Forever young? - Forever Junkie?

Die süchtige und kriminelle
Karriere des Wolfgang Ehlert

von Jürgen Oetting




Wie dieser Text entstand: Begegnung im Knast
 

Als der reichlich tätowierte, stämmige Gefangene Anfang des Jahres 2002 in meine "Beratungszelle" trat, schaute er mich kurz an und sagte dann: "Ich kenne dich." Nach einem kurzen Überraschungsmoment erkannte ich ihn auch: Wolfgang Ehlert (seinen Nachnamen hörte ich allerdings im Knast zum ersten Mal). Wir zwei waren uns in den vergangenen 32 Jahren immer mal wieder begegnet. Wir waren beide zur selben Zeit, so um 1970, am Rand der noch überschaubaren Kieler Drogenszene angekommen (die nach meiner Erinnerung schon damals nichts Avantgardistisches oder Revolutionäres hatte und auch vor Jahrzehnten schon arg nach Not, Gewalt und Verzweiflung roch). Wolfgang tauchte dann sehr schnell tief und "forever" in die Szene ein, ich soff und kiffte hin und wieder an ihrem Rande herum und irgendwann war auch damit Schluss - glücklicherweise, sonst wäre ich wohl heute eher sein Zellennachbar als sein Suchtberater.

Ich berate Süchtige in der Kieler Justizvollzugsanstalt, überwiegend solche Gefangenen, die Alkoholprobleme haben, aber gelegentlich auch Drogenabhängige (dafür ist grundsätzlich eine andere Beratungsstelle zuständig). Eigentlich ist inzwischen die herkömmliche Differenzierung zwischen Alkohol- und Drogenabhängigen unpassend geworden. Sehr viele Klienten sind polytoxikoman - sie konsumieren alles, was sie kriegen können, alles, was irgendwie "knallt". Aber im Strafvollzug ist es noch üblich, zwischen "Suchtberatung" (Alkoholprobleme) und "Drogenberatung" zu trennen. Die Schnittmenge der Klienten "landet" dann nach dem Zufallsprinzip auf irgendeiner Seite. Wolfgang jedenfalls kam zu mir.

Hauptsächlich und ursprünglich ging es ihm darum, mit meiner Hilfe eine stationäre Drogen-Entwöhnungsbehandlung zu organisieren. Die ist im Rahmen von "Therapie statt Strafe" (§ 35 Betäubungsmittelgesetz - BtMG) möglich, wenn einige Bedingungen erfüllt sind: Die, der Haftstrafe zu Grunde liegenden, Delikte müssen Verstöße gegen das BtMG oder als Beschaffungskriminalität erkennbar sein; die zu verbüßende Strafe beziehungsweise Reststrafe darf nicht länger als zwei Jahre betragen (Wolfgang ist derzeit zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren und sechs Monaten verurteilt, im Januar 2003 wird aber seine Reststrafe unter 24 Monaten liegen). Und natürlich müssen Richter und Staatsanwaltschaft "mitmachen".

Die Möglichkeit von "Therapie statt Strafe" führt bei meinen "Standardklienten", den Alkoholabhängigen, häufig zu großen Irritationen. Viele kommen im Glauben zu mir, sie könnten durch eine Entwöhnungsbehandlung das Gefängnis mit einer Klinik tauschen. Das ist aber für "Alkis" nicht möglich, nur für "Drogis". Alkoholabhängige, deren Straftat erkennbar mit dem Saufen zusammenhängt, können allenfalls nach Zweidritteln (als Ersttäter auch nach der Hälfte) ihrer Haftzeit entlassen werden und in eine Therapie gehen, wobei dann die Teilnahme an der Entwöhnungsbehandlung zur Bewährungsauflage wird. Der § 35 BtMG jedenfalls gilt nur für Drogenabhängige. Einerseits ist das aus dem Gesetzeszusammenhang (Betäubungsmittel) verständlich (Alkohol gilt als "Genussmittel"), andererseits ist es den Gefangenen schwer zu vermitteln. Ich komme bei dieser Frage jedenfalls immer in Erklärungsnöte, denn warum ist das so geregelt, wenn Sucht doch eine Krankheit sein soll?

Um eine Entwöhnungsbehandlung beginnen zu können, braucht man erst einmal eine Kostenzusage und dann natürlich einen Therapieplatz. Meine Aufgabe ist es, beides zu besorgen. Die zuständigen Kostenträger für Suchtbehandlungen sind in erster Linie die Rentenversicherungsanstalten, also die unterschiedlichen "Landesversicherungsanstalten" (LVA) oder die "Bundesversicherungsanstalt für Angestellte" (BfA) beziehungsweise die "Seekasse" oder andere ständische Rentenversicherungen. Wenn jemand nicht genügend Beiträge eingezahlt hat (oder schon in Rente ist), dann werden die Krankenkassen zuständig. Und wenn auch die nicht "dran" sind (wie bei fast allen Strafgefangenen, die während der Haft über die staatliche Heilfürsorge krankenversichert sind), dann muss das Sozialamt "löhnen". Man kann sich also vorstellen, dass die Beschaffung einer Kostenzusage ein ausführlicher bürokratischer Akt ist. Erst wenn diese Hürde überwunden ist, kann in einer Fachklinik ein Therapieplatz besorgt werden. Und dann muss der Klinik-Aufnahmetermin ja auch noch irgendwie mit dem (vorzeitigen) Haftentlassungtermin vereinbar sein.

Diese Klärungen brauchen also ihre Zeit. Aber sie dauern natürlich nicht ein ganzes Jahr (Wolfgang kam Anfang 2002 zu mir und seine Therapie beginnt frühestens Anfang 2003). Deshalb führe ich mit den vielen Gefangenen, die noch Monate oder Jahre warten müssen (oder gar keine klinische Behandlung anstreben) regelmäßig suchtberaterische Einzelgespräche. Da geht uns manchmal schon der Gesprächsstoff aus, denn immer und immer wieder kann (und soll) man ja nicht in der Vergangenheit graben, es ist ja schließlich keine Psychoanalyse, was da in der Suchtberatung stattfindet. Lösungsorientierte Gespräche haben aber auch ihre Grenzen. Denn zur Lösungsorientierten Gesprächsmethode gehören auch alltagsweltliche Erprobungen ("Hausaufgaben"). Das kann im Gefängnis nicht so toll funktionieren, denn der Knast soll ja nicht die zukünftige Alltagswelt der Klienten sein, dort gilt (zumindest unter den Gefangenen) ein Verhaltenskodex, mit dem man "draußen" nicht unbedingt (deliktfrei) zurecht kommt. Und über die Wirkungen und Gefahren von Alkohol und Drogen gibt es mit meinen Klienten auch nicht sehr Ausführliches besprechen, das wissen sie alles schon zur Genüge, es sind ja schließlich "praxiserprobte Experten".

Wolfgang und ich hatten also Zeit, wir konnten mindestens ein Mal pro Woche in meiner "Beratungszelle" (oder auch mal in seiner Zelle) miteinander reden. Und Wolfgang wollte über sein Leben reden. Am liebsten, das erzählte er schon im zweiten Gespräch, würde er ein Buch über seine Geschichte schreiben. Wolfgang schreibt viel, er macht sich ständig Notizen und hält auch bestimmte Stimmungen und Gedanken schriftlich fest. Aber eine ganze Lebensgeschichte aufschreiben? Das war schon ein gewaltiges Projekt, an das er sich nicht allein heran wagte. Also bot ich ihm meine Unterstützung an. Mich interessierte Wolfgangs Lebensgeschichte auch deshalb, weil sie eine Zeit lang - zumindest teilweise - neben meiner (an denselben Orten, mit denselben Leuten) her gelaufen war. Deshalb nahm ich die Gelegenheit gerne wahr. Es sind ja nicht mehr so viele Junkies aus den späten Hippiejahren da, die man treffen kann. Viele haben ihr Leben irgendwann auf "normale" Bahnen gebracht, manche sind längst tot, und drei oder vier von ihnen laufen sichtlich verelendet durch Kiel und würden mich nicht mehr erkennen. Jedenfalls könnte ich schwerlich mit ihnen ausführliche biografische Gespräche führen.

