»Nun galt es, wieder irgendeine Beschäftigung für
den Vater zu finden, für die er noch fähig war, irgendetwas, was ihn zumindest in dem
Glauben erhielt, dass es dazu diene, die Schuld von der Familie abzuwälzen. Etwas
Derartiges zu finden war nicht schwer, so zweckdienlich wie das Sitzen vor Bertuchs Garten
war im Grunde alles, aber ich fand etwas, was sogar mir einige Hoffnung gab. Wann immer
bei Ämtern oder Schreibern oder sonst wo von unserer Schuld die Rede gewesen war, war
immer wieder nur die Beleidigung des Sortinischen Boten erwähnt worden, weiter wagte
niemand zu dringen. Nun, sagte ich mir, wenn die allgemeine Meinung, sei es auch nur
scheinbar, nur von der Botenbeleidigung weiß, ließe sich, sei es auch wieder nur
scheinbar, alles wieder gutmachen, wenn man den Boten versöhnen könnte. Es ist ja keine
Anzeige eingelaufen, wie man erklärt, noch kein Amt hat also die Sache in der Hand, und
es steht demnach dem Boten frei, für seine Person, und um mehr handelt es sich nicht, zu
verzeihen. Das alles konnte ja keine entscheidende Bedeutung haben, war nur Schein und
konnte wieder nichts anderes ergeben, aber dem Vater würde es doch Freude machen, und die
vielen Auskunftgeber, die ihn so gequält hatten, könnte man damit vielleicht zu seiner
Genugtuung ein wenig in die Enge treiben. Zuerst musste man freilich den Boten finden. Als
ich meinen Plan dem Vater erzählte, wurde er zuerst sehr ärgerlich, er war nämlich
äußerst eigensinnig geworden, zum Teil glaubte er während der Krankheit hatte
sich das entwickelt , dass wir ihn immer am letzten Erfolg gehindert hätten: zuerst
durch Einstellung der Geldunterstützung, jetzt durch Zurückhalten im Bett, zum Teil war
er gar nicht mehr fähig, fremde Gedanken völlig aufzunehmen. Ich hatte noch nicht zu
Ende erzählt, schon war mein Plan verworfen; nach seiner Meinung musste er bei Bertuchs
Garten weiter warten, und da er gewiss nicht mehr im Stande sein würde, täglich
hinaufzugehen, müssten wir ihn im Handkarren hinbringen. Aber ich ließ nicht ab, und
allmählich söhnte er sich mit dem Gedanken aus, störend war ihm dabei nur, dass er in
dieser Sache ganz von mir abhängig war, denn nur ich hatte damals den Boten gesehen, er
kannte ihn nicht. Freilich, ein Diener gleicht dem anderen, und völlig sicher dessen,
dass ich jenen wieder erkennen würde, war auch ich nicht. Wir begannen dann, in den
Herrenhof zu gehen und unter der Dienerschaft dort zu suchen. Es war zwar ein Diener
Sortinis gewesen, und Sortini kam nicht mehr ins Dorf, aber die Herren wechselten häufig
die Diener, man konnte ihn Recht wohl in der Gruppe eines anderen Herrn finden, und wenn
er selbst nicht zu finden war, so konnte man doch vielleicht von den anderen Dienern
Nachricht über ihn bekommen. Zu diesem Zweck musste man allerdings allabendlich im
Herrenhof sein, und man sah uns nirgends gern, wie erst an einem solchen Ort; als zahlende
Gäste konnten wir ja auch nicht auftreten. Aber es zeigte sich, dass man uns doch
brauchen konnte; du weißt wohl, was für eine Plage die Dienerschaft für Frieda war, es
sind im Grunde meist ruhige Leute, durch leichten Dienst verwöhnt und schwerfällig
gemacht. Es möge dir gehen wie einem Diener heißt ein Segensspruch der
Beamten, und tatsächlich sollen, was Wohlleben betrifft, die Diener die eigentlichen
Herren im Schloss sein, sie wissen das auch zu würdigen und sind im Schloss, wo sie sich
unter seinen Gesetzen bewegen, still und würdig vielfach ist mir das bestätigt
worden , und man findet auch hier unter den Dienern noch Reste dessen, aber nur
