Als sie K. erkannte es an einer
Wegbiegung fast beim Wirtshaus waren, war es zu seinem Erstaunen schon völlig
finster. War er so lange fort gewesen? Doch nur ein, zwei Stunden etwa nach seiner
Berechnung, und am Morgen war er fortgegangen, und kein Essenbedürfnis hatte er gehabt,
und bis vor kurzem war gleichmäßige Tageshelle gewesen, erst jetzt die Finsternis.
»Kurze Tage, kurze Tage!« sagte er zu sich, glitt vom Schlitten und ging dem Wirtshaus
zu.
Oben auf der kleinen Vortreppe des Hauses stand, ihm sehr willkommen, der Wirt und
leuchtete mit erhobener Laterne ihm entgegen. Flüchtig an den Fuhrmann sich erinnernd,
blieb K. stehen, irgendwo hustete es im Dunkeln, das war er. Nun, er würde ihn ja
nächstens wieder sehen. Erst als er oben beim Wirt war, der demütig grüßte, bemerkte
er zu beiden Seiten der Tür je einen Mann. Er nahm die Laterne aus der Hand des Wirts und
beleuchtete die zwei; es waren die Männer, die er schon getroffen hatte und die Artur und
Jeremias angerufen worden waren. Sie salutierten jetzt. In Erinnerung an seine
Militärzeit, an diese glücklichen Zeiten, lachte er. »Wer seid ihr?« fragte er und sah
vom einen zum anderen. »Euere Gehilfen«, antworteten sie. »Es sind die Gehilfen«,
bestätigte leise der Wirt. »Wie?« fragte K. »ihr seid meine alten Gehilfen, die ich
nachkommen ließ, die ich erwarte?« Sie bejahten es. »Das ist gut«, sagte K. nach einem
Weilchen, »es ist gut, dass ihr gekommen seid.« »Übrigens«, sagte K. nach
einem weiteren Weilchen, »ihr habt euch sehr verspätet, ihr seid sehr nachlässig.«
»Es war ein weiter Weg«, sagte der eine. »Ein weiter Weg«, wiederholte K.,
»aber ich habe euch getroffen, wie ihr vom Schlosse kamt.« »Ja« sagten sie,
ohne weitere Erklärung. »Wo habt ihr die Apparate?« fragte K. »Wir haben keine«,
sagten sie. »Die Apparate, die ich euch anvertraut habe«, sagte K. »Wir haben keine«,
wiederholten sie. »Ach, seid ihr Leute!« sagte K., »versteht ihr etwas von
Landvermessung?« »Nein«, sagten sie. »Wenn ihr aber meine alten Gehilfen seid,
müsst ihr doch das verstehen«, sagte K. und schob sie vor sich ins Haus.
Sie saßen dann zu dritt ziemlich schweigsam in der Wirtsstube beim Bier, an einem
kleinen Tischchen, K. in der Mitte, rechts und links die Gehilfen. Sonst war nur ein Tisch
mit Bauern besetzt, ähnlich wie am Abend vorher. »Es ist schwer mit euch«, sagte K. und
verglich wie schon öfters ihre Gesichter, »wie soll ich euch denn unterscheiden? ihr
unterscheidet euch nur durch die Namen, sonst seid ihr einander ähnlich wie« er
stockte, unwillkürlich fuhr er dann fort , »sonst seid ihr einander ja ähnlich
wie Schlangen.« Sie lächelten. »Man unterscheidet uns sonst gut«, sagten sie zur
Rechtfertigung. »Ich glaube es«, sagte K., »ich war ja selbst Zeuge dessen, aber ich
sehe nur mit meinen Augen, und mit denen kann ich euch nicht unterscheiden. Ich werde euch
deshalb wie einen einzigen Mann behandeln und beide Artur nennen, so heißt doch einer von
euch. du etwa?« fragte K. den einen. »Nein«, sagte dieser, »ich heiße
Jeremias.« »Es ist ja gleichgültig«, sagte K., »ich werde euch beide Artur
nennen. Schicke ich Artur irgendwohin, so geht ihr beide, gebe ich Artur eine Arbeit, so
macht ihr sie beide, das hat zwar für mich einen großen Nachteil, dass ich euch nicht
für eine gesonderte Arbeit verwenden kann, aber dafür den Vorteil, dass ihr für alles,
was ich euch auftrage, gemeinsam ungeteilt die Verantwortung tragt. Wie ihr untereinander
die Arbeit aufteilt, ist mir gleichgültig, nur ausreden dürft ihr euch nicht
aufeinander, ihr seid für mich ein einziger Mann.« Sie überlegten das und sagten: »Das
wäre uns recht unangenehm.« »Wie denn nicht«, sagte K., »natürlich muss euch
das unangenehm sein, aber es bleibt so.« Schon ein Weilchen lang hatte K. einen der
Bauern den Tisch umschleichen sehen, endlich entschloss er sich, ging auf einen Gehilfen
zu und wollte ihm etwas zuflüstern. »Verzeiht«, sagte K., schlug mit der Hand auf den
Tisch und stand auf, »dies sind meine Gehilfen, und wir haben jetzt eine Besprechung.
Niemand hat das Recht, uns zu stören.« »O bitte, o bitte«, sagte der Bauer
ängstlich und ging rücklings zu seiner Gesellschaft zurück. »Dieses müsst ihr vor
allem beachten«, sagte K. dann wieder sitzend. »Ihr dürft mit niemandem ohne meine
Erlaubnis sprechen. Ich bin hier ein Fremder, und wenn ihr meine alten Gehilfen seid, dann
seid auch ihr Fremde. Wir drei Fremden müssen deshalb zusammenhalten, reicht mir
daraufhin eure Hände.« Allzu bereitwillig streckten sie K. entgegen. »Lasst euch die
Pratzen«, sagte er, »mein Befehl aber gilt. Ich werde jetzt schlafen gehen und auch euch
rate ich, das zu tun. Heute haben wir einen Arbeitstag versäumt, morgen muss die Arbeit
sehr frühzeitig beginnen. ihr müsst einen Schlitten zur Fahrt ins Schloss verschaffen
und um sechs Uhr hier vor dem Haus mit ihm bereitstehen.« »Gut«, sagte der eine.