Mit Wolfgang hätte ich das in Freiheit vermutlich auch nicht gekonnt. Da hätte er dann wohl kaum die Zeit und die Konzentration für dieses Unternehmen aufbringen können, "draußen" hätte ihn seine Sucht (wie wir im folgenden Text noch erfahren werden) zu sehr beschäftigt und gebunden. Aber im Gefängnis gibt es reichlich Zeit. Also begannen wir. Die Basis der hier aufgeschriebenen Lebensgeschichte sind acht jeweils halbstündige Interviews, die ich mitschnitt und später auswertete, dazu kamen viele "freie" Unterhaltungen. Außerdem durfte ich einige Dokumente lesen, wie zum Beispiel das letzte Urteil, aus dem ich am Ende der Lebensgeschichte ausführlich zitiere. Natürlich liegt mir eine schriftliche Einverständniserklärung vor, in der mir Wolfgang Ehlert ausdrücklich gestattet, seine Lebensdaten und -schilderungen publizistisch zu verwerten..

Im Nebel von Sucht und Beschaffungskriminalität verzerren sich biografische Angaben. Manche der zeitlichen Abläufe, die Wolfgang schildert, passen bei ganz genauer Betrachtung nicht ganz, manche Angaben sind auch sehr lückenhaft. Ich habe die meisten dieser Widersprüche nicht bereinigt, denn immerhin "denkt" Wolfgang ja auch so unklar über sein Leben. Da die Lebensgeschichte keineswegs vollständig und zwingend chronologisch aufgeschrieben ist, sind die Ungereimtheiten hier wohl kaum erkennbar, aber sie sollten trotzdem erwähnt werden: "Biografischer Nebel" ist typisch für Suchtkarrieren - in meiner Interpretation taucht dieser "Nebel" im Rahmen von "Problem-Trance" wieder auf.

Während unserer letzten zwei/drei Interviews wurden die Gespräche anstrengender, stockender, weniger informativ. Wir bemerkten, dass sich nur noch Schauplätze und beteiligte Personen änderten - aber nicht die Verhaltensmuster, nicht ddie Lebensweise. Wiederholungen reihten sich aneinander. Auch darauf komme ich in der Interpretation zurück.

Der vorliegende Text ist dreigeteilt. Nach dieser Einleitung breite ich Wolfgangs Lebensgeschichte aus, wobei sehr viel "Originalton" aus den Interviews verwendet (kursiv) wird. Die biografische Schilderung endet mit einem langen Zitat aus der letzten Urteilbegründung des Gerichtes, das Wolfgang für dreieinhalb Jahre in den Knast schickte. Danach folgt meine Interpretation der Wolfgang-Geschichte. Ursprünglich wollte ich Wolfgangs "süchtige und kriminelle Karriere" unter Bezugnahme auf einige kriminologische Standard-Theorien interpretieren. Aber je mehr ich mich mit Wolfgangs Biografie und kriminologischen Erklärungsmodellen beschäftigte, desto klarer wurde mir, dass dieser Fall kaum kriminologisch/kriminalsoziologisch zu erhellen ist. Daher zog ich mich auf eine radikale Labeling-(Etikettierungs-)Deutung zurück, nach der Wolfgangs Kriminalität durch das Betäubungsmittelgesetz konstruiert und aufrechterhalten wurde.

Die banale kriminalsoziologische Erkenntnis, nach der Wolfgang bereits im Elternhaus lernte, Suchtmittelkonsum und körperliche Gewalt als Lösungsstrategie zu verwenden, ist mir zwar der kurzen Erwähnung wert, verlockte mich aber nicht zu einer weitergehenden lerntheoretischen Auslegung. Den zirkulären Suchtprozessen jedoch, in denen Wolfgang jahrzehntelang gefangen war, widme ich mich in der abschließenden Interpretation ausführlich. Dort verzichte ich völlig auf direkte oder indirekte Zitierung von Fachbüchern - ich beabsichtige nicht, hier einen wissenschaftlichen Text vorzulegen. Deshalb fehlen auch Literaturhinweise, mit einer Ausnahme: Das Buch von Rudolf Klein, "Berauschte Sehnsucht. Zur ambulanten systemischen Therapie süchtigen Trinkens" (Carl-Auer-Systeme Verlag, Heidelberg 2002) half mir bei der Darstellung zirkulärer Suchtprozesse und besonders bei der Beschreibung des lebensgeschichtlichen "Hängenbleibens"

Als Wolfgang und ich merkten, dass seine Lebensgeschichte wegen ihrer vielen Wiederholungen nicht spannungsreichen Stoff für ein ganzes Buch birgt, bat er mich: "Dann schreib' doch ein Therapiebuch über mich". Ein ganzes Buch ist es dann doch nicht geworden und ein Therapiebuch schon gar nicht. Aber vielleicht kann ja der vorliegende Text eine (Er-)Klärungshilfe sein. Ich hoffe, dass ein Text entstanden ist, den Wolfgang lesen mag und der ihm ein wenig hilft, sein hartes Leben zu verstehen. Und ein Text, den auch andere lesen mögen, die ein bisschen besser begreifen möchten, wie einer Junkie und Krimineller wurde und es so lange blieb.
 

Wolfgangs Lebensgeschichte: "Ich bin ein Verkehrsunfall"
 

Wolfgang Ehlert wurde am ersten Weihnachtstag 1953 in Schönhorst geboren - einem Dorf im Kieler Umland. Sein Vater soff, prügelte und trennte ihm zwei Finger ab - außerdem war er nicht wirklich der Vater. Doch darüber wurde nie gesprochen. Die völlig überforderte Mutter war medikamentenabhängig. Alle zusammen lebten als Arbeiterfamilie in ländlicher Gegend, in der nur zählte, wer Bauer war. Und seine erste große Liebe brachte sich im Gefängnis um, als Wolfgang gerade Achtzehn war. Das klingt kaum nach einer guten Ausgangsbasis für ein "normales", angepasstes Leben.

Dass Wolfgangs Erzeuger ein anderer Mann war, das erfuhr er erst, als er schon nicht mehr im Dorf wohnte, als er schon auf der Kieler Szene "junkte" – also Drogen konsumierte. Bei einer Familienfeier erzählte es ihm eine angetrunkene Tante so nebenher. Geahnt hatte er aber schon jahrelang etwas: Irgendwann musste das ja mal rauskommen. Ich seh' meiner Mutter nicht ähnlich, ich seh' meinem Bruder nicht ähnlich und meinem Vater, der gar nicht mein Vater ist, dem sehe ich auch nicht ähnlich. Aber dem Onkel Jochen, dem sehe ich ähnlich. Als ich das dann hörte, da war ich trotzdem geplättet. Ich nehme an, dass der, der die ganze Zeit meinen Vater gespielt hat, das auch erst Jahre später erfahren hat. Nachdem ich auch schon von zu Hause weg war. Ich war nicht geplant. Ist sie halt fremdgegangen, hat mit 'nem anderen gevögelt. Einmal hatte sie auch zu mir gesagt, ich könne froh sein, dass sie mich
überhaupt großgezogen hat. Lange wusste ich nicht, was sie damit meinte. Bis dann alles rauskam. Da hab' ich dann gedacht: Ich bin ein Verkehrsunfall.

