sie sind doch angeklagt«,
sagte der Gerichtsdiener. »Ja«, sagte K. »aber desto mehr müsste
ich doch fürchten, dass er, wenn auch vielleicht nicht Einfluss auf
den Ausgang des Prozesses, so doch wahrscheinlich auf die Voruntersuchung
hat.« »Ja, gewiss«, sagte der Gerichtsdiener, als sei die Ansicht K.s
genau so richtig wie seine eigene. »Es werden aber bei uns in der Regel
keine aussichtslosen Prozesse geführt.« »Ich bin nicht Ihrer Meinung«,
sagte K., »das soll mich aber nicht hindern, gelegentlich den Studenten
in Behandlung zu nehmen.« »Ich wäre Ihnen sehr dankbar«, sagte der
Gerichtsdiener etwas förmlich, er schien eigentlich doch nicht an
die Erfüllbarkeit seines höchsten Wunsches zu glauben. »Es würden
vielleicht«, fuhr K. fort, »auch noch andere Ihrer Beamten und vielleicht
sogar alle das Gleiche verdienen.« »Ja, ja«, sagte der Gerichtsdiener,
als handle es sich um etwas Selbstverständliches. Dann sah er K.
mit einem zutraulichen Blick an, wie er es bisher trotz aller Freundlichkeit
nicht getan hatte, und fügte hinzu: »Man rebelliert eben immer.«
Aber das Gespräch schien ihm doch ein wenig unbehaglich geworden
zu sein, denn er brach es ab, indem er sagte: »Jetzt muss ich mich in
der Kanzlei melden. Wollen Sie mitkommen?« »Ich habe dort nichts zu tun«,
sagte K. »Sie können die Kanzleien ansehen. Es wird sich niemand
um Sie kümmern.« »Ist es denn sehenswert?« fragte K. zögernd,
hatte aber große Lust, mitzugehen. »Nun«, sagte der Gerichtsdiener,
»ich dachte, es würde Sie interessieren.« »Gut«, sagte K. schließlich,
»ich gehe mit.« Und er lief schneller als der Gerichtsdiener die Treppe
hinauf.
Beim
Eintritt wäre er fast hingefallen, denn hinter der Tür war noch
eine Stufe. »Auf das Publikum nimmt man nicht viel Rücksicht«, sagte
er. »Man nimmt überhaupt keine Rücksicht«, sagte der Gerichtsdiener,
»sehen Sie nur hier das Wartezimmer.« Es war ein langer Gang, von dem
aus roh gezimmerte Türen zu den einzelnen Abteilungen des Dachbodens
führten. Obwohl kein unmittelbarer Lichtzutritt bestand, war es doch
nicht vollständig dunkel, denn manche Abteilungen hatten gegen den
Gang zu statt einheitlicher Bretterwände bloße, allerdings
bis zur Decke reichende Holzgitter, durch die einiges Licht drang und
durch die man auch einzelne Beamte sehen konnte, wie sie an Tischen schrieben
oder geradezu am Gitter standen und durch die Lücken die Leute auf
dem Gang beobachteten. Es waren, wahrscheinlich weil Sonntag war, nur
wenig Leute auf dem Gang. Sie machten einen sehr bescheidenen Eindruck.
In fast regelmäßigen Entfernungen voneinander saßen sie
auf den zwei Reihen langer Holzbänke, die zu beiden Seiten des Ganges
angebracht waren. Alle waren vernachlässigt angezogen, obwohl die
meisten nach dem Gesichtsausdruck, der Haltung, der Barttracht und vielen,
kaum sicherzustellenden kleinen Einzelheiten den höheren Klassen
angehörten. Da keine Kleiderhaken vorhanden waren, hatten sie die
Hüte, wahrscheinlich einer dem Beispiel des anderen folgend, unter
die Bank gestellt. Als die, welche zunächst der Tür saßen,
K. und den Gerichtsdiener erblickten, erhoben sie sich zum Gruß,
da das die Folgenden sahen, glaubten sie auch grüßen zu müssen,
sodass alle beim Vorbeigehen der beiden sich erhoben. Sie standen niemals
vollständig aufrecht, der Rücken war geneigt, die Knie geknickt,
sie standen wie Straßenbettler. K. wartete auf den ein wenig hinter
ihm gehenden Gerichtsdiener und sagte: »Wie gedemütigt die sein müssen.«
»Ja«, sagte der Gerichtsdiener, »es sind Angeklagte, alle, die Sie hier
sehn, sind Angeklagte.« »Wirklich!« sagte K. »Dann sind es ja meine Kollegen.«
Und er wandte sich an den nächsten, einen großen, schlanken,
schon fast grauhaarigen Mann. »Worauf warten Sie hier?« fragte K. höflich.