Reste, sonst sind sie dadurch, dass die Schlossgesetze für sie im Dorf nicht mehr
vollständig gelten, wie verwandelt; ein wildes, unbotmäßiges, statt von den Gesetzen
von ihren unersättlichen Trieben beherrschtes Volk. Ihre Schamlosigkeit kennt keine
Grenzen, ein Glück für das Dorf, dass sie den Herrenhof nur über Befehl verlassen
dürfen, im Herrenhof selbst aber muss man mit ihnen auszukommen suchen; Frieda nun fiel
das sehr schwer, und so war es ihr sehr willkommen, dass sie mich dazu verwenden konnte,
die Diener zu beruhigen; seit mehr als zwei Jahren, zumindest zweimal in der Woche,
verbringe ich die Nacht mit den Dienern im Stall. Früher, als der Vater noch in den
Herrenhof mitgehen konnte, schlief er irgendwo im Ausschankzimmer und wartete so auf die
Nachrichten, die ich früh bringen würde. Es war wenig. Den gesuchten Boten haben wir bis
heute noch nicht gefunden, er soll noch immer in den Diensten Sortinis sein, der ihn sehr
hoch schätzt, und soll ihm gefolgt sein, als sich Sortini in entferntere Kanzleien
zurückzog. Meist haben ihn die Diener ebenso lange nicht gesehen wie wir, und wenn einer
ihn inzwischen doch gesehen haben will, ist es wohl ein Irrtum. So wäre also mein Plan
eigentlich misslungen und ist es doch nicht völlig, den Boten haben wir zwar nicht
gefunden, und dem Vater haben die Wege in den Herrenhof und die Übernachtungen dort,
vielleicht sogar das Mitleid mit mir, soweit er dessen noch fähig ist, leider den Rest
gegeben, und er ist schon seit fast zwei Jahren in diesem Zustand, in dem du ihn gesehen
hast, und dabei geht es ihm vielleicht noch besser als der Mutter, deren Ende wir täglich
erwarten und das sich nur dank der übermäßigen Anstrengung Amalias verzögert. Was ich
aber doch im Herrenhof erreicht habe, ist eine gewisse Verbindung mit dem Schloss;
verachte mich nicht, wenn ich sage, dass ich das, was ich getan habe, nicht bereue. Was
mag das für eine große Verbindung mit dem Schloss sein, wirst du dir vielleicht denken.
Und du hast recht; eine große Verbindung ist es nicht. Ich kenne jetzt zwar viele Diener,
die Diener aller der Herren fast, die in den letzten Jahren ins Dorf kamen, und wenn ich
einmal ins Schloss kommen sollte, so werde ich dort nicht fremd sein. Freilich, es sind
nur Diener im Dorf, im Schloss sind sie ganz anders und erkennen dort wahrscheinlich
niemand mehr und jemanden, mit dem sie im Dorf verkehrt haben, ganz besonders nicht,
mögen sie es auch im Stall hundertmal beschworen haben, dass sie sich auf ein Wiedersehen
im Schloss sehr freuen. Ich habe es ja übrigens auch schon erfahren, wie wenig allen
solche Versprechungen bedeuten. Aber das Wichtigste ist das ja gar nicht. Nicht nur durch
die Diener selbst habe ich eine Verbindung mit dem Schloss, sondern vielleicht und
hoffentlich auch noch so, dass jemand, der von oben mich und was ich tue beobachtet
und die Verwaltung der großen Dienerschaft ist freilich ein äußerst wichtiger und
sorgenvoller Teil der behördlichen Arbeit , dass dann derjenige, der mich so
beobachtet, vielleicht zu einem milderen Urteil über mich kommt als andere, dass er
vielleicht erkennt, dass ich in einer jämmerlichen Art zwar, doch auch für unsere
Familie kämpfe und die Bemühungen des Vaters fortsetze. Wenn man es so ansieht,
vielleicht wird man es mir dann auch verzeihen, dass ich von den Dienern Geld annehme und
für unsere Familie verwende. Und noch anderes habe ich erreicht, das allerdings machst
auch du zu meiner Schuld. Ich habe von den Knechten manches darüber erfahren, wie man auf
Umwegen, ohne das schwierige und jahrelang dauernde öffentliche Aufnahmeverfahren in die