Der leibliche Vater, Onkel Jochen, heiratete dann später die Schwester der Mutter. Das war dann die Tante, die Wolfgang die "wahren Familienverhältnisse" verriet. Onkel Jochen war während Wolfgangs Kindheit nicht aus der Welt, man sah sich gelegentlich. Aber irgendeinen nennenswerten Kontakt zwischen Wolfgang und ihm gab es nie, allenfalls kurze Gespräche über alltägliche Dinge. Die tatsächlichen "Blutsbande" waren nie das Thema.

Mit dem Mann, der "den Vater spielte", gab es aber auch nicht viel mehr Gesprächskontakte: Der war Alkoholiker - hat zwar immer seine Arbeit gemacht und auch für alles gesorgt. Aber er war halt nie richtig ansprechbar. Auch nie richtig für mich da. Und wenn meine Mutter was an die Schnauze gekriegt hat, dann waren auch mein Bruder oder ich dran. Irgendwas musste man ja ausgefressen haben, das war dem scheißegal. Mit sechs hat er mir den Finger abgeklemmt, die Fingerkuppe (zeigt den Finger). In der Mopedkette abgeklemmt. Da hatte ich die Hand drin und er hat einfach weitergeschoben. Da war der Finger ab. Das haben sie dann in Kiel genäht aber wir konnten das Stück nicht wieder finden. Und den (zeigt einen anderen Finger) hat er mir dann mit der Axt abgehackt, beim Holzhacken. Der ist steif. Der hing noch an der Haut dran, den haben sie wieder angenagelt. Da war ich dreizehn. - Aber das war wohl ein Versehen. So was macht er nicht mit Absicht. Als ich dann im Krankenhaus in Kiel lag, ist er nicht ein einziges Mal zu Besuch gekommen. Kein einziges Mal. Dabei hat er doch in Kiel gearbeitet...

Der Vater, der nicht sein Vater war, arbeitete als Tischler auf der großen Kieler Werft. Das kleine Haus im Dorf Schönhorst bei Flintbek hatte er sich von einem Bauern gekauft und dann selbst renoviert. An dieses Haus denkt Wolfgang gerne:

Das war so ein Reetdach-Haus, so ein geducktes Haus. Das sah immer aus, wie so 'ne große Glucke mit Küken drunter. Das habe ich mir oft noch angeguckt, bin immer mal wieder hin gefahren - in gewissen Zeitabständen. Das steht immer noch. Da waren die Mauern und Decken gerade mal so hoch, wie da zum Loch (zeigt zum Lüftungsschacht über der Zellentür), so zwei Meter ungefähr und dann war auch schon Schluss. Grosse Leute mussten sich bücken, den Kopf einziehen. Das war so ein Tagelöhner-Haus. Mit eigenem Garten, vorm Haus zwei dicke Linden, ganz witzig. Das war ganz toll eigentlich.

Ein Dach über dem Kopf, das hatte Wolfgang in seiner Kindheit schon. Und auch regelmäßiges Essen und vernünftige, saubere Kleidung. Aber an persönlicher Zuwendung mangelte es sehr, die erhielt er nicht von Onkel Jochen, nicht vom "Vater" und auch seine Mutter war viel zu sehr mit sich selbst und ihrer Sucht beschäftigt.

Als ich sieben oder acht war, also in der Zeit, in der ich schon denken konnte, musste ich immer für meine Mutter zur Apotheke nach Flintbek (das westliche Nachbardorf) fahren und Pillen holen: Schlaftabletten. Ich weiß noch immer ganz genau, wie das Medikament hieß, Lagonal 600, sechs Mark und irgendwas... Die war manchmal so beschmettert, dass ich gar nicht mehr wusste, was ich machen sollte. Die lag da, vollkommen fertig. Die war mit Sicherheit medikamentenabhängig und das ist sie immer noch. Bei meinen letzten Besuchen (in Kiel), hat sie immer irgendwelche Beruhigungsmittel genommen.

Und trotzdem ist die Mutter die Einzige, für die Wolfgang rückblickend noch gute Worte findet: Meine Mutter hat immer versucht - so sehe ich das jetzt - irgendwie Ruhe in das ganze Desaster rein zu bringen. Das war ja wirklich ein Desaster. Aber irgendwie hat sie das nie geschafft, weil sie selbst mit sich viel zu viel zu tun gehabt hat. Das war ja wirklich schlimm. Zieh' mal zwei Kinder groß, wenn du süchtig bist. Wie sie das damals gemeistert hat, weiß ich nicht. Fest steht: Ich hatte immer saubere Klamotten an und es gab immer was zu essen. Meine Mutter wollte immer eine Henne sein und die Kinder schützen. Aber das geht nicht, wenn man süchtig ist.

Über seinen Nennvater spricht er anders: Der war ein Nichts. Der hat in seinem Leben nichts begriffen. Der hat noch nicht einmal seine drei Herzinfarkte begriffen. Er hat nicht begriffen, dass er stirbt, wenn er nicht aufhört zu saufen und zu rauchen. Und mit 58 ist er dann gestorben, das hab' ich dann auch erst zwei Jahre später erfahren (lacht).

Seine Kindheit bezeichnet Wolfgang als einzige Schinderei. Entweder musste er beim Bauern arbeiten oder für den Vater am Haus oder im Garten. Einen Spielkameraden hatte er nicht, sein drei Jahre älterer Bruder hatte andere Interessen (und ist inzwischen, wie Wolfgang sagt, zum zahnlosen Penner und Alkoholiker geworden, der ihn zwar manchmal im Knast besucht, mit dem er aber immer noch nichts zu bereden hat), die Jungs aus dem Dorf waren auf einer anderen Wellenlänge: Wir hatten zwei Hunde, das waren meine Spielkameraden. Und sonst hab' ich Rabaukenkram gemacht, da musste Action sein. Ich hab' keine Ruhe gegeben. Ich war schon immer auf Speed.

Wolfgang besuchte in Schönhorst gemeinsam mit seinem älteren Bruder eine so genannte "Zwergschule". Diese Schulform war bis weit in die 60er Jahre des vorigen Jahrhunderts im ländlichen Schleswig-Holstein weit verbreitet und wurde dann von den Dörfergemeinschaftsschulen abgelöst. In den Zwergschulen unterrichtete ein einziger Lehrer in einem gemeinschaftlichen Klassenraum alle Jahrgänge, vom ersten Grundschuljahr bis zu letzten Hauptschuljahr - also auch die "Rabauken" Wolfgang und seinen Bruder.

Der erste Lehrer, den wir hatten, war ein Nazi durch und durch. Der war lange in Gefangenschaft in Russland und seine Wut gegen das System - da kam er selbst wahrscheinlich nicht mit zurecht -, die hat er dann an den Schülern ausgelassen. Und da waren mein Bruder und ich dann das gefundene Fressen. Er hat uns verdroschen, nach Strich und Faden. Mit dem Rohrstock und so. Das war in groben Zügen meine Schulzeit.

Solcher Nachkriegs-Pädagogik entzog Wolfgang sich oft: Regelmäßig hin gegangen bin ich schon. Aber es gab so Tage, da bin ich dann in der großen Pause abgehauen. Dann hatte er mich morgens verdroschen, weil ich irgendwas vergessen hatte oder weil ich matschig angekommen war oder so. Man musste ja ordentlich aussehen, da hat er Wert drauf gelegt, stramm stehen und Trallala. Das hat mich natürlich angekotzt, da hatte ich keinen Bock drauf. Ich wollte nicht in eine Schublade gesteckt werden. Dann hab' ich eben was anderes gemacht, den Schulwald hab' ich zweimal angezündet. Beim Zigarettenrauchen ist das irgendwann mal passiert, hab' das Feuer nicht mehr ausgekriegt (lacht). Dann bin ich abgehauen, ist ja klar.

Seiner Schulzeit kann Wolfgang rückblickend nichts Positives abgewinnen: Ich hab' überhaupt keine guten Erinnerungen. Überhaupt nicht, in keinster Weise. Ich finde nicht, dass mich das irgendwie aufgebaut hat, in keinster Weise.