Die unerwartete Ansprache aber machte den Mann verwirrt, was umso peinlicher
aussah, da es sich offenbar um einen welterfahrenen Menschen handelte,
der anderswo gewiss sich zu beherrschen verstand und die Überlegenheit,
die er sich über viele erworben hatte, nicht leicht aufgab. Hier
aber wusste er auf eine so einfache Frage nicht zu antworten und sah auf
die anderen hin, als seien sie verpflichtet, ihm zu helfen, und als könne
niemand von ihm eine Antwort verlangen, wenn diese Hilfe ausbliebe. Da
trat der Gerichtsdiener hinzu und sagte, um den Mann zu beruhigen und
aufzumuntern: »Der Herr hier fragt ja nur, worauf Sie warten. Antworten
Sie doch.« Die ihm wahrscheinlich bekannte Stimme des Gerichtsdieners
wirkte besser: »Ich warte « begann er und stockte. Offenbar hatte
er diesen Anfang gewählt, um ganz genau auf die Fragestellung zu
antworten, fand aber jetzt die Fortsetzung nicht. Einige der Wartenden
hatten sich genähert und umstanden die Gruppe, der Gerichtsdiener
sagte zu ihnen: »Weg, weg, macht den Gang frei.« Sie wichen ein wenig
zurück, aber nicht bis zu ihren früheren Sitzen. Inzwischen
hatte sich der Gefragte gesammelt und antwortete sogar mit einem kleinen
Lächeln: »Ich habe vor einem Monat einige Beweisanträge in meiner
Sache gemacht und warte auf die Erledigung.« »Sie scheinen sich ja viele
Mühe zu geben«, sagte K. »Ja«, sagte der Mann, »es ist ja meine Sache.«
»Jeder denkt nicht so wie Sie«, sagte K., »ich zum Beispiel bin auch angeklagt,
habe aber, so wahr ich selig werden will, weder einen Beweisantrag gestellt,
noch auch sonst irgendetwas Derartiges unternommen. Halten Sie denn das
für nötig?« »Ich weiß nicht genau«, sagte der Mann wieder
in vollständiger Unsicherheit; er glaubte offenbar, K. mache mit
ihm einen Scherz, deshalb hätte er wahrscheinlich am liebsten, aus
Furcht, irgendeinen neuen Fehler zu machen, seine frühere Antwort
ganz wiederholt, vor K.s ungeduldigem Blick aber sagte er nur: »Was mich
betrifft, ich habe Beweisanträge gestellt.« »Sie glauben wohl nicht,
dass ich angeklagt bin?« fragte K. »O bitte, gewiss«, sagte der Mann,
und trat ein wenig zur Seite, aber in der Antwort war nicht Glaube, sondern
nur Angst. »Sie glauben mir also nicht?« fragte K. und fasste ihn, unbewusst
durch das demütige Wesen des Mannes aufgefordert, beim Arm, als wolle
er ihn zum Glauben zwingen. Aber er wollte ihm nicht Schmerz bereiten,
hatte ihn auch nur ganz leicht angegriffen, trotzdem schrie der Mann auf,
als habe K. ihn nicht mit zwei Fingern, sondern mit einer glühenden
Zange erfasst. Dieses lächerliche Schreien machte ihn K. endgültig
überdrüssig; glaubte man ihm nicht, dass er angeklagt war, so
war es desto besser; vielleicht hielt er ihn sogar für einen Richter.
Und er fasste ihn nun zum Abschied wirklich fester, stieß ihn auf
die Bank zurück und ging weiter. »Die meisten Angeklagten sind so
empfindlich«, sagte der Gerichtsdiener. Hinter ihnen sammelten sich jetzt
fast alle Wartenden um den Mann, der schon zu schreien aufgehört
hatte, und schienen ihn über den Zwischenfall genau auszufragen.
