Amalias Strafe »Aber kurz darauf wurden wir schon von allen Seiten
mit Fragen wegen der Briefgeschichte überschüttet, es kamen Freunde und Feinde, Bekannte
und Fremde; man blieb aber nicht lange, die besten Freunde verabschiedeten sich am
allereiligsten. Lasemann, immer sonst langsam und würdig, kam herein, so, als wolle er
nur das Ausmaß der Stube prüfen, ein Blick im Umkreis, und er war fertig, es sah wie ein
schreckliches Kinderspiel aus, als Lasemann sich flüchtete und der Vater von anderen
Leuten sich losmachte und hinter ihm her eilte bis zur Schwelle des Hauses und es dann
aufgab; Brunswick kam und kündigte dem Vater; er wolle sich selbstständig machen, sagte
er ganz ehrlich, ein kluger Kopf, der den Augenblick zu nützen verstand; Kundschaften
kamen und suchten in Vaters Lagerraum ihre Stiefel hervor, die sie zur Reparatur hier
liegen hatten, zuerst versuchte der Vater, die Kundschaften umzustimmen und wir
alle unterstützten ihn nach unseren Kräften , später gab es der Vater auf und
half stillschweigend den Leuten beim Suchen, im Auftragsbuch wurde Zeile für Zeile
gestrichen, die Ledervorräte, welche die Leute bei uns hatten, wurden herausgegeben,
Schulden bezahlt, alles ging ohne den geringsten Streit, man war zufrieden, wenn es
gelang, die Verbindung mit uns schnell und vollständig zu lösen, mochte man dabei auch
Verluste haben, das kam nicht in Betracht. Und schließlich, was ja vorauszusehen war,
erschien Seemann, der Obmann der Feuerwehr; ich sehe die Szene noch vor mir: Seemann,
groß und stark, aber ein wenig gebeugt und lungenkrank, immer ernst, er kann gar nicht
lachen, steht vor meinem Vater, den er bewundert hat, dem er in vertrauten Stunden die
Stelle eines Obmannstellvertreters in Aussicht gestellt hat, und soll ihm nun mitteilen,
dass ihn der Verein verabschiedet und um Rückgabe des Diploms ersucht. Die Leute, die
gerade bei uns waren, ließen ihre Geschäfte ruhen und drängten sich im Kreis um die
zwei Männer. Seemann kann nichts sagen, klopft nur immerfort dem Vater auf die Schulter,
so, als wolle er dem Vater die Worte ausklopfen, die er selbst sagen soll und nicht finden
kann. Dabei lacht er immerfort, wodurch er wohl sich und alle ein wenig beruhigen will;
aber da er nicht lachen kann und man ihn noch niemals lachen gehört, fällt es niemandem
ein zu glauben, dass das ein Lachen sei. Der Vater aber ist von diesem Tag schon zu müde
und verzweifelt, um jemandem helfen zu können, ja, er scheint zu müde, um überhaupt
nachzudenken, worum es sich handelt. Wir waren ja alle in gleicher Weise verzweifelt, aber
da wir jung waren, konnten wir an einen solchen vollständigen Zusammenbruch nicht
glauben, immer dachten wir, dass in der Reihe der vielen Besucher endlich doch jemand
kommen werde, der Halt befiehlt und alles wieder zu einer rückläufigen Bewegung zwingt.
Seemann erschien uns in unserem Unverstand dafür besonders geeignet. Mit Spannung
warteten wir, dass sich aus diesem fortwährenden Lachen endlich das klare Wort loslösen
werde. Worüber war denn jetzt zu lachen, doch nur über das dumme Unrecht, das uns
geschah. Herr Obmann, Herr Obmann, sagen Sie es doch endlich den Leuten, dachten wir und
drängten uns an ihn heran, was ihn aber nur zu merkwürdigen Drehbewegungen veranlasste.