Schlossdienste kommen kann, man ist dann zwar auch nicht öffentlicher Angestellter,
sondern nur ein heimlich und halb Zugelassener, man hat weder Rechte noch Pflichten, dass
man keine Pflichten hat, das ist das Schlimmere, aber eines hat man, da man doch in der
Nähe bei allem ist: Man kann günstige Gelegenheiten erkennen und benützen, man ist kein
Angestellter, aber zufällig kann sich irgendeine Arbeit finden, ein Angestellter ist
gerade nicht bei der Hand, ein Zuruf, man eilt herbei, und was man vor einem Augenblick
noch nicht war, man ist es geworden, ist Angestellter. Allerdings, wann findet sich eine
solche Gelegenheit? Manchmal gleich, kaum ist man hineingekommen, kaum hat man sich
umgesehen, ist die Gelegenheit schon da, es hat nicht einmal jeder die Geistesgegenwart,
sie so, als Neuling, gleich zu fassen, aber ein anderes Mal dauert es wieder mehr Jahre
als das öffentliche Aufnahmeverfahren, und regelrecht öffentlich aufgenommen kann ein
solcher Halbzugelassener gar nicht mehr werden. Bedenken sind hier also genug; sie
schweigen aber dem gegenüber, dass bei der öffentlichen Aufnahme sehr peinlich
ausgewählt wird und ein Mitglied einer irgendwie anrüchigen Familie von vornherein
verworfen ist, ein solcher unterzieht sich zum Beispiel diesem Verfahren, zittert
jahrelang wegen des Ergebnisses, von allen Seiten fragt man ihn erstaunt, seit dem ersten
Tag, wie er etwas derartig Aussichtsloses wagen konnte, er hofft aber doch, wie könnte er
sonst leben; aber nach vielen Jahren, vielleicht als Greis, erfährt er die Ablehnung,
erfährt, dass alles verloren ist und sein Leben vergeblich war. Auch hier gibt es
freilich Ausnahmen, darum wird man eben so leicht verlockt. Es kommt vor, dass gerade
anrüchige Leute schließlich aufgenommen werden, es gibt Beamte, welche förmlich gegen
ihren Willen den Geruch solchen Wildes lieben, bei den Aufnahmeprüfungen schnuppern sie
in der Luft, verziehen den Mund, verdrehen die Augen, ein solcher Mann scheint für sie
gewissermaßen ungeheuer appetitanreizend zu sein, und sie müssen sich sehr fest an die
Gesetzbücher halten, um dem widerstehen zu können. Manchmal hilft das allerdings dem
Mann nicht zur Aufnahme, sondern nur zur endlosen Ausdehnung des Aufnahmeverfahrens, das
dann überhaupt nicht beendet, sondern nach dem Tode des Mannes nur abgebrochen wird. So
ist also sowohl die gesetzmäßige Aufnahme als auch die andere voll offener und
versteckter Schwierigkeiten, und ehe man sich auf etwas Derartiges einlässt, ist es sehr
ratsam, alles genau zu erwägen. Nun, daran haben wir es nicht fehlen lassen, Barnabas und
ich. Immer, wenn ich aus dem Herrenhof kam, setzten wir uns zusammen, ich erzählte das
Neueste, was ich erfahren hatte, tagelang sprachen wir es durch, und die Arbeit in des
Barnabas Hand ruhte oft länger, als es gut war. Und hier mag ich eine Schuld in deinem
Sinne haben. Ich wusste doch, dass auf die Erzählungen der Knechte nicht viel Verlass
war. Ich wusste, dass sie niemals Lust hatten, mir vom Schloss zu erzählen, immer zu
anderem ablenkten, jedes Wort sich abbetteln ließen, dann aber freilich, wenn sie in Gang
waren, loslegten, Unsinn schwatzten, großtaten, einander in Übertreibungen und
Erfindungen überboten, sodass offenbar in dem endlosen Geschrei, in welchem einer den
anderen ablöste, dort im dunklen Stalle bestenfalls ein paar magere Andeutungen der
Wahrheit enthalten sein mochten. Ich aber erzählte dem Barnabas alles wieder, so wie ich
es mir gemerkt hatte, und er, der noch gar keine Fähigkeit hatte, zwischen Wahrem und
Erlogenem zu unterscheiden und infolge der Lage unserer Familie fast verdurstete vor