Auch mit den Gleichaltrigen aus dem Dorf, seinen Schulkameraden, kam Wolfgang nicht zurecht, sie waren nicht auf seiner Wellenlänge, wie er sagt. Dazu fällt ihm ein Beispiel ein: Ich wollte halt ein Fahrrad haben, das eben ein Fahrrad ist. Das musste einen Rahmen haben, zwei Räder und zwei Pedalen. Damit musste man fahren können. Ob da 'ne Bremse vorne dran war und zwei Leuchten oder nicht, das war eigentlich scheißegal. Ich brauchte ein Fahrrad und das hab' ich mir aus alten Teilen zusammen gebaut. Aber die mussten ein Neues haben - das war überhaupt nicht meine Welt. Ich wollte mein eigenes Ding drehen.
 

"Ein eigenes Ding drehen"

Und das drehte er dann ab seinem zehnten Lebensjahr im deutlich größeren Nachbardorf (heute würde an es ein "ländliches Mittelzentrum" nennen): Da bin ich dann schon bald immer nach Flintbek gefahren. Da fing das dann schon an mit Biertrinken und Zigarettenrauchen.

Wolfgang verließ die Schönhorster Zwergschule nach neun Jahren ohne Abschluss, den Hauptschulabschluss holte er dann später im Gefängnis nach und an der Kieler Volkshochschule bereitete er sich nach der Haft in Abendkursen sogar auf den Realschulabschluss vor, der ihm dann auch gelang. In Schönhorst aber schien ihm an einem Abschlusszeugnis nicht sonderlich zu liegen: Das war damals nicht so wichtig für die Dorfgemeinschaft, dass man schreiben konnte oder lesen. Einen Beruf musste man haben.

Und dieser Beruf sollte möglichst nicht nur dem Gelderwerb dienen, sondern auch privat zu den familiären Anforderungen passen, so die ländliche Logik. Deshalb wählte Wolfgangs Vater eine Branche aus, für die er Verwendung hatte und besorgte auch eine Lehrstelle im (östlichen) Nachbardorf Kirchbarkau. Das war damals so. Das wurde vom Vater bestimmt, was man machen sollte. Und ich war eben dran mit Maurer. Der eine kann das Moped reparieren und der andere ein Haus bauen.

Hab' ich natürlich nicht zu Ende gemacht die Lehre. Abgebrochen, nach einem Dreivierteljahr. Das war auch so 'n Schinder. Ich war der einzige Lehrling überhaupt in der Firma. Das hieß dann für mich: die Gesellen hatten Schlechtwetter und ich musste Steine in den Bau karren. Das hab' ich natürlich nicht mitgemacht. Nur einen Sommer lang und dann war Schluss mit lustig. Dann hab' ich da in den Sack gehauen und wir sind sowieso nach Kiel gezogen. Da bin ich dann zur See gefahren.

Als Wolfgang 16 Jahre alt war, zogen seine Eltern von Schönhorst nach Kiel, er verlies das Elternhaus und heuerte auf einem Fischdampfer an: Da mussten meine Eltern noch unterschreiben für das Seefahrtsbuch. Ja, da bin ich dann abgehauen nach See. Ich bin als Schiffsjunge angefangen. Auf dem Dampfer war mehr Zusammenhalt als in der Schule, da war zum ersten Mal so ein Zusammengehörigkeitsgefühl - ich gehörte dazu. Ich gehörte zur Mannschaft. Ich konnte nicht weg und die konnten aber auch nicht weg. Die mussten mit mir leben und ich mit denen...

Aber es war ein knochenharter Job. Ganz sicher nicht jedermanns Sache, Schiffdampfer und Fremdenlegion, das wurde in den ersten beiden Nachkriegsjahrzehnten häufig in einem Atemzug genannt. Auf den großen Fangschiffen trafen sich viele Männer, die an Land nicht richtig klar kamen. Und auf See arbeiteten sie beinhart. Die Fischgründe lagen vor Grönland: Von Cuxhaven drei Tage hin, drei Tage zurück und 21 Tage fischen. Das waren dann 30 Grad minus und dann Fische-Schlachten an Bord. Da musst du dann schon ein bisschen was abkönnen, nicht nur körperlich. Das waren schon alles ziemlich rüde Leute da.

An Bord hatte Wolfgang erstmals Kontakt mit illegalen Drogen: Auf dem Fischdampfer hab' ich das erste Mal gekifft. Ich hab' mich immer mehr von den Leuten abgesondert, die ... Weiß ich nicht. Ich hatte keinen Bock mehr auf Schlägerei. Ich hatte das zwar auch gemacht. Aber irgendwie war das nicht meine Welt. Ich wollte einen anderen Film drehen. Ich wollte was anderes erleben.

Zwischen den Fangfahrten gab es nur wenige Tage Urlaub, die Wolfgang dann in Kiel verbrachte - bei seiner ersten Freundin: Die hieß Heike. Ihr Vater war hier auf der Werft noch Nietenklopper gewesen. Der hat noch mit der Hand Nieten in Schiffsrümpfe gehauen. Von dem hab' ich auch mal eine eingefangen. Aber eigentlich war das ein ganz lieber Kerl, zwar groß und kräftig - aber ein ganz lieber Kerl. Da war ich abends ganz oft. Wenn ich zurück kam von See. Heike hat Apothekenhelferin gelernt und durch sie hab' ich Apothekengifte erst kennen gelernt. Was heißt kennen gelernt. Ich kannte schon was. Aber ich hatte noch nie richtig was genommen. Die hat mir immer Captagon (ein damals in der Szene weit verbreitetes Aufputschmittel, "Speed") mitgebracht. Das gab es ja damals noch regulär übern Ladentisch. Und irgendwann hab' ich dann Beate kennen gelernt, meine erste richtige...

Wenn die Rede auf Apotheken kommt und auf Drogen, dann muss Wolfgang fast automatisch an Beate denken. Das war die Freundin, die nach Heike kam, in Wolfgangs Worten die erste richtige Liebe. Sie lernte er in der Szenekneipe "Fischerdeel" kennen, als er 17 war. Zu diesem Zeitpunkt bewegte sich Wolfgang noch am Rande der Drogenszene. Das war wohl auch die Zeit, in der wir uns die ersten Male begegneten. Das "Fischerdeel" war ursprünglich eine ganz normale Gaststätte in der Kieler Innenstadt und sah auch von innen und außen so aus, nur das Publikum war "anders". Das Fischerdeel lag ungefähr 100 Meter oberhalb der so genannten "Küste", dem Rotlichtviertel - so konnte Wolfgang später leicht zwischen den Kneipen und Bordellen der "Küste" und dem "Deel" pendeln. Tagsüber war das "Deel" die zentrale Anlaufstelle der Drogenszene, hinzu kamen viele Jugendliche, die "dabei sein" wollten und allenfalls kifften. In den Toiletten der Kneipe wurden aber auch härtere Drogen konsumiert. Und die mussten ja irgendwo herkommen, einen organisierten Drogenschwarzmarkt gab es noch nicht.

Wir hatten ein Auto - Beate war 19, wir hatten 'ne Wohnung, das hatte alles Beate besorgt. Die hatte außer mir keine anderen Angehörigen, wir haben dann zusammen gewohnt. Wir hatten uns im "Fischerdeel" kennen gelernt und da hat sie mir auch meinen ersten Druck gemacht. Ich konnte das da noch nicht. Ja - und irgendwie kam einer von uns beiden auf die Idee: in Apotheken einbrechen. Ich weiß gar nicht mehr, wer die Idee hatte. Werd' ich wohl gewesen sein. Und dann sind wir jede Nacht los - 208 Einbrüche an der Zahl. Ging ja auch lange gut. Wir haben uns 'ne Apotheke ausgeguckt und dann rein. Durch die Tür, mit 'nem Wagenbrecher oder Kuhfuss oder so. Damals waren das noch keine Panzerschränke. Ganz normale Blechschränke mit Schloss davor. Das war das Gift (Rauschgift) drin. Und damals gab es noch ein bisschen mehr zu holen in den Apotheken. Heute sagt man sich ja: Wie viele Leute sind in diesem Stadtteil krebskrank oder so - wer braucht denn Morphium von denen. Heute ist das geplanter. Damals war es doch egal, wie lange 'ne Morphium-Ampulle da liegt. Ob nun zwei Jahre oder zehn Jahre. Das wird ja nicht gammelig. - So haben wir uns über Wasser gehalten, unser Geld verdient. Wir haben viel verkauft davon, das meiste. Wir mussten ja leben.