Der andere aber fuhr dazwischen: »du sagst: Gut, und weißt doch, dass es unmöglich
ist.« »Ruhe«, sagte K., »ihr wollt wohl anfangen, euch voneinander zu
unterscheiden.« Doch nun sagte auch schon der Erste: »Er hat recht, es ist unmöglich,
ohne Erlaubnis darf kein Fremder ins Schloss.« »Wo muss man um die Erlaubnis
ansuchen?« »Ich weiß nicht, vielleicht beim Kastellan.« »Dann werden
wir dort telefonisch ansuchen, telefoniert sofort an den Kastellan, beide!« Sie liefen
zum Apparat, erlangten die Verbindung wie sie sich dort drängten! Im Äußerlichen
waren sie lächerlich folgsam und fragten, ob K. mit ihnen morgen ins Schloss
kommen dürfe. Das »Nein!« der Antwort hörte K. bis zu seinem Tisch. Die Antwort war
aber noch ausführlicher, sie lautete: »Weder morgen noch ein andermal.« »Ich
werde selbst telefonieren«, sagte K. und stand auf. Während K. und seine Gehilfen
bisher, abgesehen von dem Zwischenfall des einen Bauern, wenig beachtet worden waren,
erregte seine letzte Bemerkung allgemeine Aufmerksamkeit. Alle erhoben sich mit K., und
obwohl sie der Wirt zurückzudrängen suchte, gruppierten sie sich beim Apparat in engem
Halbkreis um ihn. Es überwog bei ihnen die Meinung, dass K. gar keine Antwort bekommen
werde. K. musste sie bitten, ruhig zu sein, er verlange nicht, ihre Meinungen zu hören.
Aus der Hörmuschel kam ein Summen, wie K. es sonst beim Telefonieren nie gehört
hatte. Es war, wie wenn sich aus dem Summen zahlloser kindlicher Stimmen aber auch
dieses Summen war keines, sondern war Gesang fernster, allerfernster Stimmen , wie
wenn sich aus diesem Summen in einer geradezu unmöglichen Weise eine einzige hohe, aber
starke Stimme bilde, die an das Ohr schlug, so, wie wenn sie fordere, tiefer einzudringen
als nur in das armselige Gehör. K. horchte, ohne zu telefonieren, den linken Arm hatte er
auf das Telefonpult gestützt und horchte so.
Er wusste nicht wie lange; so lange, bis ihn der Wirt am Rock zupfte, ein Bote sei für
ihn gekommen. »Weg!« schrie K. unbeherrscht, vielleicht in das Telefon hinein, denn nun
meldete sich jemand. Es entwickelte sich folgendes Gespräch: »Hier Oswald, wer dort?«
rief es, eine strenge, hochmütige Stimme, mit einem kleinen Sprachfehler, wie es K.
schien, den sie über sich selbst hinaus durch eine weitere Zugabe von Strenge
auszugleichen versuchte. K. zögerte, sich zu nennen, dem Telefon gegenüber war er
wehrlos, der andere konnte ihn niederdonnern, die Hörmuschel weglegen, und K. hatte sich
einen vielleicht nicht unwichtigen Weg versperrt. K.s Zögern machte den Mann ungeduldig.
»Wer dort?« wiederholte er und fügte hinzu: »Es wäre mir sehr lieb, wenn dortseits
nicht so viel telefoniert würde, erst vor einem Augenblick ist telefoniert worden.« K.
ging auf diese Bemerkung nicht ein und meldete mit einem plötzlichen Entschluss: »Hier
der Gehilfe des Herrn Landvermessers.« »Welcher Gehilfe? Welcher Herr? Welcher
Landvermesser?« K. fiel das gestrige Telefongespräch ein. »Fragen Sie Fritz«, sagte er
kurz. Es half, zu seinem eigenen Erstaunen. Aber mehr noch als darüber, dass es half,
staunte er über die Einheitlichkeit des Dienstes dort. Die Antwort war: »Ich weiß
schon. Der ewige Landvermesser. Ja, ja. Was weiter? Welcher Gehilfe?« »Josef«, sagte K.
Ein wenig störte ihn hinter seinem Rücken das Murmeln der Bauern; offenbar waren sie
nicht damit einverstanden, dass er sich nicht richtig meldete. K. hatte aber keine Zeit,
sich mit ihnen zu beschäftigen, denn das Gespräch nahm ihn sehr in Anspruch. »Josef?«
fragte es zurück. »Die Gehilfen heißen« eine kleine Pause, offenbar verlangte
er die Namen jemandem anderen ab »Artur und Jeremias.« »Das sind die neuen
Gehilfen«, sagte K. »Nein, das sind die alten.« »Es sind die neuen, ich aber
bin der alte, der dem Herrn Landvermesser heute nachkam.« »Nein!« schrie es nun.
»Wer bin ich also?« fragte K., ruhig wie bisher. Und nach einer Pause sagte die gleiche
Stimme mit dem gleichen Sprachfehler und war doch wie eine andere tiefere, achtungswertere
Stimme: »du bist der alte Gehilfe.«
K. horchte dem Stimmklang nach und überhörte dabei fast die Frage: »Was willst du?«
Am liebsten hätte er den Hörer schon weggelegt. Von diesem Gespräch erwartete er nichts
mehr. Nur gezwungen fragte er noch schnell: »Wann darf mein Herr ins Schloss kommen?«
»Niemals«, war die Antwort. »Gut«, sagte K. und hing den Hörer an.