Verlangen nach diesen Dingen, er trank alles in sich hinein und glühte vor Eifer nach
Weiterem. Und tatsächlich ruhte auf Barnabas mein neuer Plan. Bei den Knechten war nichts
mehr zu erreichen. Der Bote Sortinis war nicht zu finden und würde niemals zu finden
sein, immer weiter schien sich Sortini und damit auch der Bote zurückzuziehen, oft geriet
ihr Aussehen und Name schon in Vergessenheit, und ich musste sie oft lange beschreiben, um
damit nichts zu erreichen, als dass man sich mühsam an sie erinnerte, aber darüber
hinaus nichts über sie sagen konnte. Und was mein Leben mit den Knechten betraf, so hatte
ich natürlich keinen Einfluss darauf, wie es beurteilt wurde, konnte nur hoffen, dass man
es so aufnehmen würde, wie es getan war, und dass dafür ein Geringes von der Schuld
unserer Familie abgezogen würde, aber äußere Zeichen dessen bekam ich nicht. Doch blieb
ich dabei, da ich für mich keine andere Möglichkeit sah, im Schloss etwas für uns zu
bewirken. Für Barnabas aber sah ich eine solche Möglichkeit. Aus den Erzählungen der
Knechte konnte ich, wenn ich dazu Lust hatte, und diese Lust hatte ich in Fülle,
entnehmen, dass jemand, der in Schlossdienste aufgenommen ist, sehr viel für seine
Familie erreichen kann. Freilich, was war an diesen Erzählungen Glaubwürdiges? Das war
unmöglich festzustellen, nur dass es sehr wenig war, war klar. Denn wenn mir zum Beispiel
ein Knecht, den ich niemals mehr sehen würde oder den ich, wenn ich ihn auch sehen
sollte, kaum wieder erkennen würde, feierlich zusicherte, meinem Bruder zu einer
Anstellung im Schloss zu verhelfen oder zumindest, wenn Barnabas sonst wie ins Schloss
kommen sollte, ihn zu unterstützen, also etwa ihn zu erfrischen denn nach den
Erzählungen der Knechte kommt es vor, dass Anwärter für Stellungen während der
überlangen Wartezeit ohnmächtig oder verwirrt werden und dann verloren sind, wenn nicht
Freunde für sie sorgen , wenn solches und vieles andere mir erzählt wurde, so
waren das wahrscheinlich berechtigte Warnungen, aber die zugehörigen Versprechungen waren
völlig leer. Für Barnabas nicht; zwar warnte ich ihn, ihnen zu glauben, aber schon, dass
ich sie ihm erzählte, war genügend, um ihn für meine Pläne einzunehmen. Was ich selbst
dafür anführte, wirkte auf ihn weniger, auf ihn wirkten hauptsächlich die Erzählungen
der Knechte. Und so war ich eigentlich gänzlich auf mich allein angewiesen, mit den
Eltern konnte sich überhaupt niemand außer Amalia verständigen, je mehr ich die alten
Pläne meines Vaters in meiner Art verfolgte, desto mehr schloss sich Amalia vor mir ab,
vor dir oder anderen spricht sie mit mir, allein niemals mehr, den Knechten im Herrenhof
war ich ein Spielzeug, das zu zerbrechen sie sich wütend anstrengten, kein einziges
vertrauliches Wort habe ich während der zwei Jahre mit einem von ihnen gesprochen, nur
Hinterhältiges oder Erlogenes oder Irrsinniges, blieb mir also nur Barnabas, und Barnabas
war noch sehr jung. Wenn ich bei meinen Berichten den Glanz in seinen Augen sah, den er
seitdem behalten hat, erschrak ich und ließ doch nicht ab, zu Großes schien mir auf dem
Spiel zu sein. Freilich, die großen, wenn auch leeren Pläne meines Vaters hatte ich
nicht, ich hatte nicht diese Entschlossenheit der Männer, ich blieb bei der
Wiedergutmachung der Beleidigung des Boten und wollte gar noch, dass man mir diese
Bescheidenheit als Verdienst anrechne. Aber was mir allein misslungen war, wollte ich
jetzt durch Barnabas anders und sicher erreichen. Einen Boten hatten wir beleidigt und ihn
