Vor
dem dunklen Herrenhof stand eine kleine Gruppe Männer, zwei oder
drei hatten Handlaternen mit, sodass manche Gesichter kenntlich waren.
K. fand nur einen Bekannten, Gerstäcker, den Fuhrmann. Gerstäcker
begrüßte ihn mit der Frage: »du bist noch immer im Dorf?«
»Ja«, sagte K., »ich bin für die Dauer gekommen.« »Mich kümmert
es ja nicht«, sagte Gerstäcker, hustete kräftig und wandte sich
anderen zu.
Es
stellte sich heraus, dass alle auf Erlanger warteten. Erlanger war schon
angekommen, verhandelte aber, ehe er die Parteien empfing, noch mit Momus.
Das allgemeine Gespräch drehte sich darum, dass man nicht im Hause
warten durfte, sondern hier draußen im Schnee stehen musste. Es
war zwar nicht sehr kalt; trotzdem war es rücksichtslos, die Parteien
vielleicht stundenlang in der Nacht vor dem Haus zu lassen. Das war freilich
nicht die Schuld Erlangers, der vielmehr sehr entgegenkommend war, davon
kaum wusste und sich gewiss sehr geärgert hätte, wenn es ihm
gemeldet worden wäre. Es war die Schuld der Herrenhofwirtin, die
in ihrem schon krankhaften Streben nach Feinheit es nicht leiden wollte,
dass viele Parteien auf einmal in den Herrenhof kamen. »Wenn es schon
sein muss und sie kommen müssen«, pflegte sie zu sagen, »dann, um
des Himmels willen, nur immer einer hinter dem andern.« Und sie hatte
es durchgesetzt, dass die Parteien, die zuerst einfach in einem Korridor,
später auf der Treppe, dann im Flur, zuletzt im Ausschank gewartet
hatten, schließlich auf die Gasse hinausgeschoben worden waren.
Und selbst das genügte ihr noch nicht. Es war ihr unerträglich,
im eigenen Hause immerfort »belagert zu werden«, wie sie sich ausdrückte.
Es war ihr unverständlich, wozu es überhaupt Parteienverkehr
gab. »Um vorn die Haustreppe schmutzig zu machen«, hatte ihr einmal ein
Beamter auf ihre Frage, wahrscheinlich im Ärger, gesagt; ihr aber
war das sehr einleuchtend gewesen, und sie pflegte diesen Ausspruch gern
zu zitieren. Sie strebte danach, und dies begegnete sich nun schon mit
den Wünschen der Parteien, dass gegenüber dem Herrenhof ein
Gebäude aufgeführt werde, in welchem die Parteien warten konnten.
Am liebsten wäre es ihr gewesen, wenn auch die Parteienbesprechungen
und Verhöre außerhalb des Herrenhofes stattgefunden hätten,
aber dem widersetzten sich die Beamten, und wenn sich die Beamten ernstlich
widersetzten, so drang natürlich die Wirtin nicht durch, obwohl sie
in Nebenfragen kraft ihres unermüdlichen und dabei frauenhaft zarten
Eifers eine Art kleiner Tyrannei ausübte. Die Besprechungen und Verhöre
würde aber die Wirtin voraussichtlich auch weiterhin im Herrenhof
dulden müssen, denn die Herren aus dem Schloss weigerten sich, im
Dorfe in Amtsangelegenheiten den Herrenhof zu verlassen. Sie waren immer
in Eile, nur sehr wider Willen waren sie im Dorfe, über das unbedingt
Notwendige ihren Aufenthalt hier auszudehnen hatten sie nicht die geringste
Lust, und es konnte daher nicht von ihnen verlangt werden, nur mit Rücksicht
auf den Hausfrieden im Herrenhof, zeitweilig mit allen ihren Schriften
über die Straße in irgendein anderes Haus zu ziehen und so
Zeit zu verlieren. Am liebsten erledigten ja die Beamten die Amtssachen
im Ausschank oder in ihrem Zimmer, womöglich während des Essens
oder vom Bett aus vor dem Einschlafen oder morgens, wenn sie zu müde
waren, aufzustehen, und sich im Bett noch ein wenig strecken wollten.