K. entgegen kam jetzt ein Wächter, der hauptsächlich an einem
Säbel kenntlich war, dessen Scheide, wenigstens der Farbe nach, aus
Aluminium bestand. K. staunte darüber und griff sogar mit der Hand
hin. Der Wächter, der wegen des Schreiens gekommen war, fragte nach
dem Vorgefallenen. Der Gerichtsdiener suchte ihn mit einigen Worten zu
beruhigen, aber der Wächter erklärte, doch noch selbst nachsehen
zu müssen, salutierte und ging weiter mit sehr eiligen, aber sehr
kurzen, wahrscheinlich durch Gicht abgemessenen Schritten.
K.
kümmerte sich nicht lange um ihn und die Gesellschaft auf dem Gang,
besonders da er etwa in der Hälfte des Ganges die Möglichkeit
sah, rechts durch eine türlose Öffnung einzubiegen. Er verständigte
sich mit dem Gerichtsdiener darüber, ob das der richtige Weg sei,
der Gerichtsdiener nickte, und K. bog nun wirklich dort ein. Es war ihm
lästig, dass er immer einen oder zwei Schritte vor dem Gerichtsdiener
gehen musste, es konnte wenigstens an diesem Ort den Anschein haben, als
ob er verhaftet vorgeführt werde. Er wartete also öfters auf
den Gerichtsdiener, aber dieser blieb gleich wieder zurück. Schließlich
sagte K., um seinem Unbehagen ein Ende zu machen: »Nun habe ich gesehen,
wie es hier aussieht, ich will jetzt weggehen.« »Sie haben noch nicht
alles gesehen«, sagte der Gerichtsdiener vollständig unverfänglich.
»Ich will nicht alles sehen«, sagte K., der sich übrigens wirklich
müde fühlte, »ich will gehen, wie kommt man zum Ausgang?« »Sie
haben sich doch nicht schon verirrt?« fragte der Gerichtsdiener erstaunt,
»Sie gehen hier bis zur Ecke und dann rechts den Gang hinunter geradeaus
zur Tür.« »Kommen Sie mit«, sagte K., »zeigen Sie mir den Weg, ich
werde ihn verfehlen, es sind hier so viele Wege.« »Es ist der einzige
Weg«, sagte der Gerichtsdiener nun schon vorwurfsvoll, »ich kann nicht
wieder mit Ihnen zurückgehen, ich muss doch meine Meldung vorbringen
und habe schon viel Zeit durch Sie versäumt.« »Kommen Sie mit!« wiederholte
K. jetzt schärfer, als habe er endlich den Gerichtsdiener auf einer
Unwahrheit ertappt. »Schreien Sie doch nicht so«, flüsterte der Gerichtsdiener,
»es sind ja hier überall Büros. Wenn Sie nicht allein zurückgehen
wollen, so gehen Sie noch ein Stückchen mit mir oder warten Sie hier,
bis ich meine Meldung erledigt habe, dann will ich ja gern mit Ihnen wieder
zurückgehen.« »Nein, nein«, sagte K., »ich werde nicht warten, und
Sie müssen jetzt mit mir gehen.« K. hatte sich noch gar nicht in
dem Raum umgesehen, in dem er sich befand, erst als jetzt eine der vielen
Holztüren, die ringsherum standen, sich öffnete, blickte er
hin. Ein Mädchen, das wohl durch K.s lautes Sprechen herbeigerufen
war, trat ein und fragte: »Was wünscht der Herr?« Hinter ihr in der
Ferne sah man im Halbdunkel noch einen Mann sich nähern. K. blickte
den Gerichtsdiener an. Dieser hatte doch gesagt, dass sich niemand um
K. kümmern werde, und nun kamen schon zwei, es brauchte nur wenig
und die Beamtenschaft wurde auf ihn aufmerksam, würde eine Erklärung
seiner Anwesenheit haben wollen. Die einzig verständliche und annehmbare
war die, dass er Angeklagter war und das Datum des nächsten Verhörs
erfahren wollte, gerade diese Erklärung aber wollte er nicht geben,
besonders da sie auch nicht wahrheitsgemäß war, denn er war
nur aus Neugierde gekommen oder, was als Erklärung noch unmöglicher
war, aus dem Verlangen, festzustellen, dass das Innere dieses Gerichtswesens
ebenso widerlich war wie sein Äußeres. Und es schien ja, dass
er mit dieser Annahme recht hatte, er wollte nicht weiter eindringen,
er war beengt genug von dem, was er bisher gesehen hatte, er war gerade
jetzt nicht in der Verfassung, einem höheren Beamten gegenüberzutreten,
wie er hinter jeder Tür auftauchen konnte, er wollte weggehen, und
zwar mit dem Gerichtsdiener oder allein, wenn es sein musste.