Die Bauern hinter ihm waren schon ganz nahe an ihn herangerückt. Die Gehilfen waren,
mit vielen Seitenblicken nach ihm, damit beschäftigt, die Bauern von ihm abzuhalten. Es
schien aber nur Komödie zu sein, auch gaben die Bauern, von dem Ergebnis des Gesprächs
befriedigt, langsam nach. Da wurde ihre Gruppe von hinten mit raschem Schritt von einem
Mann geteilt, der sich vor K. verneigte und ihm einen Brief übergab. K. behielt den Brief
in der Hand und sah den Mann an, der ihm im Augenblick wichtiger schien. Es bestand eine
große Ähnlichkeit zwischen ihm und den Gehilfen, er war so schlank wie sie, ebenso knapp
gekleidet, auch so gelenkig und flink wie sie, aber doch ganz anders. Hätte K. doch
lieber ihn als Gehilfen gehabt! Ein wenig erinnerte er ihn an die Frau mit dem Säugling,
die er beim Gerbermeister gesehen hatte. Er war fast weiß gekleidet, das Kleid war wohl
nicht aus Seide, es war ein Winterkleid wie alle anderen, aber die Zartheit und
Feierlichkeit eines Seidenkleides hatte es. Sein Gesicht war hell und offen, die Augen
übergroß. Sein Lächeln war ungemein aufmunternd; er fuhr mit der Hand über sein
Gesicht, so, als wolle er dieses Lächeln verscheuchen, doch gelang ihm das nicht. »Wer
bist du?« fragte K. »Barnabas heiße ich«, sagte er. »Ein Bote bin ich.« Männlich
und doch sanft öffneten und schlossen sich seine Lippen beim Reden. »Gefällt es dir
hier?« fragte K. und zeigte auf die Bauern, für die er noch immer nicht an Interesse
verloren hatte und die er mit ihren förmlich gequälten Gesichtern der Schädel
sah aus, als sei er oben platt geschlagen worden, und die Gesichtszüge hatten sich im
Schmerz des Geschlagenwerdens gebildet , ihren wulstigen Lippen, ihren offenen
Mündern zusahen, aber doch auch wieder nicht zusahen, denn manchmal irrte ihr Blick ab
und blieb, ehe er zurückkehrte, an irgendeinem gleichgültigen Gegenstande haften, und
dann zeigte K. auch auf die Gehilfen, die einander umfasst hielten, Wange an Wange lehnten
und lächelten, man wusste nicht, ob demütig oder spöttisch, er zeigte ihm diese alle,
so, als stellte er ein ihm durch besondere Umstände aufgezwungenes Gefolge vor und
erwartete darin lag Vertraulichkeit, auf die kam es K. an , dass Barnabas
ständig unterscheiden werde zwischen ihm und ihnen. Aber Barnabas nahm in aller
Unschuld freilich, das war zu erkennen die Frage gar nicht auf, ließ sie über
sich ergehen, wie ein wohlerzogener Diener ein für ihn nur scheinbar bestimmtes Wort des
Herrn, blickte nur im Sinne der Frage umher, begrüßte durch Handwinken Bekannte unter
den Bauern und tauschte mit den Gehilfen ein paar Worte aus, das alles frei und
selbstständig, ohne sich mit ihnen zu vermischen. K. kehrte abgewiesen, aber nicht
beschämt zu dem Brief in seiner Hand zurück und öffnete ihn. Sein Wortlaut war:
»Sehr geehrter Herr! Sie sind, wie Sie wissen, in die herrschaftlichen Dienste
aufgenommen. Ihr nächster Vorgesetzter ist der Gemeindevorsteher des Dorfes, der Ihnen
auch alles Nähere über Ihre Arbeit und die Lohnbedingungen mitteilen wird und dem Sie
auch Rechenschaft schuldig sein werden. Trotzdem werde aber auch ich Sie nicht aus den
Augen verlieren. Barnabas, der Überbringer dieses Briefes, wird von Zeit zu Zeit bei
Ihnen nachfragen, um Ihre Wünsche zu erfahren und mir mitzuteilen. Sie werden mich immer
bereit finden, Ihnen, soweit es möglich ist, gefällig zu sein. Es liegt mir daran,
zufriedene Arbeiter zu haben.« Die Unterschrift war nicht leserlich, beigedruckt aber war
ihr: Der Vorstand der X. Kanzlei. »Warte!« sagte K. zu dem sich verbeugenden Barnabas,
dann rief er den Wirt, dass er ihm ein Zimmer zeige, er wollte mit dem Brief eine Zeit
lang allein sein. Dabei erinnerte er sich daran, dass Barnabas bei aller Zuneigung, die er
für ihn hatte, doch nichts anderes als ein Bote war, und ließ ihm Bier geben. Er gab
acht, wie er es annehmen würde, er nahm es offenbar sehr gern an und trank sogleich. Dann
ging K. mit dem Wirt. In dem Häuschen hatte man für K. nichts als ein kleines Dachzimmer
bereitstellen können, und selbst das hatte Schwierigkeiten gemacht, denn man hatte zwei
Mägde, die bisher dort geschlafen hatten, anderswo unterbringen müssen. Eigentlich hatte
man nichts anderes getan, als die Mägde weggeschafft, das Zimmer war sonst wohl
unverändert, keine Bettwäsche zu dem einzigen Bett, nur ein paar Polster und eine
Pferdedecke in dem Zustand, wie alles nach der letzten Nacht zurückgeblieben war. An der
Wand ein paar Heiligenbilder und Fotografien von Soldaten. Nicht einmal gelüftet war
worden, offenbar hoffte man, der neue Gast werde nicht lange bleiben, und tat nichts dazu,
ihn zu halten. K. war aber mit allem einverstanden, wickelte sich in die Decke, setzte
sich an den Tisch und begann bei einer Kerze, den Brief nochmals zu lesen.