Dagegen schien die Frage der Errichtung eines Wartegebäudes eines
günstigen Lösung sich zu nähern, freilich war es eine empfindliche
Strafe für die Wirtin man lachte ein wenig darüber ,
dass gerade die Angelegenheit des Wartegebäudes zahlreiche Besprechungen
nötig machte und die Gänge des Hauses kaum leer wurden.
Über
all diese Dinge unterhielt man sich halblaut unter den Wartenden, K. war
es auffallend, dass zwar der Unzufriedenheit genug war, niemand aber etwas
dagegen einzuwenden hatte, dass Erlanger die Parteien mitten in der Nacht
berief. Er fragte danach und erhielt die Auskunft, dass man dafür
Erlanger sogar sehr dankbar sein müsse. Es sei ja ausschließlich
sein guter Wille und die hohe Auffassung, die er von seinem Amte habe,
die ihn dazu bewegten, überhaupt ins Dorf zu kommen; er könnte
ja, wenn er wollte und es würde dies sogar den Vorschriften
vielleicht besser entsprechen , irgendeinen unteren Sekretär
schicken und von ihm die Protokolle aufnehmen lassen. Aber er weigerte
sich eben meistens, dies zu tun, wolle selbst alles sehen und hören,
müsse dann aber zu diesem Zweck seine Nächte opfern, denn in
seinem Amtsplan sei keine Zeit für Dorfreisen vorgesehen. K. wandte
ein, dass doch auch Klamm bei Tag ins Dorf komme und sogar mehrere Tage
hier bleibe; sei denn Erlanger, der doch nur Sekretär sei, oben unentbehrlicher?
Einige lachten gutmütig, andere schwiegen betreten, diese letzteren
bekamen das Übergewicht, und es wurde K. kaum geantwortet. Nur einer
sagte zögernd, natürlich sei Klamm unentbehrlich, im Schloss
wie im Dorf.
Da
öffnete sich die Haustür und Momus erschien zwischen zwei lampentragenden
Dienern. »Die Ersten, die zum Herrn Sekretär Erlanger vorgelassen
werden«, sagte er, »sind: Gerstäcker und K. Sind die beiden hier?«
Sie meldeten sich, aber noch vor ihnen schlüpfte Jeremias mit einem
»Ich bin hier Zimmerkellner«, von Momus lächelnd mit einem Schlag
auf die Schulter begrüßt, ins Haus. Ich werde auf Jeremias
mehr achten müssen, sagte sich K., wobei er sich dessen bewusst blieb,
dass Jeremias wahrscheinlich viel ungefährlicher war als Artur, der
im Schloss gegen ihn arbeitete. Vielleicht war es sogar klüger, sich
von ihnen als Gehilfen quälen zu lassen, als sie so unkontrolliert
umherstreichen und ihre Intrigen, für die sie eine besondere Anlage
zu haben schienen, frei betreiben zu lassen.
Als
K. an Momus vorüberkam, tat dieser, als erkenne er erst jetzt in
ihm den Landvermesser. »Ah, der Herr Landvermesser«, sagte er, »der, welcher
sich so ungern verhören lässt, drängt sich zum Verhör.
Bei mir wäre es damals einfacher gewesen. Nun freilich, es ist schwer,
die richtigen Verhöre auszuwählen.« Als K. auf diese Ansprache
hin stehen bleiben wollte, sagte Momus: »Gehen Sie, gehen Sie! Damals
hätte ich Ihre Antworten gebraucht, jetzt nicht.« Trotzdem sagte
K., erregt durch des Momus Benehmen: »ihr denkt nur an euch. Bloß
des Amtes wegen antworte ich nicht; weder damals noch heute.« Momus sagte:
»An wen sollen wir denn denken? Wer ist denn sonst noch hier? Gehen Sie!«
Im Flur empfing sie ein Diener und führte sie den K. schon bekannten
Weg über den Hof, dann durch das Tor und in den niedrigen, ein wenig
sich senkenden Gang. In den oberen Stockwerken wohnten offenbar nur die
höheren Beamten, die Sekretäre dagegen wohnten an diesem Gang,
auch Erlanger, obwohl er einer ihrer obersten war. Der Diener löschte
seine Laterne aus, denn hier war helle elektrische Beleuchtung. Alles
war hier klein, aber zierlich gebaut. Der Raum war möglichst ausgenützt.