aus den vorderen Kanzleien verscheucht; was lag näher, als in der Person des Barnabas
einen neuen Boten anzubieten, durch Barnabas die Arbeit des beleidigten Boten ausführen
zu lassen und dem Beleidigten es so zu ermöglichen, ruhig in der Ferne zu bleiben, wie
lange er wollte, wie lange er es zum Vergessen der Beleidigung brauchte. Ich merkte zwar
gut, dass in aller Bescheidenheit dieses Planes auch Anmaßung lag, dass es den Eindruck
erwecken konnte, als ob wir der Behörde diktieren wollten, wie sie Personalfragen ordnen
sollte, oder als ob wir daran zweifelten, dass die Behörde aus eigenem das Beste
anzuordnen fähig war und es sogar schon längst angeordnet hatte, ehe wir nur auf den
Gedanken gekommen waren, dass hier etwas getan werden könnte. Doch glaubte ich dann
wieder, dass es unmöglich sei, dass mich die Behörde so missverstehe oder dass sie, wenn
sie es tun sollte, es dann mit Absicht turn würde, das heißt, dass dann von vornherein
ohne nähere Untersuchung alles, was ich tue, verworfen sei. So ließ ich also nicht ab,
und der Ehrgeiz des Barnabas tat das seine. In dieser Zeit der Vorbereitungen wurde
Barnabas so hochmütig, dass er die Schusterarbeit für sich, den künftigen
Kanzleiangestellten, zu schmutzig fand; ja, dass er es sogar wagte, Amalia, wenn sie ihm,
selten genug, ein Wort sagte, zu widersprechen, und zwar grundsätzlich. Ich gönnte ihm
gern diese kurze Freude, denn mit dem ersten Tag, an welchem er ins Schloss ging, war
Freude und Hochmut, wie es leicht vorauszusehen gewesen war, gleich vorüber. Es begann
nun jener scheinbare Dienst, von dem ich dir schon erzählt habe. Erstaunlich war es, wie
Barnabas ohne Schwierigkeiten zum ersten Mal das Schloss oder richtiger jene Kanzlei
betrat, die sozusagen sein Arbeitsraum geworden ist. Dieser Erfolg machte mich damals fast
toll, ich lief, als es mir Barnabas abends beim Nachhausekommen zuflüsterte, zu Amalia,
packte sie, drückte sie in eine Ecke und küsste sie mit Lippen und Zähnen, dass sie vor
Schmerz und Schrecken weinte. Sagen konnte ich vor Erregung nichts, auch hatten wir ja
schon so lange nicht miteinander gesprochen, ich verschob es auf die nächsten Tage. An
den nächsten Tagen aber war freilich nichts mehr zu sagen. Bei dem so schnell Erreichten
blieb es auch. Zwei Jahre lang führte Barnabas dieses einförmige, herzbeklemmende Leben.
Die Knechte versagten gänzlich, ich gab Barnabas einen kleinen Brief mit, in dem ich ihn
der Aufmerksamkeit der Knechte empfahl, die ich gleichzeitig an ihre Versprechungen
erinnerte, und Barnabas, sooft er einen Knecht sah, zog den Brief heraus und hielt ihn ihm
vor, und wenn er auch wohl manchmal an Knechte geriet, die mich nicht kannten, und wenn
auch für die Bekannten seine Art, den Brief stumm vorzuzeigen denn zu sprechen
wagte er oben nicht , ärgerlich war, so war es doch schändlich, dass niemand ihm
half, und es war eine Erlösung, die wir aus eigenem uns freilich auch und längst hätten
verschaffen können, als ein Knecht, dem vielleicht der Brief schon einige Male
aufgedrängt worden war, ihn zusammenknüllte und in einen Papierkorb warf. Fast hätte er
dabei, so fiel mir ein, sagen können: Ähnlich pflegt ja auch ihr Briefe zu
behandeln. So ergebnislos aber diese ganze Zeit sonst war, auf Barnabas wirkte sie
günstig, wenn man es günstig nennen will, dass er vorzeitig alterte, vorzeitig ein Mann
wurde; ja, in manchem ernst und einsichtig über die Mannheit hinaus. Mich macht es oft
sehr traurig, ihn anzusehen und ihn mit dem Jungen zu vergleichen, der er noch vor zwei
Jahren war. Und dabei habe ich gar nicht den Trost und Rückhalt, den er mir als Mann