Aber
sein stummes Dastehen musste auffallend sein, und wirklich sahen ihn das
Mädchen und der Gerichtsdiener derartig an, als ob in der nächsten
Minute irgendeine große Verwandlung mit ihm geschehen müsse,
die sie zu beobachten nicht versäumen wollten. Und in der Türöffnung
stand der Mann, den K. früher in der Ferne bemerkt hatte, er hielt
sich am Deckbalken der niedrigen Tür fest und schaukelte ein wenig
auf den Fußspitzen, wie ein ungeduldiger Zuschauer. Das Mädchen
aber erkannte doch zuerst, dass das Benehmen K.s in einem leichten Unwohlsein
seinen Grund hatte, sie brachte einen Sessel und fragte: »Wollen Sie sich
nicht setzen?« K. setzte sich sofort und stützte, um noch besseren
Halt zu bekommen, die Ellbogen auf die Lehnen. »Sie haben ein wenig Schwindel,
nicht?« fragte sie ihn. Er hatte nun ihr Gesicht nahe vor sich, es hatte
den strengen Ausdruck, wie ihn manche Frauen gerade in ihrer schönsten
Jugend haben. »Machen Sie sich darüber keine Gedanken«, sagte sie,
»das ist hier nichts Außergewöhnliches, fast jeder bekommt
einen solchen Anfall, wenn er zum ersten Mal herkommt. Sie sind zum ersten
Mal hier? Nun ja, das ist also nichts Außergewöhnliches. Die
Sonne brennt hier auf das Dachgerüst, und das heiße Holz macht
die Luft so dumpf und schwer. Der Ort ist deshalb für Büroräumlichkeiten
nicht sehr geeignet, so große Vorteile er allerdings sonst bietet.
Aber was die Luft betrifft, so ist sie an Tagen großen Parteienverkehrs,
und das ist fast jeder Tag, kaum mehr atembar. Wenn Sie dann noch bedenken,
dass hier auch vielfach Wäsche zum Trocknen ausgehängt wird
man kann es den Mietern nicht gänzlich untersagen ,
so werden Sie sich nicht mehr wundern, dass Ihnen ein wenig übel
wurde. Aber man gewöhnt sich schließlich an die Luft sehr gut.
Wenn Sie zum Zweiten- oder dritten Mal herkommen, werden Sie das Drückende
hier kaum mehr spüren. Fühlen Sie sich schon besser?« K. antwortete
nicht, es war ihm zu peinlich, durch diese plötzliche Schwäche
den Leuten hier ausgeliefert zu sein, überdies war ihm, da er jetzt
die Ursachen seiner Übelkeit erfahren hatte, nicht besser, sondern
noch ein wenig schlechter. Das Mädchen merkte es gleich, nahm, um
K. eine Erfrischung zu bereiten, eine Hakenstange, die an der Wand lehnte,
und stieß damit eine kleine Luke auf, die gerade über K. angebracht
war und ins Freie führte. Aber es fiel so viel Ruß herein,
dass das Mädchen die Luke gleich wieder zuziehen und mit ihrem Taschentuch
die Hände K.s vom Ruß reinigen musste, denn K. war zu müde,
um das selbst zu besorgen. Er wäre gern hier ruhig sitzen geblieben,
bis er sich zum Weggehen genügend gekräftigt hatte, das musste
aber umso früher geschehen, je weniger man sich um ihn kümmern
würde. Nun sagte aber überdies das Mädchen: »Hier können
Sie nicht bleiben, hier stören wir den Verkehr « K. fragte
mit den Blicken, welchen Verkehr er denn hier störe »Ich werde
Sie, wenn Sie wollen, ins Krankenzimmer führen. Helfen Sie mir, bitte«,
sagte sie zu dem Mann in der Tür, der auch gleich näher kam.