Er war nicht einheitlich, es gab Stellen, wo mit ihm wie mit einem Freien gesprochen
wurde, dessen eigenen Willen man anerkennt, so war die Überschrift, so war die Stelle,
die seine Wünsche betraf. Es gab aber wieder Stellen, wo er offen oder versteckt als ein
kleiner, vom Sitz jenes Vorstandes kaum bemerkbarer Arbeiter behandelt wurde, der Vorstand
musste sich anstrengen, »ihn nicht aus den Augen zu verlieren«, sein Vorgesetzter war
nur der Dorfvorsteher, dem er sogar Rechenschaft schuldig war, sein einziger Kollege war
vielleicht der Dorfpolizist. Das waren zweifellos Widersprüche, sie waren so sichtbar,
dass sie beabsichtigt sein mussten. Den einer solchen Behörde gegenüber wahnwitzigen
Gedanken, dass hier Unentschlossenheit mitgewirkt habe, streifte K. kaum. Vielmehr sah er
darin eine ihm offen dargebotene Wahl, es war ihm überlassen, was er aus den Anordnungen
des Briefes machen wollte, ob er Dorfarbeiter mit einer immerhin auszeichnenden, aber nur
scheinbaren Verbindung mit dem Schloss sein wolle oder aber scheinbarer Dorfarbeiter, der
in Wirklichkeit sein ganzes Arbeitsverhältnis von den Nachrichten des Barnabas bestimmen
ließ. K. zögerte nicht zu wählen, hätte auch ohne die Erfahrungen, die er schon
gemacht hatte, nicht gezögert. Nur als Dorfarbeiter, möglichst weit den Herren vom
Schloss entrückt, war er im Stande, etwas im Schloss zu erreichen, diese Leute im Dorfe,
die noch so misstrauisch gegen ihn waren, würden zu sprechen anfangen, wenn er, wo nicht
ihr Freund, so doch ihr Mitbürger geworden war, und war er einmal ununterscheidbar von
Gerstäcker oder Lasemann und sehr schnell musste das geschehen, davon hing alles
ab , dann erschlossen sich ihm gewiss mit einem Schlag alle Wege, die ihm, wenn es
nur auf die Herren oben und ihre Gnade angekommen wäre, für immer nicht nur versperrt,
sondern unsichtbar geblieben wären. Freilich, eine Gefahr bestand, und sie war in dem
Brief genug betont, mit einer gewissen Freude war sie dargestellt, als sei sie
unentrinnbar. Es war das Arbeitersein. Dienst, Vorgesetzter, Arbeit, Lohnbestimmungen,
Rechenschaft, Arbeiter, davon wimmelte der Brief, und selbst, wenn anderes,
Persönlicheres gesagt war, war es von jenem Gesichtspunkt aus gesagt. Wollte K. Arbeiter
werden, so konnte er es werden, aber dann in allem furchtbaren Ernst, ohne jeden Ausblick
anderswohin. K. wusste, dass nicht mit wirklichem Zwang gedroht war, den fürchtete er
nicht und hier am wenigsten, aber die Gewalt der entmutigenden Umgebung, der Gewöhnung an
Enttäuschungen, die Gewalt der unmerklichen Einflüsse jedes Augenblicks, die fürchtete
er allerdings, aber mit dieser Gefahr musste er den Kampf wagen. Der Brief verschwieg ja
auch nicht, dass K., wenn es zu Kämpfen kommen sollte, die Verwegenheit gehabt hatte, zu
beginnen; es war mit Feinheit gesagt, und nur ein unruhiges Gewissen ein unruhiges,
kein schlechtes konnte es merken, es waren die drei Worte »wie Sie wissen«
hinsichtlich seiner Aufnahme in den Dienst. K. hatte sich gemeldet, und seither wusste er,
wie sich der Brief ausdrückte, dass er aufgenommen war.
K. nahm ein Bild von der Wand und hing den Brief an den Nagel; in diesem Zimmer würde
er wohnen, hier sollte der Brief hängen.
Dann stieg er in die Wirtsstube hinunter. Barnabas saß mit den Gehilfen bei einem
Tischchen. »Ach, da bist du«, sagte K. ohne Anlass, nur weil er froh war, Barnabas zu
sehen. Er sprang gleich auf. Kaum war K. eingetreten, erhoben sich die Bauern, um sich ihm
zu nähern, es war schon ihre Gewohnheit geworden, ihm immer nachzulaufen. »Was wollt ihr
denn immerfort von mir?« rief K. Sie nahmen es nicht übel und drehten sich langsam zu
ihren Plätzen zurück. Einer sagte im Abgehen zur Erklärung, leichthin, mit einem
undeutbaren Lächeln, das einige andere aufnahmen: »Man hört immer etwas Neues«, und er
leckte sich die Lippen, als sei das Neue eine Speise. K. sagte nichts Versöhnliches, es
war gut, wenn sie ein wenig Respekt vor ihm bekamen, aber kaum saß er bei Barnabas,
spürte er schon den Atem eines Bauern im Nacken; er kam, wie er sagte, das Salzfass zu
holen, aber K. stampfte vor Ärger auf, der Bauer lief denn auch ohne Salzfass weg. Es war
wirklich leicht, K. beizukommen, man musste zum Beispiel nur die Bauern gegen ihn hetzen,
ihre hartnäckige Teilnahme schien ihm böser als die Verschlossenheit der anderen, und
außerdem war es auch Verschlossenheit, denn hätte K. sich zu ihrem Tisch gesetzt, wären
sie gewiss dort nicht sitzen geblieben. Nur die Gegenwart des Barnabas hielt ihn ab, Lärm
zu machen. Aber er drehte sich doch noch drohend nach ihnen um, auch sie waren ihm
zugekehrt. Wie er sie aber so dasitzen sah, jeden auf seinem Platz, ohne sich miteinander
zu besprechen, ohne sichtbare Verbindung untereinander, nur dadurch miteinander verbunden,
dass sie alle auf ihn starrten, schien es ihm, als sei es gar nicht Bosheit, was sie ihn
verfolgen ließ; vielleicht wollten sie wirklich etwas von ihm und konnten es nur nicht
sagen, und war es nicht das, dann war es vielleicht nur Kindlichkeit, die hier zu Hause zu
sein schien; war nicht auch der Wirt kindlich, der ein Glas Bier, das er irgendeinem Gast
bringen sollte, mit beiden Händen hielt, stillstand, nach K. sah und einen Zuruf der
Wirtin überhörte, die sich aus dem Küchenfensterchen vorgebeugt hatte?