vielleicht geben könnte. Ohne mich wäre er kaum ins Schloss gekommen, aber seit er dort
ist, ist er von mir unabhängig. Ich bin seine einzige Vertraute, aber er erzählt mir
gewiss nur einen kleinen Teil dessen, was er auf dem Herzen hat. Er erzählt mir viel vom
Schloss, aber aus seinen Erzählungen, aus den kleinen Tatsachen, die er mitteilt, kann
man bei weitem nicht verstehen, wie ihn dieses so verwandelt haben könnte. Man kann
insbesondere nicht verstehen, warum er den Mut, den er als Junge bis zu unser aller
Verzweiflung hatte, jetzt als Mann dort oben so gänzlich verloren hat. Freilich, dieses
nutzlose Dastehen und Warten Tag für Tag und immer wieder von neuem und ohne jede
Aussicht auf Veränderung, das zermürbt und macht zweiflerisch und schließlich zu
anderem als zu diesem verzweifelten Dastehen sogar unfähig. Aber warum hat er auch
früher gar keinen Widerstand geleistet? Besonders, da er bald erkannte, dass ich recht
gehabt hatte und für den Ehrgeiz dort nichts zu holen war, wohl aber vielleicht für die
Besserung der Lage unserer Familie. Denn dort geht alles die Launen der Diener
ausgenommen sehr bescheiden zu, der Ehrgeiz sucht dort in der Arbeit Befriedigung,
und da dabei die Sache selbst das Übergewicht bekommt, verliert er sich gänzlich, für
kindliche Wünsche ist dort kein Raum. Wohl aber glaubte Barnabas, wie er mir erzählte,
deutlich zu sehen, wie groß die Macht und das Wissen selbst dieser doch recht
fragwürdigen Beamten war, in deren Zimmer er sein durfte. Wie sie diktierten, schnell,
mit halbgeschlossenen Augen, kurzen Handbewegungen, wie sie nur mit dem Zeigefinger ohne
jedes Wort die brummigen Diener abfertigten, die, in solchen Augenblicken schwer atmend,
glücklich lächelten, oder wie sie eine wichtige Stelle in ihren Büchern fanden, voll
darauf schlugen, und wie die anderen, soweit es in der Enge möglich war, herbeiliefen und
die Hälse danach streckten. Das und Ähnliches gab Barnabas große Vorstellungen von
diesen Männern, und er hatte den Eindruck, dass, wenn er so weit käme, von ihnen bemerkt
zu werden und mit ihnen ein paar Worte sprechen zu dürfen nicht als Fremder,
sondern als Kanzleikollege, allerdings untergeordneter Art , Unabsehbares für
unsere Familie erreicht werden könnte. Aber so weit ist es eben noch nicht gekommen, und
etwas, was ihn dem annähern könnte, wagt Barnabas nicht zu tun, obwohl er schon genau
weiß, dass er trotz seiner Jugend innerhalb unserer Familie durch die unglücklichen
Verhältnisse zu der verantwortungsschweren Stellung des Familienvaters selbst
hinaufgerückt ist. Und nun, um das Letzte noch zu gestehen: Vor einer Woche bist du
gekommen. Ich hörte im Herrenhof jemanden es erwähnen, kümmerte mich aber nicht darum;
ein Landvermesser war gekommen; ich wusste nicht einmal, was das ist. Aber am nächsten
Abend kommt Barnabas ich pflegte ihm sonst zu bestimmter Stunde ein Stück Weges
entgegenzugehen früher als sonst nach Hause, sieht Amalia in der Stube, zieht mich
deshalb auf die Straße hinaus, drückt dort das Gesicht auf meine Schulter und weint
minutenlang. Er ist wieder der kleine Junge von ehemals. Es ist ihm etwas geschehen, dem
er nicht gewachsen ist. Es ist, als hätte sich vor ihm plötzlich eine ganz neue Welt
aufgetan, und das Glück und die Sorgen aller dieser Neuheit kann er nicht ertragen. Und
dabei ist ihm nichts anderes geschehen, als dass er einen Brief an dich zur Bestellung
bekommen hat. Aber es ist freilich der erste Brief, die erste Arbeit, die er überhaupt je
bekommen hat.«
Olga brach ab. Es war still, bis auf das schwere, manchmal röchelnde Atmen der Eltern.