Aber K. wollte nicht ins Krankenzimmer, gerade das wollte er ja vermeiden,
weiter geführt zu werden, je weiter er kam, desto ärger musste
es werden. Ich kann schon gehen«, sagte er deshalb und stand, durch das
bequeme Sitzen verwöhnt, zitternd auf. Dann aber konnte er sich nicht
aufrecht halten. »Es geht doch nicht«, sagte er kopfschüttelnd und
setzte sich seufzend wieder nieder. Er erinnerte sich an den Gerichtsdiener,
der ihn trotz allem leicht hinausführen könnte, aber der schien
schon längst weg zu sein, K. sah zwischen dem Mädchen und dem
Mann, die vor ihm standen, hindurch, konnte aber den Gerichtsdiener nicht
finden.
»Ich
glaube«, sagte der Mann, der übrigens elegant gekleidet war und besonders
durch eine graue Weste auffiel, die in zwei langen, scharfgeschnittenen
Spitzen endigte, »das Unwohlsein des Herrn geht auf die Atmosphäre
hier zurück, es wird daher am besten und auch ihm am liebsten sein,
wenn wir ihn nicht erst ins Krankenzimmer, sondern überhaupt aus
den Kanzleien hinausführen.« »Das ist es«, rief K. und fuhr vor lauter
Freude fast noch in die Rede des Mannes hinein, »mir wird gewiss sofort
besser werden, ich bin auch gar nicht so schwach, nur ein wenig Unterstützung
unter den Achseln brauche ich, ich werde Ihnen nicht viel Mühe machen,
es ist ja auch kein langer Weg, führen Sie mich nur zur Tür,
ich setze mich dann noch ein wenig auf die Stufen und werde gleich erholt
sein, ich leide nämlich gar nicht unter solchen Anfällen, es
kommt mir selbst überraschend. Ich bin doch auch Beamter und an Büroluft
gewöhnt, aber hier scheint es doch zu arg, Sie sagen es selbst. Wollen
Sie also die Freundlichkeit haben, mich ein wenig zu führen, ich
habe nämlich Schwindel, und es wird mir schlecht, wenn ich allein
aufstehe.« Und er hob die Schultern, um es den beiden zu erleichtern,
ihm unter die Arme zu greifen.
Aber
der Mann folgte der Aufforderung nicht, sondern hielt die Hände ruhig
in den Hosentaschen und lachte laut. »Sehen Sie«, sagte er zu dem Mädchen,
»ich habe also doch das Richtige getroffen. Dem Herrn ist nur hier nicht
wohl, nicht im allgemeinen.« Das Mädchen lächelte auch, schlug
aber dem Mann leicht mit den Fingerspitzen auf den Arm, als hätte
er sich mit K. einen zu starken Spaß erlaubt. »Aber was denken Sie
denn«, sagte der Mann noch immer lachend, »ich will ja den Herrn wirklich
hinausführen.« »Dann ist es gut«, sagte das Mädchen, indem sie
ihren zierlichen Kopf für einen Augenblick neigte. »Messen Sie dem
Lachen nicht zu viel Bedeutung zu«, sagte das Mädchen zu K., der,
wieder traurig geworden, vor sich hinstarrte und keine Erklärung
zu brauchen schien, »dieser Herr ich darf Sie doch vorstellen?«
(der Herr gab mit einer Handbewegung die Erlaubnis) »dieser Herr
also ist der Auskunftgeber. Er gibt den wartenden Parteien alle Auskunft,
die sie brauchen, und da unser Gerichtswesen in der Bevölkerung nicht
sehr bekannt ist, werden viele Auskünfte verlangt. Er weiß
auf alle Fragen eine Antwort, Sie können ihn, wenn Sie einmal Lust
dazu haben, daraufhin erproben. Das ist aber nicht sein einziger Vorzug,
sein zweiter Vorzug ist die elegante Kleidung. Wir, das heißt die