Ruhiger wandte sich K. an Barnabas, die Gehilfen hätte er gern entfernt, fand aber
keinen Vorwand. Übrigens blickten sie still auf ihr Bier. »Den Brief«, begann K.,
»habe ich gelesen. Kennst du den Inhalt?« »Nein«, sagte Barnabas, sein Blick
schien mehr zu sagen als seine Worte. Vielleicht täuschte sich K. hier im Guten, wie bei
den Bauern im Bösen, als das wohl Tuende seiner Gegenwart blieb. »Es ist auch von dir in
dem Brief die Rede, du sollst nämlich hie und da Nachrichten zwischen mir und dem
Vorstand vermitteln, deshalb hatte ich gedacht, dass du den Inhalt kennst.« »Ich
bekam«, sagte Barnabas, »nur den Auftrag, den Brief zu übergeben, zu warten, bis er
gelesen ist und, wenn es dir nötig scheint, eine mündliche oder schriftliche Antwort
zurückzubringen.« »Gut«, sagte K., »es bedarfkeines Schreibens, richte dem
Herrn Vorstand wie heißt er denn? Ich konnte die Unterschrift nicht lesen.«
»Klamm«, sagte Barnabas. »Richte also Herrn Klamm meinen Dank für die Aufnahme
aus wie auch für seine besondere Freundlichkeit, die ich als einer, der sich hier noch
gar nicht bewährt hat, zu schätzen weiß. Ich werde mich vollständig nach seinen
Absichten verhalten. Besondere Wünsche habe ich heute nicht.« Barnabas, der genau
aufgemerkt hatte, bat, den Auftrag vor K. wiederholen zu dürfen. K. erlaubte es, Barnabas
wiederholte alles wortgetreu. Dann stand er auf, um sich zu verabschieden.
Die ganze Zeit über hatte K. sein Gesicht geprüft, nun tat er es zum letzten Mal.
Barnabas war etwa so groß wie K., trotzdem schien sein Blick sich zu K. zu senken, aber
fast demütig geschah das, es war unmöglich, dass dieser Mann jemanden beschämte.
Freilich, er war nur ein Bote, kannte nicht den Inhalt der Briefe, die er auszutragen
hatte, aber auch sein Blick, sein Lächeln, sein Gang schien eine Botschaft zu sein,
mochte er auch von dieser nichts wissen. Und K. reichte ihm die Hand, was ihn offenbar
überraschte, denn er hatte sich nur verneigen wollen.
Gleich, als er gegangen war vor dem Öffnen der Türe hatte er noch ein wenig
mit der Schulter an der Tür gelehnt und mit einem Blick, der keinem Einzelnen mehr galt,
die Stube umfasst , sagte K. zu den Gehilfen: »Ich hole aus dem Zimmer meine
Aufzeichnungen, dann besprechen wir die nächste Arbeit.« Sie wollten mitgehen.
»Bleibt!« sagte K. Sie wollten noch immer mitgehen. Noch strenger musste K. den Befehl
wiederholen. Im Flur war Barnabas nicht mehr. Aber er war doch eben jetzt weggegangen.
Doch auch vor dem Haus neuer Schnee fiel sah K. ihn nicht. Er rief:
»Barnabas!« Keine Antwort. Sollte er noch im Haus sein? Es schien keine andere
Möglichkeit zu geben. Trotzdem schrie K. noch aus aller Kraft den Namen. Der Name
donnerte durch die Nacht. Und aus der Ferne kam nun doch eine schwache Antwort. So weit
war also Barnabas schon. K. rief ihn zurück und ging ihm gleichzeitig entgegen; wo sie
einander trafen, waren sie vom Wirtshaus nicht mehr zu sehen.
»Barnabas«, sagte K. und konnte ein Zittern seiner Stimme nicht bezwingen, »ich
wollte dir noch etwas sagen. Ich merke dabei, dass es doch recht schlecht eingerichtet
ist, dass ich nur auf dein zufälliges Kommen angewiesen bin, wenn ich etwas aus dem
Schloss brauche. Wenn ich dich jetzt nicht zufällig noch erreicht hätte wie du
fliegst, ich dachte du wärest noch im Haus , wer weiß, wie lange ich auf dein
nächstes Erscheinen hätte warten müssen.« »du kannst ja«, sagte Barnabas,
»den Vorstand bitten, dass ich immer zu bestimmten, von dir angegebenen Zeiten komme.«
»Auch das würde nicht genügen«, sagte K., »vielleicht will ich ein Jahr lang
gar nichts sagen lassen, aber gerade eine Viertelstunde nach deinem Weggehen etwas
Unaufschiebbares.« »Soll ich also«, sagte Barnabas, »dem Vorstand melden, dass
zwischen ihm und dir eine andere Verbindung hergestellt werden soll als durch mich?«
»Nein, nein«, sagte K., »ganz und gar nicht, ich erwähnte diese Sache nur
nebenbei, diesmal habe ich dich ja noch glücklich erreicht.« »Wollen wir«,
sagte Barnabas, »ins Wirtshaus zurückgehen, damit du mir dort den neuen Auftrag geben
kannst?« Schon hatte er einen Schritt weiter zum Haus hin gemacht. »Barnabas«, sagte
K., »es ist nicht nötig, ich gehe ein Stückchen Wegs mit dir.« »Warum willst
du nicht ins Wirtshaus gehen?« fragte Barnabas. »Die Leute stören mich dort«, sagte
K., »die Zudringlichkeit der Bauern hast du selbst gesehen.« »Wir können in
dein Zimmer gehen«, sagte Barnabas. »Es ist das Zimmer der Mägde«, sagte K.,
»schmutzig und dumpf; um dort nicht bleiben zu müssen, wollte ich ein wenig mit dir
gehen; du musst nur«, fügte K. hinzu, um sein Zögern endgültig zu überwinden, »mich
in dich einhängen lassen, denn du gehst sicherer.« Und K. hing sich an seinen Arm. Es
war ganz finster, sein Gesicht sah K. gar nicht, seine Gestalt undeutlich, den Arm hatte
er, schon ein Weilchen vorher, zu ertasten gesucht.