Damit war Wolfgang dann als User und Dealer voll drin in der Drogenszene. Er erzählt von den Änderungen in seinen Konsumgewohnheiten: Am Anfang haben wir hauptsächlich gekifft, das fing ja alles mit Kiffen an. Aber man wollte immer noch ein bisschen mehr. Es sollte immer noch mehr knallen. Dann kam also LSD und dann Morphium, alle Apothekengifte rauf und runter. Die ersten sechs Jahre hab' ich nur Apothekengifte gedrückt, danach erst "Berliner Tinke" (ein vor der Heroinwelle verbreitetes Gemisch aus Rohopium und Essigsäure) und dann Heroin.

Und dann stand plötzlich die Polizei vor der Tür: Ganz merkwürdig. Die hatten uns verhaftet - nicht auf frischer Tat - die hatten 'ne Hausdurchsuchung gemacht bei uns. Beate haben sie dann mitgenommen, mich haben sie einen Tag später festgenommen. Da hab' ich dann gefragt, wo Beate ist. Und zur Antwort erhielt ich: "Die haben wir nach Lübeck in den Knast gefahren". - Und dann sollte ich erzählen. Gar nichts wollte ich erzählen. Aber trotzdem: sechs Apotheken konnten sie uns nachweisen - sechs Einbrüche. - Jedenfalls haben sie Beate gesagt, ich hätte mehr zugegeben, irgendwelche Scheiße haben sie ihr erzählt. Nach 14 Tagen U-Haft hat sie sich denn in Lübeck umgebracht. Das war für mich der Zusammenbruch.

Knapp zwei Jahre war ich mit Beate zusammen gewesen. Das war was Eigenständiges. Zuhause war das ja nicht so richtig Familie... Und als sie tot war, war mein Kopf leer. War mehr wert gewesen, als ich gedacht hatte. Ich hatte doch nie damit gerechnet, dass sie stirbt.

Nach Beates Tod pendelte Wolfgang für eine Weile in Kiel zwischen der Drogenszene und dem Rotlicht-Milieu (die damals noch nicht so selbstverständlich ineinander überlappten, wie heute) und bald stand die erste lange Haftstrafe an, nicht nur für die Apothekeneinbrüche: Ich hatte ja noch den Raub mit Schusswaffe gemacht, hatte jemand die Knie zerschossen und hab' dem 8000 Mark geklaut, mit zwei Zuhältern hier zusammen in Kiel.

Als er gerade 20 war, musste Wolfgang zu ersten Mal ins Gefängnis: Jugendknast in Neumünster. 26 Monate. Da bin ich zweimal geflüchtet, von der Arbeit aus. Da war der Knast noch anders. Da ging das derber ab. Da ging das richtig heftig ab. Da gab es nicht Radio und Fernsehen. Jetzt ist das doch so, wenn ich in meine Zelle gehe und mich hinsetze', dann denk' ich, ich bin zu Hause am Schreibtisch. Ich hab' Musik, ich hab' nein Fernseher, ich kann nach draußen telefonieren. Damals, da gab es nichts. Von wegen Kaffee kochen mit Kaffeemaschine auf der Zelle. Nichts gab es da. Das war 'ne derbe Zeit. Hat mich aber trotzdem nicht abgeschreckt, weiter zu machen.

Und es ging im kriminellen Milieu weiter: Im Sommer 1975 bin ich entlassen worden. Da bin ich dann von Neumünster nach Kiel... Dann hatte ich erst mal so eine Beziehung für zwischendurch, die eigentlich keine richtige Beziehung war, nur so zum Ficken und dann war gut...

Erst hab' ich mich in Kiel umgeguckt, auf dem Kiez. Wollte da (wie schon vor der Haftstrafe) was machen, Wirtschafter oder so. (Wirtschafter sind sozusagen die Hausmeister und Kontrolleure auf den verschiedenen Etagen der Bordelle).Dann hat das hier nicht hingehauen, dann bin ich also nach Hamburg und hab' da ein paar gute Leute kennen gelernt, in der "Ritze". (Die "Ritze" ist eine berühmte Kneipe an der St. Pauli-Reeperbahn, die an ein Eros-Center grenzt und im Keller einen "Boxstall" beherbergt.)
 

"Erfolgserlebnisse"

Ich war ein properer Junge, hatte keine Wampe. Ich hatte was auf dem Zettel und konnte mich gut prügeln. Dann hab' ich dann da mal Türsteher gemacht und hier mal Türsteher gemacht, da mal hinterm Tresen gestanden und hier mal hintern Tresen. Da war ich dann mit 'ner Frau zusammen, die hat im Puff neben der "Ritze" angeschafft, bei der hab' ich auch gewohnt und von ihr Geld gekriegt. War alles bestens: Drogen ohne Ende, alles was ich wollte, ich konnte jeden Tag saufen, ich hatte meine Freiheit und immer Geld auf Tasche. Das waren für mich gute Erfolgserlebnisse...

In Hamburg, so schildert Wolfgang (verbunden mit der Bitte, es nicht detailliert aufzuschreiben), war er auch als Mitwisser und Randfigur an Kapitalverbrechen des Zuhältermilieus beteiligt. Und irgendwann wurde es ihm in Hamburg zu "heiß":

Da bin ich dann ein Jahr später wieder nach Kiel gegangen. Und dann hab' ich da eine Frau kennen gelernt, in die ich richtig verknallt war - Sabine, 'ne ganz tolle süße Maus (einige Jahre später war sie in der Beziehung drogenabhängig geworden) Ich hab' weiter Gift genommen, Schlägereien waren fast an der Tagesordnung. Das Sozialamt war für mich zuständig, außerdem hab' ich gedealt.

Anfangs bewegte sich Sabine noch in anderen Kreisen: Das war die Zeit, in der ich angefangen habe, umzudenken: Von dieser brutalen Schiene dann ein bisschen hippiemässig, so 'n bisschen easy, Hasch rauchen, Tee trinken. Das war zwar nicht mein Ding, ich hab' trotzdem weiter gedrückt. Aber ich hab' mich in diesen Kreisen wohl gefühlt.

In dieser Lebensphase Wolfgangs (Ende der 70er Jahre, mit Mitte Zwanzig) gibt es allerlei (für ihn sonst) ungewöhnliche Aktivitäten: Viele Reisen, viele Besuche von Rockkonzerten, Gründung und ehrenamtliche Arbeit in einer Gefangenenselbsthilfegruppe, aktive und führende Teilnahme an einer Selbsthilfegruppe für "medikamtengestützte Drogenhilfe". Diese Art der Drogenhilfe ging auf den Kieler Arzt Gorm Grimm zurück, der als Pionier der Substitutionsbehandlung gelten kann, dabei aber weit über das Ziel hinaus schoss. Grimm "behandelte" zeitweise knapp tausend Patienten und versorgte sie großzügig mit Ersatzdrogen (hauptsächlich dem kodeinhaltigen Hustenmittel "Remedacen"), die dann auf dem Kieler Schwarzmarkt kursierten. Wolfgang berichtet, dass er während der jahrelangen Behandlung durch Grimm stets Heroin und Kokain nebenher konsumierte (auch später, bei anderen Ärzten, wurde er substituiert - immer mit "Beikonsum").