Endlich fing er, zwar nicht, um unsere geheimen Wünsche zu erfüllen, sondern um den
aufmunternden oder ärgerlichen Zurufen der Leute zu entsprechen, doch zu reden an. Noch
immer hatten wir Hoffnung. Er begann mit großem Lob des Vaters. Nannte ihn eine Zierde
des Vereins, ein unerreichbares Vorbild des Nachwuchses, ein unentbehrliches Mitglied,
dessen Ausscheiden den Verein fast zerstören müsse. Das war alles sehr schön; hätte er
doch hier geendet! Aber er sprach weiter. Wenn sich nun trotzdem der Verein entschlossen
habe, den Vater, vorläufig allerdings nur, um den Abschied zu ersuchen, werde man den
Ernst der Gründe erkennen, die den Verein dazu zwangen. Vielleicht hätte es ohne die
glänzenden Leistungen des Vaters am gestrigen Fest gar nicht so weit kommen müssen, aber
eben diese Leistungen hätten die amtliche Aufmerksamkeit besonders erregt; der Verein
stand jetzt in vollem Licht und müsse auf seine Reinheit noch mehr bedacht sein als
früher. Und nun war die Beleidigung des Boten geschehen, da habe der Verein keinen
anderen Ausweg gefunden, und er, Seemann, habe das schwere Amt übernommen, es zu melden.
Der Vater möge es ihm nicht noch mehr erschweren. Wie froh war Seemann, das
hervorgebracht zu haben, aus Zuversicht darüber war er nicht einmal mehr übertrieben
rücksichtsvoll, er zeigte auf das Diplom, das an der Wand hing, und winkte mit dem
Finger. Der Vater nickte und ging es holen, konnte es aber mit den zitternden Händen
nicht vom Haken bringen; ich stieg auf einen Sessel und half ihm. Und von diesem
Augenblick an war alles zu Ende; er nahm das Diplom nicht einmal mehr aus dem Rahmen,
sondern gab Seemann alles, wie es war. Dann setzte er sich in einen Winkel, rührte sich
nicht und sprach mit niemandem mehr, wir mussten mit den Leuten allein verhandeln, so gut
es ging.« »Und worin siehst du hier den Einfluss des Schlosses?« fragte K.
»Vorläufig scheint es noch nicht eingegriffen zu haben. Was du bisher erzählt hast, war
nur gedankenlose Ängstlichkeit der Leute, Freude am Schaden des Nächsten,
unzuverlässige Freundschaft, Dinge, die überall anzutreffen sind, und auf Seiten deines
Vaters allerdings auch wenigstens scheint es mir so eine gewisse
Kleinlichkeit; denn jenes Diplom, was war es? Bestätigung seiner Fähigkeiten, und die
behielt er doch, machten sie ihn unentbehrlich, desto besser, und er hätte dem Obmann die
Sache wirklich schwer nur dadurch gemacht, dass er ihm das Diplom gleich beim zweiten Wort
vor die Füße geworfen hätte. Besonders bezeichnend scheint mir aber, dass du Amalia gar
nicht erwähnst, Amalia, die doch alles verschuldet hatte, stand wahrscheinlich ruhig im
Hintergrund und betrachtete die Verwüstung.« »Nein«, sagte Olga, »niemandem
ist ein Vorwurf zu machen, niemand konnte anders handeln, das alles war schon Einfluss des
Schlosses.« »Einfluss des Schlosses«, wiederholte Amalia, die unvermerkt vom
Hofe her eingetreten war, die Eltern lagen längst zu Bett. »Schlossgeschichten werden
erzählt? Noch immer sitzt ihr beisammen? Und du hattest dich doch gleich verabschieden
wollen, K., und nun geht es schon auf zehn. Bekümmern dich denn solche Geschichten
überhaupt? Es gibt hier Leute, die sich von solchen Geschichten nähren, sie setzen sich
zusammen, so wie ihr hier sitzt, und traktieren sich gegenseitig; du scheinst mir aber
nicht zu diesen Leuten zu gehören.« »Doch«, sagte K., »ich gehöre genau zu
ihnen; dagegen machen Leute, die sich um solche Geschichten nicht bekümmern und nur
andere sich bekümmern lassen, nicht viel Eindruck auf mich.« »Nun ja«, sagte