Barnabas gab nach, sie entfernten sich vom Wirtshaus. Freilich fühlte K., dass er
trotz größter Anstrengung gleichen Schritt mit Barnabas zu halten nicht im Stande war,
seine freie Bewegung hinderte, und dass unter gewöhnlichen Umständen schon an dieser
Nebensächlichkeit alles scheitern müsse, gar in Seitengassen wie jener, wo K. am
Vormittag im Schnee versunken war und aus der er nur von Barnabas getragen herauskommen
konnte. Doch hielt er solche Besorgnisse jetzt von sich fern, auch tröstete es ihn, dass
Barnabas schwieg; wenn sie schweigend gingen, dann konnte doch auch für Barnabas nur das
Weitergehen selbst den Zweck ihres Beisammenseins bilden.
Sie gingen, aber K. wusste nicht, wohin; nichts konnte er erkennen. Nicht einmal, ob
sie schon an der Kirche vorübergekommen waren, wusste er. Durch die Mühe, welche ihm das
bloße Gehen verursachte, geschah es, dass er seine Gedanken nicht beherrschen konnte.
Statt auf das Ziel gerichtet zu bleiben, verwirrten sie sich. Immer wieder tauchte die
Heimat auf, und Erinnerungen an sie erfüllten ihn. Auch dort stand auf dem Hauptplatz
eine Kirche, zum Teil war sie von einem alten Friedhof und dieser von einer hohen Mauer
umgeben. Nur sehr wenige Jungen hatten diese Mauer erklettert, auch K. war es noch nicht
gelungen. Nicht Neugier trieb sie dazu, der Friedhof hatte vor ihnen kein Geheimnis mehr.
Durch seine kleine Gittertür waren sie schon oft hineingekommen, nur die glatte, hohe
Mauer wollten sie bezwingen. An einem Vormittag der stille, leere Platz war von
Licht überflutet, wann hatte K. ihn je früher oder später so gesehen? gelang es
ihm überraschend leicht; an einer Stelle, wo er schon oft abgewiesen worden war,
erkletterte er, eine kleine Fahne zwischen den Zähnen, die Mauer im ersten Anlauf. Noch
rieselte Gerölle unter ihm ab, schon war er oben. Er rammte die Fahne ein, der Wind
spannte das Tuch, er blickte hinunter und in die Runde, auch über die Schulter hinweg,
auf die in der Erde versinkenden Kreuze; niemand war jetzt und hier größer als er.
Zufällig kam dann der Lehrer vorüber, trieb K. mit einem ärgerlichen Blick hinab. Beim
Absprung verletzte sich K. am Knie, nur mit Mühe kam er nach Hause, aber auf der Mauer
war er doch gewesen. Das Gefühl dieses Sieges schien ihm damals für ein langes Leben
einen Halt zu geben, was nicht ganz töricht gewesen war, denn jetzt, nach vielen Jahren
in der Schneenacht am Arm des Barnabas, kam es ihm zu Hilfe.
Er hing sich fester ein, fast zog ihn Barnabas, das Schweigen wurde nicht unterbrochen.
Von dem Weg wusste K. nur, dass sie, nach dem Zustand der Straße zu schließen, noch in
keine Seitengasse eingebogen waren. Er gelobte sich, durch keine Schwierigkeit des Weges
oder gar durch die Sorge um den Rückweg sich vom Weitergehen abhalten zu lassen. Um
schließlich weitergeschleift werden zu können, würde seine Kraft wohl noch ausreichen.
Und konnte denn der Weg unendlich sein? Bei Tag war das Schloss wie ein leichtes Ziel vor
ihm gelegen, und der Bote kannte gewiss den kürzesten Weg.
Da blieb Barnabas stehen. Wo waren sie? Ging es nicht mehr weiter? Würde Barnabas K.
verabschieden? Es würde ihm nicht gelingen. K. hielt Barnabas' Arm fest, dass es ihn fast
selbst schmerzte. Oder sollte das Unglaubliche geschehen sein, und sie waren schon im
Schloss oder vor seinen Toren? Aber sie waren ja, soweit K. wusste, gar nicht gestiegen.
Oder hatte ihn Barnabas einen so unmerklich ansteigenden Weg geführt? »Wo sind wir?«
fragte K. leise, mehr sich als ihn. »Zu Hause«, sagte Barnabas ebenso. »Zu Hause?«
»Jetzt aber gib acht, Herr, dass du nicht ausgleitest. Der Weg geht abwärts.«
»Abwärts?« »Es sind nur ein paar Schritte«, fügte er hinzu, und schon
klopfte er an eine Tür.
Ein Mädchen öffnete; sie standen an der Schwelle einer großen Stube fast im
Finstern, denn nur über einem Tisch links im Hintergrunde hing eine winzige Öllampe.
»Wer kommt mit dir, Barnabas?« fragte das Mädchen. »Der Landvermesser«, sagte er.
»Der Landvermesser«, wiederholte das Mädchen lauter zum Tisch hin. Daraufhin erhoben
sich dort zwei alte Leute, Mann und Frau, und noch ein Mädchen. Man begrüßte K.
Barnabas stellte ihm alle vor, es waren seine Eltern und seine Schwestern Olga und Amalia.
K. sah sie kaum an, man nahm ihm den nassen Rock ab, um ihn beim Ofen zu trocknen. K.
ließ es geschehen.