Zumindest eine gewisse Beruhigung trat bei Wolfgang während seiner Partnerschaft mit Sabine und seiner Zeit als Grimm-Patient ein. Er beschreibt es so: In der Zeit habe ich meine kriminelle Energie zwar auch ausgelebt - aber bewusst ausgelebt. Ich hab' gemacht, was ich wirklich wusste, was ich konnte. Ich bin nicht einfach losgegangen und hab' jemandem den Knüppel vor die Birne gehauen. Ich hab' mir was ausgeguckt, geplant ..."

Wolfgang war also für eine gewisse Zeit zum "erfolgreichen Kriminellen" geworden, zu einem, der nicht "erwischt" wurde. In diese Zeit fällt auch seine Begegnung mit dem Berliner Strassen- und Kindertheater "Rote Grütze", das einige Jahre in Kiel gastierte. Dort stieg er erst als Helfer ein, dann auch als Darsteller. Und dabei lernte er Bettina kennen, die in Berlin wohnte, wohin auch das Theater zurückging. Dahin zog es dann auch Wolfgang, mit Sabine war Schluss - jetzt war Bettina an der Reihe.

Ich wollte bei der "Grütze" ganz einsteigen. Ich bin nach Berlin gefahren, die Kohle hat Bettina mir noch geliehen. Ich kam am Zoo an, hab' mir was zu Knallen gekauft und mir dann versehentlich 'ne Überdosis gemacht: Herzstillstand, Intensivstation. War knapp...
 

Unverändertes Muster

Aber es ging weiter. Und zwar nach einem unveränderten Muster. Bettina wollte ein Theaterprojekt in Schweden starten und Wolfgang ging nach Kiel zurück, lernte immer wieder Frauen kennen, mit denen er zusammen zog. Das waren Frauen, die bereits drogensüchtig waren oder es währender Partnerschaft wurden. Dann hatte Wolfgang sie auf die Nadel gebracht. Eine von ihnen bekam eine Tochter, die inzwischen 19 Jahre alt ist - Wolfgang hat keinen Kontakt zu ihr. Ende der 80er Jahre ging Wolfgang auf die Insel Sylt, wo er (die zwei Jahre ältere) Vita traf, die dort ein Haus besaß. Die zwei heirateten 1993 und hatten das Haus nach ein paar Jahren "verballert". Also zogen sie nach Husum, wo Vita noch ein halbes Haus hatte. Dort dealten beide. Letztlich wurde Vita drogenbedingt psychotisch, die Scheidung kam 1999. Während seiner Ehe blieb Wolfgang ohne Verurteilung. Das änderte sich danach schnell. Er lebte von der Sozialhilfe und vom Dealen. Bald war auch wieder eine Freundin da und bald wurden auch wieder Straftaten begangen. Am 14. Dezember 2001 verurteilte das Landgericht Flensburg Wolfgang Ehlert zu einer Freiheitsstrafe von drei Jahren und sechs Monaten. Die Straftaten (gemeinschaftlich mit einem Bekannten) stellten sich dem Gericht wie folgt dar (Zitat aus der Urteilsbegründung):

Den Samstag, den 19. Mai 2001, verbrachten beide Angeklagte, die in Husum in demselben Haus eine Wohnung haben, zusammen. Beide tranken Bier und Korn und rauchten Haschisch. Im Laufe des Tages fiel dem Angeklagten Ehlert auf, dass, anders als sonst, die damalige Freundin des Angeklagten H., ...(Name der Frau), nicht auftauchte. Auf Nachfrage erklärte der Angeklagte H., dass diese mit ihren Eltern verreist sei. Das brachte Ehlert auf den Gedanken, in deren Einfamilienhaus in Husum einzubrechen. Der Angeklagte H. sträubte sich zunächst, ging dann jedoch auf den Plan ein. Beide machten sich in den frühen Morgenstunden des 20. Mai 2001 mit ihren Fahrrädern zur ... (Adresse der Geschädigten) in Husum, dem Wohnhaus ... (Name der Geschädigten), auf. Nachdem sie zunächst geklingelt und festgestellt hatten, dass keiner im Hause war, schlug der Angeklagte Ehlert die Terrassentür auf und verletzte sich dabei. Anschließend durchwühlten sie die Wohnung, vornehmlich auf der Suche nach Bargeld. Solches fanden sie jedoch nur in Höhe von 9,00 bis 10,00 DM in einem Sparschwein vor. Nachdem beide mittels eines Schraubenziehers den im Wohnzimmer befindlichen Waffenschrank aufgebrochen hatten, entschlossen sie sich auf Veranlassung des Angeklagten Ehlert, zwei Langwaffen mitzunehmen, um diese später zu verkaufen. Weitere Diebesbeute war neben anderen Gegenständen auch ein Messer. Beide Angeklagten verließen das Wohnhaus und vergruben die beiden Waffen in einem nahe gelegenen Wäldchen. Das war etwa gegen 4.30 Uhr des 20.05.2001. Beide fuhren anschließend nach Hause. Eine Woche später buddelten sie die Waffen wieder aus. Diese wurden zunächst in der Wohnung des Angeklagten Ehlert gelagert. Zu einem nicht mehr feststellbaren Zeitpunkt verkürzte er den Lauf der entwendeten Schrotflinte.

Am 25. Juni 2001 feierten der Angeklagte H. mit seiner Freundin ... (Name der Frau) ab 14 Uhr deren Geburtstag in seiner Wohnung. Anwesend war, neben anderen Gästen, auch der Angeklagte Ehlert. Im Laufe der Zeit wurden bis zum späten Abend, Korn, Bier, Sekt und Wein getrunken. Beide Angeklagten hatten auch Drogen bzw. Methadon konsumiert. Nachdem die Geburtstagsfeier zunächst beendet worden war, schlief der Angeklagte H. gegen 19.30 Uhr ein. Der Angeklagte Ehlert verließ daraufhin dessen Wohnung und besuchte seine Freundin. Von der kehrte er gegen 23.00 Uhr bzw. 23.30 Uhr zurück. Zwischenzeitlich war auch der Angeklagte H. aufgewacht. Als er feststellte, dass seine Freundin ... (Name der Frau) noch schlief, beschloss er mit dem Angeklagten Ehlert, dessen Nachhauskommen er gehört hatte, noch weiter zu trinken. Beide entschlossen sich dann, die Wohnung zu verlassen und noch etwas Bier zu kaufen. Dabei nahm der Angeklagte Ehlert die abgesägte Schrotflinte mit, mit dem Ziel, diese "auszuprobieren". Zu diesem Zweck hatte er zwei Schuss Munition in die Waffe eingeführt.

Die beiden Angeklagten machten sich auf den Weg, beide hatten noch Bier bei sich und tranken dieses aus auf dem Marktplatz. Gesprächsweise wurde dabei auch erörtert, welche Wirkung wohl ein Überfall in der Kleinstadt Husum haben würde. Als sich herausstellte, dass kein Bier mehr gekauft werden konnte, machten sich beide auf den Heimweg. Das war gegen 01.30 Uhr des 26. Juni 2001.