Amalia, »aber das Interesse der Leute ist ja sehr verschiedenartig, ich hörte einmal von
einem jungen Mann, der beschäftigte sich mit den Gedanken an das Schloss bei Tag und
Nacht, alles andere vernachlässigte er, man fürchtete für seinen Alltagsverstand, weil
sein ganzer Verstand oben im Schloss war. Schließlich aber stellte es sich heraus, dass
er nicht eigentlich das Schloss, sondern nur die Tochter einer Aufwaschfrau in den
Kanzleien gemeint hatte, die bekam er nun allerdings und dann war alles wieder gut.«
»Der Mann würde mir gefallen, glaube ich«, sagte K. »Dass dir der Mann gefallen
würde«, sagte Amalia, »bezweifle ich, aber vielleicht seine Frau. Nun lasst euch aber
nicht stören, ich gehe allerdings schlafen, und auslöschen werde ich müssen, der Eltern
wegen; sie schlafen zwar gleich fest ein, aber nach einer Stunde ist schon der eigentliche
Schlaf zu Ende, und dann stört sie der kleinste Schein. Gute Nacht.« Und wirklich wurde
es gleich finster, Amalia machte sich wohl irgendwo auf der Erde beim Bett der Eltern ihr
Lager zurecht. »Wer ist denn dieser junge Mann, von dem sie sprach?« fragte K. »Ich
weiß nicht«, sagte Olga. »Vielleicht Brunswick, obwohl es für ihn nicht ganz passt,
vielleicht aber auch ein anderer. Es ist nicht leicht, sie genau zu verstehen, weil man
oft nicht weiß, ob sie ironisch oder ernst spricht. Meistens ist es ja ernst, aber es
klingt ironisch.« »Lass die Deutungen!« sagte K. »Wie kamst du denn in diese
große Abhängigkeit von ihr? War es schon vor dem großen Unglück so? Oder erst nachher?
Und hast du niemals den Wunsch, von ihr unabhängig zu werden? Und ist denn diese
Abhängigkeit irgendwie vernünftig begründet? Sie ist die Jüngste und hat als solche zu
gehorchen. Sie hat, schuldig oder unschuldig, das Unglück über die Familie gebracht.
Statt dafür jeden neuen Tag jeden von euch von neuem um Verzeihung zu bitten, trägt sie
den Kopf höher als alle, kümmert sich um nichts als knapp gnadenweise um die Eltern,
will in nichts eingeweiht werden, wie sie sich ausdrückt, und wenn sie endlich einmal mit
euch spricht, dann ist es meistens ernst, aber es klingt ironisch. Oder herrscht sie etwa
durch ihre Schönheit, die du manchmal erwähnst? Nun, ihr seid euch alle drei sehr
ähnlich, das aber, wodurch sie sich von euch zweien unterscheidet, ist durchaus zu ihren
Ungunsten, schon als ich sie zum ersten Mal sah, schreckte mich ihr stumpfer, liebloser
Blick ab. Und dann ist sie zwar die Jüngste, aber davon merkt man nichts in ihrem
Äußeren, sie hat das alterlose Aussehen der Frauen, die kaum altern, die aber auch kaum
jemals eigentlich jung gewesen sind. Du siehst sie jeden Tag, du merkst gar nicht die
Härte ihres Gesichtes. Darum kann ich auch Sortinis Neigung, wenn ich es überlege, nicht
einmal sehr ernst nehmen, vielleicht wollte er sie mit dem Brief nur strafen, aber nicht
rufen.« »Von Sortini will ich nicht reden«, sagte Olga. »Bei den Herren im
Schloss ist alles möglich, ob es nun um das schönste oder um das hässlichste Mädchen
geht. Sonst aber irrst du hinsichtlich Amalias vollkommen. Sieh, ich habe doch keinen
Anlass, dich für Amalia besonders zu gewinnen, und versuche ich es dennoch, tue ich es
nur deinetwegen. Amalia war irgendwie die Ursache unseres Unglücks, das ist gewiss, aber
selbst der Vater, der doch am schwersten von dem Unglück getroffen war und sich in seinen
Worten niemals sehr beherrschen konnte, gar zu Hause nicht, selbst der Vater hat Amalia
auch in den schlimmsten Zeiten kein Wort des Vorwurfs gesagt. Und das nicht etwa deshalb,