Also nicht sie waren zu Hause, nur Barnabas war zu Hause. Aber warum waren sie hier? K.
nahm Barnabas zur Seite und fragte: »Warum bist du nach Hause gegangen? Oder wohnt ihr
schon im Bereich des Schlosses?« »Im Bereich des Schlosses?« wiederholte
Barnabas, als verstehe er K. nicht. »Barnabas«, sagte K., »du wolltest doch aus dem
Wirtshaus ins Schloss gehen.« »Nein, Herr«, sagte Barnabas, »ich wollte nach
Hause gehen; ich gehe erst früh ins Schloss, ich schlafe niemals dort.« »So«,
sagte K., »du wolltest nicht ins Schloss gehen, nur hierher.« Matter schien ihm
sein Lächeln, unscheinbarer er selbst. »Warum hast du mir das nicht gesagt?«
»du hast mich nicht gefragt, Herr«, sagte Barnabas, »du wolltest mir nur noch
einen Auftrag geben, aber weder in der Wirtsstube noch in deinem Zimmer, da dachte ich, du
könntest mir den Auftrag ungestört hier bei meinen Eltern geben. Sie werden sich alle
gleich entfernen, wenn du es befiehlst; auch könntest du, wenn es dir bei uns besser
gefällt, hier übernachten. Habe ich nicht recht getan?« K. konnte nicht antworten. Ein
Missverständnis war es also gewesen, ein gemeines, niedriges Missverständnis, und K.
hatte sich ihm ganz hingegeben. Hatte sich bezaubern lassen von des Barnabas enger,
seidenglänzender Jacke, die dieser jetzt aufknöpfte und unter der ein grobes,
grauschmutziges, viel geflicktes Hemd erschien über der mächtigen, kantigen Brust eines
Knechtes. Und alles ringsum entsprach dem nicht nur, überbot es noch, der alte,
gichtische Vater, der mehr mit Hilfe der tastenden Hände als der sich langsam
schiebenden, steifen Beine vorwärts kam, die Mutter mit auf der Brust gefalteten Händen,
die wegen ihrer Fülle auch nur die winzigsten Schritte machen konnte. Beide, Vater und
Mutter, gingen schon, seitdem K. eingetreten war, aus ihrer Ecke auf ihn zu und hatten ihn
noch lange nicht erreicht. Die Schwestern, Blondinen, einander und dem Barnabas ähnlich,
aber mit härteren Zügen als Barnabas, große, starke Mägde, umstanden die Ankömmlinge
und erwarteten von K. irgendein Begrüßungswort. Er konnte aber nichts sagen; er hatte
geglaubt, hier im Dorf habe jeder für ihn Bedeutung, und es war wohl auch so, nur gerade
diese Leute hier bekümmerten ihn gar nicht. Wäre er im Stande gewesen, allein den Weg
ins Wirtshaus zu bewältigen, er wäre gleich fortgegangen. Die Möglichkeit, früh mit
Barnabas ins Schloss zu gehen, lockte ihn gar nicht. Jetzt in der Nacht, unbeachtet,
hätte er ins Schloss dringen wollen, von Barnabas geführt, aber von jenem Barnabas, wie
er ihm bisher erschienen war, einem Mann, der ihm näher war als alle, die er bisher hier
gesehen hatte, und von dem er gleichzeitig geglaubt hatte, dass er weit über seinen
sichtbaren Rang hinaus eng mit dem Schloss verbunden war. Mit dem Sohn dieser Familie
aber, zu der er völlig gehörte und mit der er schon beim Tisch saß, mit einem Mann, der
bezeichnenderweise nicht einmal im Schloss schlafen durfte, an seinem Arm am hellen Tag
ins Schloss zu gehen, war unmöglich, war ein lächerlich hoffnungsloser Versuch.
K. setzte sich auf eine Fensterbank, entschlossen, dort auch die Nacht zu verbringen
und keinen Dienst sonst von der Familie in Anspruch zu nehmen. Die Leute aus dem Dorf, die
ihn wegschickten oder die vor ihm Angst hatten, schienen ihm ungefährlicher, denn sie
verwiesen ihn im Grund auf ihn selbst, halfen ihm, seine Kräfte gesammelt zu halten;
solche scheinbare Helfer aber, die ihn, statt ins Schloss, dank einer kleinen Maskerade,
in ihre Familien führten, lenkten ihn ab, ob sie nun wollten oder nicht, arbeiteten an
der Zerstörung seiner Kräfte. Einen einladenden Zuruf vom Familientisch beachtete er gar
nicht, mit gesenktem Kopf blieb er auf seiner Bank.
Da stand Olga auf, die sanftere der Schwestern, auch eine Spur mädchenhafter
Verlegenheit zeigte sie, kam zu K. und bat ihn, zum Tisch zu kommen. Brot und Speck sei
dort vorbereitet, Bier werde sie noch holen. »Von wo?« fragte K. »Aus dem Wirtshaus«,
sagte sie. Das war K. sehr willkommen. Er bat sie, kein Bier zu holen, aber ihn ins
Wirtshaus zu begleiten, er habe dort noch wichtige Arbeiten liegen. Es stellte sich nun
aber heraus, dass sie nicht so weit, nicht in sein Wirtshaus gehen wollte, sondern in ein
anderes, viel näheres, den Herrenhof. Trotzdem bat K., sie begleiten zu dürfen,
vielleicht, so dachte er, findet sich dort eine Schlafgelegenheit; wie sie auch sein
mochte, er hätte sie dem besten Bett hier im Hause vorgezogen. Olga antwortete nicht
gleich, blickte sich nach dem Tisch um. Dort war der Bruder aufgestanden, nickte
bereitwillig und sagte: »Wenn der Herr es wünscht.« Fast hätte K. diese Zustimmung
dazu bewegen können, seine Bitte zurückzuziehen, nur Wertlosem konnte jener zustimmen.
Aber als nun die Frage besprochen wurde, ob man K. in das Wirtshaus einlassen werde, und
alle daran zweifelten, bestand er doch dringend darauf, mitzugehen, ohne sich aber die
Mühe zu nehmen, einen verständlichen Grund für seine Bitte zu erfinden; diese Familie
musste ihn hinnehmen, wie er war, er hatte gewissermaßen kein Schamgefühl vor ihr. Darin
beirrte ihn nur Amalia ein wenig mit ihrem ernsten, geraden, unrührbaren, vielleicht auch
etwas stumpfen Blick.