Zur selben Zeit war der im Jahre 1950 geborene ... (Name des Geschädigten), auf seinem Fahrrad fahrend, auf dem Nachhauseweg. Dazu musste er den Torbogen Richtung Schlossgang durchfahren. Dabei bemerkte er kurz vor dem Torbogen die beiden Angeklagten. Zumindest der Abgeklagte Ehlers nahm ... (Name des Geschädigten) wahr. Er entschloss sich spontan, diesen zu überfallen, um sich so Geld zu verschaffen. Er lief deshalb hinter dem Fahrrad her und rief: "Halt an". ... (Name) reagierte bewusst nicht. Als der Angeklagte diesen eingeholt hatte, stellte er sich direkt vor dessen Fahrrad, nahm seine Schrotflinte in die Hand, richtete diese auf ... (Name) und forderte Geld. Als der nicht reagierte, gab der Angeklagte Ehlert einen ungezielten Schuss in die Luft ab. ... (Name) wertete dieses als Warnschuss. Um sich zu wehren und den Angeklagten Ehlert abzuwehren, versetzte er ihm einen Faustschlag ins Gesicht. Ehlert wich zunächst einige Schritte zurück und rief nun den Angeklagten H. Dieser kam hinzu und griff gleich in das Geschehen ein. ... (Name) wurde mit seinem Fahrrad zu Boden gerissen, dabei forderte der Angeklagte H. den ... (Name) auf "willst du jetzt". Gemeint war die Geldübergabe. Der Angeklagte H. zog nun ein Messer, fuchtelte damit herum und hielt es schließlich an den Hals des Zeugen, wobei dieser leichte Schnittverletzungen erlitt. Schließlich gelang es H., sich des Portemonnaies des ... (Name) zu benächtigen. Als ... (Name) laut um Hilfe rief, ließen die beiden Angeklagten von ihm ab und liefen davon. Dabei durchsuchte H. das Portemonnaie nach Bargeld, steckte die vorgefundenen 60,00 DM ein und warf die Geldbörse weg. Auf ihrer Flucht fiel dem Angeklagten Ehlert sein Gewehr zu Boden und es löste sich ein Schuss.

Am nächsten Morgen wurden die zwei Täter von der Polizei festgenommen. Sie waren der Husumer Polizei bekannt und durch die Personenbeschreibung des Geschädigten schnell zu identifizieren. Bei Wolfgang Ehlert wurde nach der Festnahme ein Wert von 1,79 Promille Blutalkohol gemessen, auch Drogen und Medikamente konnten in seinem Blut nachgewiesen werden.

Wolfgang Ehlert wird bald 49 Jahre alt, er hat eine 19jährige Tochter, die er nie sieht. Er ist seit mindestens 32 Jahren drogensüchtig und hat in diesem Zusammenhang mindestens 30 cerebrale Krampfanfälle erlitten. Er berichtet von sieben Selbstmordversuchen, sechs davon durch überdosierte Drogen. Der letzte Versuch in der JVA Kiel bestand in einem oberflächlichen "Anritzen der Pulsadern". Wolfgang Ehlert bringt es auf 24 Eintragungen im Bundeszentralregister (Delikte: Diebstahl, Verstoß gegen das Arzneimittelgesetz, Verstoß gegen das Betäubungsmittelgesetz, bewaffneter Raubüberfall, Körperverletzung). Er hat bisher acht Jahre im Gefängnis verbracht. Er hat derzeit keine Bezugsperson. Er fühlt sich einsam. Wolfgang Ehlert möchte sein Leben ändern.
 

Interpretation:

Forever young?

Wie ein Leben ohne Übergänge
zur individuellen Normalität wurde

Jeder Mensch steht in einem strukturellen Spannungsfeld zwischen Erwartungen und seinen Möglichkeiten, diesen Erwartungen zu entsprechen. Die Erwartungen, das sind die gesellschaftliche Normen und Ziele, die ihm ungefragt von seiner sozialen Umwelt aufgebürdet werden. Die Möglichkeiten bestehen aus den individuell vorhandenen Ressourcen. Bei Menschen, denen es kraft familiärer Herkunft, psychischer und physischer Ausstattung, materieller Voraussetzungen und (Aus-)Bildung keine unüberwindliche Hürde ist, den gesellschaftlichen Normen zu folgen und die kollektiv "hochgehaltenen" Ziele (Wohlstand, Konsum, Statussymbole) zu erreichen, ist die Spannung kaum spürbar. Bei Menschen jedoch, denen es an Möglichkeiten mangelt, den sozialen Erwartungen zu entsprechen, lädt sich das strukturelle Spannungsfeld hoch auf. Solche Menschen stehen unter permanentem Druck.

Manche widerstehen diesem Druck unter höchster Anstrengung und passen sich den gesellschaftlichen Normen in ritualistischer Manier zwanghaft an, und wissen dabei, dass sie die Ziele nicht erreichen werden. Sie tun aber so, "als ob". Andere bauen den Erwartungsdruck ab, indem sie versuchen, die Ziele unter Missachtung der Normen zu erreichen. Sie folgen damit einer kriminellen Strategie (typisch dafür sind Eigentumsdelikte zur Aneignung von Statussymbolen). Und wieder andere wählen den Rückzug aus gesellschaftlichen Bindungen und scheren sich wenig um Normen und Ziele. Solche Rückzugs-Strategie kann jedoch über Umwege auch in kriminelles Verhalten münden, wenn es zum Beispiel wegen einer Drogenabhängigkeit zu Beschaffungs-Straftaten kommt.

Wolfgang Ehlert verfügte von Beginn seiner Lebensgeschichte an kaum über Mittel und Möglichkeiten für eine "normale Stellung" in der Gesellschaft. Seine Position in der Familie war während der gesamten Kindheit durch die tabuisierte Vaterschaft des Onkels unsicher. Sein Kinderleben war zudem durch die Süchtigkeit der Eltern erheblich beeinträchtigt. Seine Rolle in Dorf und Schule war (verstärkt durch den Status des nichtbäuerlichen "Zugezogenen") stets die eines Außenseiters. Und diese Rolle übernahm er dann auch für seinen weiteren Lebensweg: er zog sich aus dem Dorf zurück und suchte sich seine Freunde im größeren Nachbardorf; er brach eine "normale" Berufsausbildung ab und arbeitete geographisch und sozial am Rande der Gesellschaft auf einem Fischdampfer; er etablierte sich in der subkulturellen Drogenszene und wurde dort zwangsläufig kriminell, denn illegale Drogen lassen sich weder legal konsumieren noch beschaffen. Und als er kriminell geworden war, bewegte er sich auch im Zuhältermilieu, das aber stets, um an Geld für Drogen zu kommen.

Im Zentrum seiner Entwicklung steht die Sucht, die Abhängigkeit von legalen und illegalen Substanzen. Seine Kriminalität ist lediglich eine Folge der Sucht – seine Verurteilungen bezogen sich ausschließlich auf direkte (Apothekeneinbrüche) und indirekte (Geldbeschaffung) Beschaffungsdelikte. Kriminologisch nehme ich hierzu eine radikale Labeling-Position ein. Nach der Theorie des "Labeling-Approach" (Etikettierungsansatz) wird abweichendes beziehungsweise kriminelles Verhalten "gemacht" (konstruiert) - in diesem Zusammenhang von denen, die das Betäubungsmittelgesetz "gemacht" haben. Durch derartige Konstruktionen wird dann die Rolle des Outsiders den betroffenen Personen gesellschaftlich "zugeschrieben" - sie sind es nicht aus sich heraus. Nach diesem Verständnis wurde Wolfgang Ehlert zum Kriminellen gemacht, weil er süchtig war.

Es gilt hier also, Wolfgangs Sucht zu analysieren. Doch vorher möchte ich mich der Frage widmen, warum jemand, der den Rückzug aus der Gesellschaft wählt, fast zwangsläufig süchtig wird. Meine Erklärung: Man kann sich ja durchaus den gesellschaftlichen Normen und Zielen entziehen und hat dann wohl auch "Ruhe vor den Leuten" (wenn man sie nicht zu sehr in ihrer "Normalität" stört) – aber Ruhe vor dem eigenen Kopf hat man nie. Der grübelt weiter. Und dieses Grübeln lässt sich durch Rauschmittelwirkung "abstellen", jedenfalls für eine trügerische Weile.