weil er Amalias Vorgehen gebilligt hätte; wie hätte er, ein Verehrer Sortinis, es
billigen können; nicht von der Ferne konnte er es verstehen; sich und alles, was er
hatte, hätte er Sortini wohl gern zum Opfer gebracht, allerdings nicht so, wie es jetzt
wirklich geschah, unter Sortinis wahrscheinlichem Zorn. Wahrscheinlichem Zorn, denn wir
erfuhren nichts mehr von Sortini; war er bisher zurückgezogen gewesen, so war er es von
jetzt ab, als sei er überhaupt nicht mehr. Und nun hättest du Amalia sehen sollen in
jener Zeit. Wir alle wussten, dass keine ausdrückliche Strafe kommen werde. Man zog sich
nur von uns zurück. Die Leute hier wie auch das Schloss. Während man aber den Rückzug
der Leute natürlich merkte, war vom Schloss gar nichts zu merken. Wir hatten ja früher
auch keine Fürsorge des Schlosses gemerkt, wie hätten wir jetzt einen Umschwung merken
können. Diese Ruhe war das Schlimmste. Bei weitem nicht der Rückzug der Leute, sie
hatten es ja nicht aus irgendeiner Überzeugung getan, hatten vielleicht auch gar nichts
Ernstliches gegen uns, die heutige Verachtung bestand noch gar nicht, nur aus Angst hatten
sie es getan, und jetzt warteten sie, wie es weiter ausgehen werde. Auch Not hatten wir
noch keine zu fürchten, alle Schuldner hatten uns gezahlt, die Abschlüsse waren
vorteilhaft gewesen, was uns an Lebensmitteln fehlte, darin halfen uns im geheimen
Verwandte aus, es war leicht, es war ja in der Erntezeit, allerdings Felder hatten wir
keine, und mitarbeiten ließ man uns nirgends, wir waren zum ersten Mal im Leben fast zum
Müßiggang verurteilt. Und nun saßen wir beisammen, bei geschlossenen Fenstern, in der
Hitze des Juli und August. Es geschah nichts. Keine Vorladung, keine Nachricht, kein
Bericht, kein Besuch, nichts.« »Nun«, sagte K., »da nichts geschah und auch
keine ausdrückliche Strafe zu erwarten war, wovor habt ihr euch gefürchtet? Was seid ihr
doch für Leute!« »Wie soll ich es dir erklären?« sagte Olga. »Wir fürchteten
nichts Kommendes, wir litten schon nur unter dem Gegenwärtigen, wir waren mitten in der
Bestrafung darin. Die Leute im Dorf warteten ja nur darauf, dass wir zu ihnen kämen, dass
der Vater seine Werkstatt wieder aufmachte, dass Amalia, die sehr schöne Kleider zu
nähen verstand, allerdings nur für die Vornehmsten, wieder zu Bestellungen käme, es tat
ja allen Leuten Leid, was sie getan hatten; wenn im Dorf eine angesehene Familie
plötzlich ganz ausgeschaltet wird, hat jeder irgendeinen Nachteil davon, sie hatten, als
sie sich von uns lossagten, nur ihre Pflicht zu tun geglaubt, wir hätten es an ihrer
Stelle auch nicht anders getan. Sie hatten ja auch nicht genau gewusst, worum es sich
gehandelt hatte, nur der Bote war, die Hand voll Papierfetzen, in den Herrenhof
zurückgekommen. Frieda hatte ihn ausgehen und dann wiederkommen gesehen, ein paar Worte
mit ihm gesprochen und das, was sie erfahren hatte, gleich verbreitet; aber wieder gar
nicht aus Feindseligkeit gegen uns, sondern einfach aus Pflicht, wie es im gleichen Falle
die Pflicht jedes anderen gewesen wäre. Und nun wäre den Leuten, wie ich schon sagte,
eine glückliche Lösung des Ganzen am willkommensten gewesen. Wenn wir plötzlich einmal
gekommen wären mit der Nachricht, dass alles schon in Ordnung sei, dass es zum Beispiel
nur ein inzwischen völlig aufgeklärtes Missverständnis gewesen sei oder dass es zwar
ein Vergehen gewesen sei, aber es sei schon durch die Tat gutgemacht oder selbst
das hätte den Leuten genügt dass es uns durch unsere Verbindungen ins Schloss