Beamtenschaft, meinten einmal, man müsse den Auskunftgeber, der immerfort,
und zwar als Erster, mit Parteien verhandelt, des würdigen ersten
Eindrucks halber, auch elegant anziehen. Wir anderen sind, wie Sie gleich
an mir sehen können, leider sehr schlecht und altmodisch angezogen;
es hat auch nicht viel Sinn, für die Kleidung etwas zu verwenden,
da wir fast unaufhörlich in den Kanzleien sind, wir schlafen ja auch
hier. Aber, wie gesagt, für den Auskunftgeber hielten wir einmal
schöne Kleidung für nötig. Da sie aber von unserer Verwaltung,
die in dieser Hinsicht etwas sonderbar ist, nicht erhältlich war,
machten wir eine Sammlung auch Parteien steuerten bei und
wir kauften ihm dieses schöne Kleid und noch andere. Alles wäre
jetzt vorbereitet, einen guten Eindruck zu machen, aber durch sein Lachen
verdirbt er es wieder und erschreckt die Leute.« »So ist es«, sagte der
Herr spöttisch, »aber ich verstehe nicht, Fräulein, warum Sie
dem Herrn alle unsere Intimitäten erzählen oder besser, aufdrängen,
denn er will sie ja gar nicht erfahren. Sehen Sie nur, wie er, offenbar
mit seinen eigenen Angelegenheiten beschäftigt, dasitzt.« K. hatte
nicht einmal Lust, zu widersprechen, die Absicht des Mädchens mochte
eine gute sein, sie war vielleicht darauf gerichtet, ihn zu zerstreuen
oder ihm die Möglichkeit zu geben, sich zu sammeln, aber das Mittel
war verfehlt. »Ich musste ihm Ihr Lachen erklären«, sagte das Mädchen.
»Es war ja beleidigend.« »Ich glaube, er würde noch ärgere Beleidigungen
verzeihen, wenn ich ihn schließlich hinausführe.« K. sagte
nichts, sah nicht einmal auf, er duldete es, dass die zwei über ihn
wie über eine Sache verhandelten, es war ihm sogar am liebsten. Aber
plötzlich fühlte er die Hand des Auskunftgebers an einem Arm
und die Hand des Mädchens am anderen. »Also auf, Sie schwacher Mann«,
sagte der Auskunftgeber. »Ich danke Ihnen beiden vielmals«, sagte K.,
freudig überrascht, erhob sich langsam und führte selbst die
fremden Hände an die Stellen, an denen er die Stütze am meisten
brauchte. »Es sieht so aus«, sagte das Mädchen leise in K.s Ohr,
während sie sich dem Gang näherten, »als ob mir besonders viel
daran gelegen wäre, den Auskunftgeber in ein gutes Licht zu stellen,
aber man mag es glauben, ich will doch die Wahrheit sagen. Er hat kein
hartes Herz. Er ist nicht verpflichtet, kranke Parteien hinauszuführen,
und tut es doch, wie Sie sehen. Vielleicht ist niemand von uns hartherzig,
wir wollten vielleicht alle gern helfen, aber als Gerichtsbeamte bekommen
wir leicht den Anschein, als ob wir hartherzig wären und niemandem
helfen wollten. Ich leide geradezu darunter.« »Wollen Sie sich nicht hier
ein wenig setzen?« fragte der Auskunftgeber, sie waren schon im Gang und
gerade vor dem Angeklagten, den K. früher angesprochen hatte. K.
schämte sich fast vor ihm, früher war er so aufrecht vor ihm
gestanden, jetzt mussten ihn zwei stützen, seinen Hut balancierte
der Auskunftgeber auf den gespreizten Fingern, die Frisur war zerstört,
die Haare hingen ihm in die schweißbedeckte Stirn. Aber der Angeklagte
schien nichts davon zu bemerken, demütig stand er vor dem Auskunftgeber,
der über ihn hinwegsah, und suchte nur seine Anwesenheit zu entschuldigen.