K. sagte nur leichthin, wie zur Ergänzung von Olgas Erzählung: »ihr habt euch mir
gegenüber verstellt. Barnabas überbrachte den Brief wie ein alter, viel beschäftigter
Bote, und du ebenso wie Amalia, die diesmal also mit euch einig war, tatet so, als sei der
Botendienst und die Briefe nur irgendein Nebenbei.« »du musst zwischen uns
unterscheiden«, sagte Olga. »Barnabas ist durch die zwei Briefe wieder ein glückliches
Kind geworden, trotz allen Zweifeln, die er an seiner Tätigkeit hat. Diese Zweifel hat er
nur für sich und mich; dir gegenüber aber sucht er seine Ehre darin, als wirklicher Bote
aufzutreten, so wie seiner Vorstellung nach wirkliche Boten auftreten. So musste ich ihm
zum Beispiel, obwohl doch jetzt seine Hoffnung auf einen Amtsanzug steigt, binnen zwei
Stunden seine Hose so ändern, dass sie der eng anliegenden Hose des Amtskleides
wenigstens ähnlich ist und er darin vor dir, der du in dieser Hinsicht natürlich noch
leicht zu täuschen bist, bestehen kann. Das ist Barnabas. Amalia aber missachtet wirklich
den Botendienst, und jetzt, nachdem er ein wenig Erfolg zu haben scheint, wie sie an
Barnabas und mir und unserem Beisammensitzen und Tuscheln leicht erkennen kann, jetzt
missachtet sie ihn noch mehr als früher. Sie spricht also die Wahrheit, lass dich niemals
täuschen, indem du daran zweifelst. Wenn aber ich, K., manchmal den Botendienst
herabgewürdigt habe, so geschah es nicht mit der Absicht, dich zu täuschen, sondern aus
Angst. Diese zwei Briefe, die durch des Barnabas Hand bisher gegangen sind, sind seit drei
Jahren das erste, allerdings noch genug zweifelhafte Gnadenzeichen, das unsere Familie
bekommen hat. Diese Wendung, wenn es eine Wendung ist und keine Täuschung
Täuschungen sind häufiger als Wendungen , ist mit deiner Ankunft hier im
Zusammenhang, unser Schicksal ist in eine gewisse Abhängigkeit von dir geraten,
vielleicht sind diese zwei Briefe nur ein Anfang, und des Barnabas Tätigkeit wird sich
über den dich betreffenden Botendienst hinaus ausdehnen das wollen wir hoffen,
solange wir es dürfen ; vorläufig aber zielt alles nur auf dich ab. Dort oben nun
müssen wir uns mit dem zufrieden geben, was man uns zuteilt, hier unten aber können wir
doch vielleicht auch selbst etwas tun, das ist: deine Gunst uns sichern oder wenigstens
vor deiner Abneigung uns bewahren oder, was das wichtigste ist, dich nach unseren Kräften
und Erfahrungen schützen, damit dir die Verbindung mit dem Schloss von der wir
vielleicht leben könnten nicht verloren geht. Wie dies alles nun am besten
einleiten? Dass du keinen Verdacht gegen uns fasst, wenn wir uns dir nähern, denn du bist
hier fremd und deshalb gewiss nach allen Seiten hin voll Verdachtes, voll berechtigten
Verdachtes. Außerdem sind wir ja verachtet und du von der allgemeinen Meinung
beeinflusst, besonders durch deine Braut; wie sollen wir zu dir vordringen, ohne uns zum
Beispiel, wenn wir es auch gar nicht beabsichtigen, gegen deine Braut zu stellen und dich
damit zu kränken. Und die Botschaften, die ich, ehe du sie bekamst, genau gelesen habe
Barnabas hat sie nicht gelesen, als Bote hat er es sich nicht erlaubt ,
schienen auf den ersten Blick nicht sehr wichtig, veraltet, nahmen sich selbst die
Wichtigkeit, indem sie dich auf den Gemeindevorsteher verwiesen. Wie sollten wir uns in
dieser Hinsicht dir gegenüber verhalten? Betonten wir ihre Wichtigkeit, machten wir uns
verdächtig, dass wir so offenbar Unwichtiges überschätzten und als Überbringer dieser
Nachrichten dir anpriesen, unsere Zwecke, nicht deine verfolgten, ja, wir konnten dadurch
die Nachrichten selbst in deinen Augen herabsetzen und dich so, sehr wider Willen,
täuschen. Legten wir aber den Briefen nicht viel Wert bei, machten wir uns ebenso
verdächtig, denn warum beschäftigten wir uns dann mit dem Zustellen dieser unwichtigen
Briefe, warum widersprachen einander unsere Handlungen und unsere Worte, warum täuschten
wir so nicht nur dich, den Adressaten, sondern auch unseren Auftraggeber, der uns gewiss
die Briefe nicht übergeben hatte, damit wir sie durch unsere Erklärungen beim Adressaten
entwerteten. Und die Mitte zwischen den Übertreibungen zu halten, also die Briefe richtig
zu beurteilen, ist ja unmöglich, sie wechseln selbst fortwährend ihren Wert, die
Überlegungen, zu denen sie Anlass geben, sind endlos, und wo man dabei gerade Halt macht,
ist nur durch den Zufall bestimmt, also auch die Meinung eine zufällige. Und wenn nun
noch die Angst um dich dazwischenkommt, verwirrt sich alles, du darfst meine Worte nicht
zu streng beurteilen. Wenn zum Beispiel, wie es einmal geschehen ist, Barnabas mit der
Nachricht kommt, dass du mit seinem Botendienst unzufrieden bist und er im ersten
Schrecken und leider auch nicht ohne Botenempfindlichkeit sich angeboten hat, von diesem
Dienst zurückzutreten, dann bin ich allerdings, um den Fehler gutzumachen, im Stande, zu
täuschen, zu lügen, zu betrügen, alles Böse zu tun, wenn es nur hilft. Aber das tue
ich dann, wenigstens nach meinem Glauben, so gut deinetwegen wie unseretwegen.«
Es klopfte. Olga lief zur Tür und sperrte auf. In das Dunkel fiel ein Lichtstreifen
aus einer Blendlaterne.