gelungen sei, die Sache niederzuschlagen; man hätte uns ganz gewiss wieder mit offenen
Armen aufgenommen, Küsse, Umarmungen, Feste hätte es gegeben, ich habe Derartiges bei
anderen einige Male erlebt. Aber nicht einmal eine solche Nachricht wäre nötig gewesen;
wenn wir nur freigekommen wären und uns angeboten, die alten Verbindungen wieder
aufgenommen hätten, ohne auch nur ein Wort über die Briefgeschichte zu verlieren, es
hätte genügt, mit Freude hätten alle auf die Besprechung der Sache verzichtet; es war
ja, neben der Angst, vor allem die Peinlichkeit der Sache gewesen, weshalb man sich von
uns getrennt hatte, einfach um nichts von der Sache zu hören, nicht von ihr zu sprechen,
nicht an sie denken, in keiner Weise von ihr berührt werden zu müssen. Wenn Frieda die
Sache verraten hatte, so hatte sie es nicht getan, um sich an ihr zu freuen, sondern um
sich und alle vor ihr zu bewahren, um die Gemeinde darauf aufmerksam zu machen, dass hier
etwas geschehen war, von dem man sich auf das sorgfältigste fernzuhalten hatte. Nicht wir
kamen hier als Familie in Betracht, sondern nur die Sache und wir nur der Sache wegen, in
die wir uns verflochten hatten. Wenn wir also nur wieder hervorgekommen wären, das
Vergangene ruhen gelassen hätten, durch unser Verhalten gezeigt hätten, dass wir die
Sache überwunden hatten, gleichgültig auf welche Weise, und die Öffentlichkeit so die
Überzeugung gewonnen hätte, dass die Sache, wie immer sie auch beschaffen gewesen sein
mag, nicht wieder zur Besprechung kommen werde, auch so wäre alles gut gewesen; überall
hätten wir die alte Hilfsbereitschaft gefunden, selbst wenn wir die Sache nur
unvollständig vergessen hätten, man hätte es verstanden und hätte uns geholfen, es
völlig zu vergessen. Stattdessen aber saßen wir zu Hause. Ich weiß nicht, worauf wir
warteten, auf Amalias Entscheidung wohl, sie hatte damals an jenem Morgen die Führung der
Familie an sich gerissen und hielt sie fest. Ohne besondere Veranstaltungen, ohne Befehle,
ohne Bitten, fast nur durch Schweigen. Wir anderen hatten freilich viel zu beraten, es war
ein fortwährendes Flüstern vom Morgen bis zum Abend, und manchmal rief mich der Vater in
plötzlicher Beängstigung zu sich, und ich verbrachte am Bett die halbe Nacht. Oder
manchmal hockten wir uns zusammen, ich und Barnabas, der ja erst sehr wenig von dem Ganzen
verstand und immerfort ganz glühend Erklärungen verlangte, immerfort die gleichen, er
wusste wohl, dass die sorgenlosen Jahre, die andere seines Alters erwarteten, für ihn
nicht mehr vorhanden waren, so saßen wir zusammen ganz ähnlich, K., wie wir zwei
jetzt und vergaßen, dass es Nacht wurde und wieder Morgen. Die Mutter war die
Schwächste von uns allen, wohl weil sie nicht nur das gemeinsame Leid, sondern auch noch
jedes einzelnen Leid mitgelitten hat, und so konnten wir mit Schrecken Veränderungen an
ihr wahrnehmen, die, wie wir ahnten, unserer ganzen Familie bevorstanden. Ihr bevorzugter
Platz war der Winkel eines Kanapees wir haben es längst nicht mehr , es
steht in Brunswicks großer Stube, dort saß sie und man wusste nicht genau, was es
war schlummerte oder hielt, wie die bewegten Lippen anzudeuten schienen, lange
Selbstgespräche. Es war ja so natürlich, dass wir immerfort die Briefgeschichte
besprachen, kreuz und quer, in allen sicheren Einzelheiten und allen unsicheren
Möglichkeiten, und dass wir immerfort im Aussinnen von Mitteln zur guten Lösung uns
übertrafen, es war natürlich und unvermeidlich, aber nicht gut, wir kamen ja dadurch
immerfort tiefer in das, dem wir entgehen wollten. Und was halfen denn diese noch so