Auf dem kurzen Weg ins Wirtshaus K. hatte sich in Olga eingehängt und wurde von
ihr, er konnte sich nicht anders helfen, fast so gezogen wie früher von ihrem Bruder
erfuhr er, dass dieses Wirtshaus eigentlich nur für Herren aus dem Schloss
bestimmt sei, die dort, wenn sie etwas im Dorf zu tun hätten, äßen und sogar manchmal
übernachteten. Olga sprach mit K. leise und wie vertraut, es war angenehm, mit ihr zu
gehen, fast so wie mit dem Bruder. K. wehrte sich gegen das Wohlgefühl, aber es bestand.
Das Wirtshaus war äußerlich sehr ähnlich dem Wirtshaus, in dem K. wohnte. Es gab im
Dorf wohl überhaupt keine großen äußeren Unterschiede, aber kleine Unterschiede waren
doch gleich zu merken, die Vortreppe hatte ein Geländer, eine schöne Laterne war über
der Tür befestigt. Als sie eintraten, flatterte ein Tuch über ihren Köpfen, es war eine
Fahne mit den gräflichen Farben. Im Flur begegnete ihnen gleich, offenbar auf einem
beaufsichtigenden Rundgang befindlich, der Wirt; mit kleinen Augen, prüfend oder
schläfrig, sah er K. im Vorübergehen an und sagte: »Der Herr Landvermesser darf nur bis
in den Ausschank gehen.« »Gewiss«, sagte Olga, die sich K.s gleich annahm, »er
begleitet mich nur.« K. aber, undankbar, machte sich von Olga los und nahm den Wirt
beiseite. Olga wartete unterdessen geduldig am Ende des Flurs. »Ich möchte hier gerne
übernachten«, sagte K. »Das ist leider unmöglich«, sagte der Wirt. »Sie scheinen es
noch nicht zu wissen. Das Haus ist ausschließlich für die Herren vom Schloss bestimmt.«
»Das mag Vorschrift sein«, sagte K., »aber mich irgendwo in einem Winkel
schlafen zu lassen ist gewiss möglich.« »Ich würde Ihnen außerordentlich gern
entgegenkommen«, sagte der Wirt, »aber auch abgesehen von der Strenge der Vorschrift,
über die Sie nach Art eines Fremden sprechen, ist es auch deshalb undurchführbar, weil
die Herren äußerst empfindlich sind; ich bin überzeugt, dass sie unfähig sind,
wenigstens unvorbereitet, den Anblick eines Fremden zu ertragen; wenn ich Sie also hier
übernachten ließe und Sie durch einen Zufall und die Zufälle sind immer auf
Seiten der Herren entdeckt würden, wäre nicht nur ich verloren, sondern auch Sie
selbst. Es klingt lächerlich, aber es ist wahr.« Dieser hohe, fest zugeknöpfte Herr,
der, die eine Hand gegen die Wand gestemmt, die andere in die Hüfte, die Beine gekreuzt,
ein wenig zu K. herabgeneigt, vertraulich zu ihm sprach, schien kaum mehr zum Dorf zu
gehören, wenn auch noch sein dunkles Kleid nur bäuerisch festlich aussah. »Ich glaube
Ihnen vollkommen«, sagte K., »und auch die Bedeutung der Vorschrift unterschätze ich
gar nicht, wenn ich mich auch ungeschickt ausgedrückt habe. Nur auf eines will ich Sie
noch aufmerksam machen; ich habe im Schloss wertvolle Verbindungen und werde noch
wertvollere bekommen, sie sichern Sie gegen jede Gefahr, die durch mein Übernachten hier
entstehen könnte, und bürgen Ihnen dafür, dass ich im Stande bin, für eine kleine
Gefälligkeit vollwertig zu danken.« »Ich weiß«, sagte der Wirt und wiederholte
nochmals: »Das weiß ich.« Nun hätte K. sein Verlangen nachdrücklich stellen können,
aber gerade diese Antwort des Wirtes zerstreute ihn, deshalb fragte er nur: Ȇbernachten
heute viele Herren vom Schloss hier?« »In dieser Hinsicht ist es heute
vorteilhaft«, sagte der Wirt gewissermaßen lockend. »Es ist nur ein Herr geblieben.«
Noch immer konnte K. nicht drängen, hoffte nun auch schon, fast aufgenommen zu sein; so
fragte er nur noch nach dem Namen des Herrn. »Klamm«, sagte der Wirt nebenbei, während
er sich nach seiner Frau umdrehte, welche in sonderbar abgenützten, veralteten, mit
Rüschen und Falten überladenen, aber feinen städtischen Kleidern herangerauscht kam.
Sie wollte den Wirt holen, der Herr Vorstand habe irgendeinen Wunsch. Ehe der Wirt aber
ging, wandte er sich noch an K., als habe nicht mehr er selbst, sondern K. wegen des
Übernachtens zu entscheiden. K. konnte aber nichts sagen, besonders der Umstand, dass
gerade sein Vorgesetzter hier war, verblüffte ihn. Ohne dass er es sich selbst ganz
erklären konnte, fühlte er sich Klamm gegenüber nicht so frei wie sonst gegenüber dem
Schloss; von ihm hier ertappt zu werden, wäre für K. zwar kein Schrecken im Sinne des
Wirtes, aber doch eine peinliche Unzukömmlichkeit gewesen, so etwa, als würde er
jemandem, dem er zu Dankbarkeit verpflichtet war, leichtsinnig einen Schmerz bereiten;
dabei bedrückte es ihn schwer, zu sehen, dass sich in solcher Bedenklichkeit offenbar
schon die gefürchteten Folgen des Untergeordnetseins, des Arbeiterseins, zeigten und dass
er nicht einmal hier, wo sie deutlich auftraten, im Stande war, sie niederzukämpfen. So
stand er, zerbiss sich die Lippen und sagte nichts. Noch einmal, ehe der Wirt in einer
Tür verschwand, sah er zu K. zurück. Dieser sah ihm nach und ging nicht von der Stelle,
bis Olga kam und ihn fortzog. »Was wolltest du vom Wirt?« fragte Olga. »Ich wollte hier
übernachten«, sagte K. »Du wirst doch bei uns übernachten«, sagte Olga verwundert.
»Ja, gewiss«, sagte K. und überließ ihr die Deutung der Worte.
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