Der späte Besucher stellte flüsternde Fragen und bekam geflüsterte Antwort, wollte
sich aber damit nicht begnügen und in die Stube eindringen. Olga konnte ihn wohl nicht
mehr zurückhalten und rief deshalb Amalia, von der sie offenbar hoffte, dass diese, um
den Schlaf der Eltern zu schützen, alles aufwenden werde, um den Besucher zu entfernen.
Tatsächlich eilte sie auch schon herbei, schob Olga beiseite, trat auf die Straße und
schloss hinter sich die Tür. Es dauerte nur einen Augenblick, gleich kam sie wieder
zurück, so schnell hatte sie erreicht, was Olga unmöglich gewesen war.
K. erfuhr dann von Olga, dass der Besuch ihm gegolten hatte; es war einer der Gehilfen,
der ihn im Auftrag Friedas suchte. Olga hatte K. vor dem Gehilfen schützen wollen, wenn
K. seinen Besuch hier später Frieda gestehen wollte, mochte er es tun, aber es sollte
nicht durch den Gehilfen entdeckt werden. K. billigte das. Das Angebot Olgas aber, hier
die Nacht zu verbringen und auf Barnabas zu warten, lehnte er ab; an und für sich hätte
er es vielleicht angenommen, denn es war schon spät in der Nacht, und es schien ihm, dass
er jetzt, ob er wolle oder nicht, mit dieser Familie derart verbunden sei, dass ein
Nachtlager hier aus anderen Gründen vielleicht peinlich, mit Rücksicht auf diese
Verbundenheit aber das für ihn Natürlichste im ganzen Dorf sei, trotzdem lehnte er ab,
der Besuch des Gehilfen hatte ihn aufgeschreckt, es war ihm unverständlich, wie Frieda,
die doch seinen Willen kannte, und die Gehilfen, die ihn fürchten gelernt hatten, wieder
derart zusammengekommen waren, dass sich Frieda nicht scheute, einen Gehilfen um ihn zu
schicken, einen übrigens nur, während der andere wohl bei ihr geblieben war. Er fragte
Olga, ob sie eine Peitsche habe, die hatte sie nicht, aber eine gute Weidenrute hatte sie,
die nahm er, dann fragte er, ob es noch einen zweiten Ausgang aus dem Haus gebe, es gab
einen solchen Ausgang durch den Hof, nur musste man dann noch über den Zaun des
Nachbargartens klettern und durch diesen Garten gehen, ehe man auf die Straße kam.
Das wollte K. tun. Während ihn Olga durch den Hof und zum Zaun führte, suchte K. sie
schnell wegen ihrer Sorgen zu beruhigen, erklärte, dass er ihr wegen ihrer kleinen
Kunstgriffe in der Erzählung gar nicht böse sei, sondern sie sehr wohl verstehe, dankte
für das Vertrauen, das sie zu ihm hatte und durch ihre Erzählung bewiesen hatte, und
trug ihr auf, Barnabas gleich nach seiner Rückkehr in die Schule zu schicken, und sei es
noch in der Nacht. Zwar seien die Botschaften des Barnabas nicht seine einzige Hoffnung,
sonst stünde es schlimm um ihn, aber verzichten wolle er keineswegs auf sie, er wolle
sich an sie halten und dabei Olga nicht vergessen, denn noch wichtiger fast als die
Botschaften sei ihm Olga selbst, ihre Tapferkeit, ihre Umsicht, ihre Klugheit, ihre
Aufopferung für die Familie. Wenn er zwischen Olga und Amalia zu wählen hätte, würde
ihn das nicht viel Überlegung kosten. Und er drückte ihr noch herzlich die Hand,
während er sich schon auf den Zaun des Nachbargartens schwang.
|