ausgezeichneten Einfalle; keiner war ausführbar ohne Amalia, alle waren nur
Vorbereitungen, sinnlos dadurch, dass ihre Ergebnisse gar nicht bis zu Amalia kamen und,
wenn sie hingekommen wären, nichts anderes angetroffen hätten als Schweigen. Nun,
glücklicherweise verstehe ich heute Amalia besser als damals. Sie trug mehr als wir alle;
es ist unbegreiflich, wie sie es ertragen hat und noch heute unter uns lebt. Die Mutter
trug vielleicht unser aller Leid, sie trug es, weil es über sie hereingebrochen ist, und
sie trug es nicht lange; dass sie es heute noch irgendwie trägt, kann man nicht sagen,
und schon damals war ihr Sinn verwirrt. Aber Amalia trug nicht nur das Leid, sondern hatte
auch den Verstand, es zu durchschauen, wir sahen nur die Folgen, sie sah in den Grund, wir
hofften auf irgendwelche kleinen Mittel, sie wusste, das alles entschieden war, wir hatten
zu flüstern, sie hatte nur zu schweigen, Aug in Aug mit der Wahrheit stand sie und lebte
und ertrug dieses Leben damals wie heute. Wie viel besser ging es uns in aller unserer Not
als ihr. Wir mussten freilich unser Haus verlassen; Brunswick bezog es, man wies uns diese
Hütte zu, mit einem Handkarren brachten wir unser Eigentum in einigen Fahrten hier
herüber, Barnabas und ich zogen, der Vater und Amalia halfen hinten nach, die Mutter, die
wir gleich anfangs hergebracht hatten, empfing uns, auf einer Kiste sitzend, immer mit
leisem Jammern. Aber ich erinnere mich, dass wir, selbst während der mühevollen Fahrten
die auch sehr beschämend waren, denn öfters begegneten wir Erntewagen, deren
Begleitung vor uns verstummte und die Blicke wandte , dass wir, Barnabas und ich,
selbst während dieser Fahrten es nicht unterlassen konnten, von unseren Sorgen und
Plänen zu sprechen, dass wir im Gespräch manchmal stehen blieben und erst das
Hallo! des Vaters uns an unsere Pflicht wieder erinnerte. Aber alle
Besprechungen änderten auch nach der Übersiedlung unser Leben nicht, nur dass wir jetzt
allmählich auch die Armut zu fühlen bekamen. Die Zuschüsse der Verwandten hörten auf,
unsere Mittel waren fast zu Ende, und gerade in jener Zeit begann die Verachtung für uns,
wie du sie kennst, sich zu entwickeln. Man merkte, dass wir nicht die Kraft hatten, uns
aus der Briefgeschichte herauszuarbeiten, und man nahm uns das sehr übel, man
unterschätzte nicht die Schwere unseres Schicksals, obwohl man es nicht genau kannte, man
wusste, dass man selbst die Probe wahrscheinlich nicht besser bestanden hätte als wir,
aber umso notwendiger war es, sich von uns völlig zu trennen; man hätte, wenn wir es
überwunden hätten, uns entsprechend hoch geehrt, da es uns aber nicht gelungen war, tat
man das, was man bisher nur vorläufig getan hatte, endgültig: Man schloss uns aus jedem
Kreise aus. Nun sprach man von uns nicht mehr wie von Menschen, unser Familienname wurde
nicht mehr genannt; wenn man von uns sprechen musste, nannte man uns nach Barnabas, dem
Unschuldigsten von uns, selbst unsere Hütte geriet in Verruf, und wenn du dich prüfst,
wirst du gestehen, dass auch du beim ersten Eintritt die Berechtigung dieser Verachtung zu
merken glaubtest; später, als wieder manchmal Leute zu uns kamen, rümpften sie die Nase
über ganz belanglose Dinge, etwa darüber, dass die kleine Öllampe dort über dem Tisch
hing. Wo sollte sie denn anders hängen als über dem Tisch, ihnen aber erschien es
unerträglich. Hängten wir aber die Lampe anderswohin, änderte sich doch nichts an ihrem
Widerwillen. Alles, was wir waren und hatten, traf die gleiche Verachtung.«
|