»Ich weiß«, sagte er, »dass die Erledigung meiner Anträge heute
noch nicht gegeben werden kann. Ich bin aber doch gekommen, ich dachte,
ich könnte doch hier warten, es ist Sonntag, ich habe ja Zeit und
hier störe ich nicht.« »Sie müssen das nicht so sehr entschuldigen«,
sagte der Auskunftgeber, »Ihre Sorgsamkeit ist ja ganz lobenswert, Sie
nehmen hier zwar unnötigerweise den Platz weg, aber ich will Sie
trotzdem, solange es mir nicht lästig wird, durchaus nicht hindern,
den Gang Ihrer Angelegenheit genau zu verfolgen. Wenn man Leute gesehen
hat, die ihre Pflicht schändlich vernachlässigten, lernt man
es, mit Leuten, wie Sie sind, Geduld zu haben. Setzen Sie sich.« »Wie
er mit den Parteien zu reden versteht«, flüsterte das Mädchen.
K. nickte, fuhr aber gleich auf, als ihn der Auskunftgeber wieder fragte:
»Wollen Sie sich nicht hier niedersetzen?« »Nein«, sagte K., »ich will
mich nicht ausruhen.« Er hatte das mit möglichster Bestimmtheit gesagt,
in Wirklichkeit hätte es ihm sehr wohl getan, sich niederzusetzen.
Er war wie seekrank. Er glaubte auf einem Schiff zu sein, das sich in
schwerem Seegang befand. Es war ihm, als stürze das Wasser gegen
die Holzwände, als komme aus der Tiefe des Ganges ein Brausen her,
wie von überschlagendem Wasser, als schaukle der Gang in der Quere
und als würden die wartenden Parteien zu beiden Seiten gesenkt und
gehoben. Desto unbegreiflicher war die Ruhe des Mädchens und des
Mannes, die ihn führten. Er war ihnen ausgeliefert, ließen
sie ihn los, so musste er hinfallen wie ein Brett. Aus ihren kleinen Augen
gingen scharfe Blicke hin und her, ihre gleichmäßigen Schritte
fühlte K., ohne sie mitzumachen, denn er wurde fast von Schritt zu
Schritt getragen. Endlich merkte er, dass sie zu ihm sprachen, aber er
verstand sie nicht, er hörte nur den Lärm, der alles erfüllte
und durch den hindurch ein unveränderlicher hoher Ton, wie von einer
Sirene, zu klingen schien. »Lauter«, flüsterte er mit gesenktem Kopf
und schämte sich, denn er wusste, dass sie laut genug, wenn auch
für ihn unverständlich, gesprochen hatten. Da kam endlich, als
wäre die Wand vor ihm durchrissen, ein frischer Luftzug ihm entgegen,
und er hörte neben sich sagen: »Zuerst will er weg, dann aber kann
man ihm hundertmal sagen, dass hier der Ausgang ist, und er rührt
sich nicht.« K. merkte, dass er vor der Ausgangstür stand, die das
Mädchen geöffnet hatte. Ihm war, als wären alle seine Kräfte
mit einemmal zurückgekehrt, um einen Vorgeschmack der Freiheit zu
gewinnen, trat er gleich auf eine Treppenstufe und verabschiedete sich
von dort aus von seinen Begleitern, die sich zu ihm hinabbeugten. »Vielen
Dank«, wiederholte er, drückte beiden wiederholt die Hände und
ließ erst ab, als er zu sehen glaubte, dass sie, an die Kanzleiluft
gewöhnt, die verhältnismäßig frische Luft, die von
der Treppe kam, schlecht ertrugen. Sie konnten kaum antworten, und das
Mädchen wäre vielleicht abgestürzt, wenn nicht K. äußerst
schnell die Tür geschlossen hätte. K. stand dann noch einen
Augenblick still, strich sich mit Hilfe eines Taschenspiegels das Haar
zurecht, hob seinen Hut auf, der auf dem nächsten Treppenabsatz lag
der Auskunftgeber hatte ihn wohl hingeworfen und lief dann
die Treppe hinunter, so frisch und in so langen Sprüngen, dass er
vor diesem Umschwung fast Angst bekam. Solche Überraschungen hatte
ihm sein sonst ganz gefestigter Gesundheitszustand noch nie bereitet.
Wollte etwa sein Körper revolutionieren und ihm einen neuen Prozess
bereiten, da er den alten so mühelos ertrug? Er lehnte den Gedanken
nicht ganz ab, bei nächster Gelegenheit zu einem Arzt zu gehen, jedenfalls
aber wollte er darin konnte er sich selbst beraten alle
künftigen Sonntagvormittage besser als diesen verwenden.
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