Der Gang genügte knapp, aufrecht in ihm zu gehen. An den Seiten war
eine Tür fast neben der anderen. Die Seitenwände reichten nicht
bis zur Decke, dies wahrscheinlich aus Ventilationsrücksichten, denn
die Zimmerchen hatten wohl hier in dem tiefen, kellerartigen Gang keine
Fenster. Der Nachteil dieser nicht ganz schließenden Wände
war die Unruhe im Gang und notwendigerweise auch in den Zimmern. Viele
Zimmer schienen besetzt zu sein, in den meisten war man noch wach, man
hörte Stimmen, Hammerschläge, Gläserklingen. Doch hatte
man nicht den Eindruck besonderer Lustigkeit. Die Stimmen waren gedämpft,
man verstand kaum hier und da ein Wort, es schienen auch nicht Unterhaltungen
zu sein, wahrscheinlich diktierte nur jemand etwas oder las etwas vor,
gerade aus den Zimmern, aus denen der Klang von Gläsern und Tellern
kam, hörte man kein Wort, und die Hammerschläge erinnerten K.
daran, was ihm irgendwo erzählt worden war, dass manche Beamte, um
sich von der fortwährenden geistigen Anstrengung zu erholen, sich
zeitweilig mit Tischlerei, Feinmechanik und dergleichen beschäftigen.
Der Gang selbst war leer, nur vor einer Tür saß ein bleicher,
schmaler, großer Herr im Pelz, unter dem die Nachtwäsche hervorsah;
wahrscheinlich war es ihm im Zimmer zu dumpf geworden, so hatte er sich
herausgesetzt und las da eine Zeitung, aber nicht aufmerksam, gäl
nend ließ er öfters vom Lesen ab, beugte sich vor und blickte
den Gang entlang; vielleicht erwartete er eine Partei, die er vorgeladen
hatte und die zu kommen säumte. Als sie an ihm vorübergekommen
waren, sagte der Diener in Bezug auf den Herrn zu Gerstäcker: »Der
Pinzgauer!« Gerstäcker nickte. »Er ist schon lange nicht unten gewesen«,
sagte er. »Schon sehr lange nicht«, bestätigte der Diener.
Schließlich
kamen sie vor eine Tür, die nicht anders als die übrigen war
und hinter der doch, wie der Diener mitteilte, Erlanger wohnte. Der Diener
ließ sich von K. auf die Schulter heben und sah oben durch den freien
Spalt ins Zimmer. »Er liegt«, sagte der Diener herabsteigend, »auf dem
Bett, allerdings in Kleidern, aber ich glaube doch, dass er schlummert.
Manchmal überfällt ihn so die Müdigkeit, hier im Dorf,
bei der geänderten Lebensweise. Wir werden warten müssen. Wenn
er aufwacht, wird er läuten. Es ist allerdings schon vorgekommen,
dass er seinen ganzen Aufenthalt im Dorf verschlafen hat und nach dem
Aufwachen gleich wieder ins Schloss zurückfahren musste. Es ist ja
freiwillige Arbeit, die er hier leistet.« »Wenn er jetzt nur schon
lieber bis zu Ende schliefe«, sagte Gerstäcker, »denn wenn er nach
dem Aufwachen noch ein wenig Zeit zur Arbeit hat, ist er sehr unwillig
darüber, dass er geschlafen hat, sucht alles eilig zu erledigen,
und man kann sich kaum aussprechen.« »Sie kommen wegen der Vergebung
der Fuhren für den Bau?« fragte der Diener. Gerstäcker nickte,
zog den Diener beiseite und redete leise zu ihm; aber der Diener hörte
kaum zu, blickte über Gerstäcker, den er um mehr als Haupteslänge
überragte, hinweg und strich sich ernst und langsam das Haar.
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