Unter den fast unendlich vielen individuellen Begründungen für den Missbrauch von stimmungsändernden Substanzen und süchtiges Verhalten sind "Langeweile", "Einsamkeit", "Sinn- und Perspektivlosigkeit" die mit Abstand meistgenannten. Und genau solche Empfindungen kommen ja besonders bei denen auf, die sich aus dem sozialen Leben zurückziehen, deren Denken nicht an alltägliche Arbeiten und Pflichten gebunden ist.

Im Status andauernder Sinn- und Ziellosigkeit kommt es zu unentwegten "selbstischen Grübeleien", zur andauernden gedanklichen Beschäftigung mit sich selbst und seiner Stellung in der Welt (Hyper-Reflexion). Diese Grübeleien ranken sich dann häufig um quälende Vorstellungen des Versagens und des Ausgeschlossenseins – und derartige Dauergrübeleien machen mürbe. Ablenkung von den destruktiven Gedanken gibt es kaum.

Und hier kommen dann Suchtmittel ins Spiel: Alkohol ebenso wie Heroin, Kokain, Beruhigungs- und Aufputschmittel. All diese Substanzen können die "selbstischen Grübeleien" zum Stillstand bringen – können "Selbstvergessenheit" herbeiführen. Deshalb könnte man zugespitzt sagen: Hinter jeder Sucht steht eine Sehnsucht nach Selbstvergessenheit.

Wer entsprechende Erfahrungen erst einmal gemacht hat, wer einmal erlebt hat, wie nach dem Rauschmittelkonsum, die Sorgen und Schuldgefühle aus dem Denken verschwinden, neigt dazu, dieses "Rezept" häufiger anzuwenden. Aufgrund der sicher eintretenden Bewusstseins- und Zustandsänderung erhöht sich die Attraktivität des Rauschmittelkonsums und wird sozusagen zum "psychischen Programm". Verstärkend und auslösend kann dabei – wie bei Wolfgang geschehen – das Beispiel der Eltern sein, die ihm während seiner gesamten Kindheit- und Jugend vorlebten, dass Alkohol und Medikamente "Problemlöser" sind.

Alkohol- und Drogenkonsum kann durchaus als "Selbstheilungsversuch" gedeutet werden – das ist inzwischen auch eine verbreitete Auffassung in der Suchttheorie. Der "Stoff" ermöglicht es den Usern, soziale und emotionale Situationen zu überstehen, denen sie sich clean hilflos gegenüber sähen. Doch wenn solche "Selbstheilungs-Strategien" erst einmal fest in das "psychische Programm" eines Menschen eingebaut sind, entfaltet sich eine destruktive Dynamik. Die Erfahrung, dass die "Stimmungsveränderung durch Stoffzufuhr" stets funktioniert, führt dazu, dass das Rezept bei immer geringfügigeren Verstimmungsanlässen angewandt wird. Jedes aufkommende Gefühl von Einsamkeit, Traurigkeit, Sinnlosigkeit – jede Verstimmung – wird chemisch bekämpft. Somit sinkt dann die "Verstimmungstoleranz", ein "trainierter" Alkohol- oder Drogenkonsument erträgt dysphorische Bewusstseinszustände immer weniger, was dann die Anlässe zu "Selbstbehandlung" inflationär steigert. Hinzu kommen Abläufe im biologischen System des Menschen, die diesen Trend massiv verstärken.

Für den Organismus bedeutet erstmalige Zufuhr von Alkohol oder Drogen eine erhebliche Störung des biologischen Gleichgewichts (das gilt für den Alkohol massiver als für Opiat-Drogen, die sehr viel besser in die Körperchemie "passen" und deshalb auch so sehr viel schneller "wirken"). Besonders der Alkohol muss vom Organismus aufwendig biochemisch verarbeitet werden. Bei häufigerem Konsum tritt dann bald eine Gewöhnung ein, der Körper "verträgt" mehr. Was vom biochemischen System anfangs als Störung registriert wurde, wird bald zur Normalität, wobei der Organismus beginnt, die Produktion "eigener" körperchemischer Wohlfühlsubstanzen, mit denen Verstimmungen begegnet wird, zu reduzieren, weil ja immer häufiger Regulatoren von außen zugeführt werden. Das führt dazu, dass Alkohol und Drogen für den User notwendig werden, um sich "normal" zu fühlen. Wird nun die Zufuhr solcher Stoffe von außen reduziert, führt das zu erheblichen Störungen, zu dysfunktionalen Verstimmungen (Entzugserscheinungen). Solchen Stimmungen begegnet dann das psychische Programm mit der beschriebenen Selbstbehandlung. Damit ist der Suchtkreislauf geschlossen – und mit ihm erhält die Sucht sich selbst. Und in diesem Suchtkreislauf hängt dann der User fest. Auf den ersten Blick ist kein Ausgang aus dem zirkulären Suchtprozess, dem Teufelskreis, erkennbar.

Wer im Suchtkreislauf gefangen ist, "hängt" auch in seinen lebensgeschichtlichen Entwicklungen fest. Bei Sucht-Klienten gibt es neben den direkten Folgeproblemen der Abhängigkeit immer auch anstehende und (noch) nicht bewältigte Lebens- und Übergangsthemen. Die Auseinandersetzung mit solchen Entwicklungsschritten (zum Beispiel: Ablösung vom Elternhaus, Abschluss einer schulischen Ausbildung, Beginn und Abschluss einer beruflichen Ausbildung, Familiengründung aber auch Scheidung, Arbeits- und Wohnortwechsel) wird als beängstigend und überfordernd angenommen, denn jeder dieser lebensweltlichen Schritte wäre ein Schritt auf "gefährliches, unbekanntes Gelände". Diese subjektiv empfundenen Überforderungssituationen und die daraus resultierenden dysphorischen Gefühle werden dann (wegen der gesunkenen Verstimmungs- und Belastungstoleranz) mit der beschriebenen Methode durch "Stoffzufuhr" selbstbehandelt. Die Konsequenz daraus: der emotionale Belastungsdruck wird gemildert, doch der Entwicklungsschritt wird nicht gegangen.

Süchtige Menschen verharren somit in der Schwellen- bzw. Übergangsphase zwischen einem Zustand A, den sie überwinden wollen, und einem Zustand B, den sie erreichen möchten, nach dem sie sich sehnen, den sie aber nicht erreichen. Aus diesem "Scheitern" entstehen neue dysphorische Empfindungen von Unzulänglichkeit, Versagen und Minderwertigkeit, die wiederum durch Alkohol- und/oder Drogenkonsum "bewältigt" werden müssen. Ein weiterer, sich selbst erhaltender, zirkulärer Prozess läuft ab: Die Sehnsucht nach Veränderung tritt in den Hintergrund, die Bewältigung der Sucht (Drogenbeschaffung, Vermeidung oder Minderung von Entzugserscheinungen) tritt in den Vordergrund. Betroffene taumeln in eine Sucht-"Problemtrance" hinein, die alle anderen Fragen ausblendet - im Rückblick wirken solche Phasen dann wie "biografischer Nebel", alles verschwimmt. Wer diesem zweiten Teufelskreis über Jahre oder Jahrzehnte (wie Wolfgang) nicht entkommt, landet in einem altersunangemessenen Lebensstil, der die Fragen aufkommen lässt: Forever young? Forever Junkie?

Wolfgang verharrte seit seiner Jugend in Übergangsphasen zwischen Zuständen der Kategorie A (die er überwinden wollte) und solchen der Kategorie B (die er zu erreichen suchte). Als Jugendlicher verließ er täglich das Dorf, in dem er sich als Außenseiter fühlte und das nicht "seine Welt" war. Aber er musste jeden Abend in dieses Dorf und in sein Elternhaus zurückkehren. Als seine Eltern dann von Schönhorst nach Kiel zogen, konnte er die Herkunftsfamilie verlassen – ohne jedoch jemals in einer "eigenen" Familie "anzukommen". Er ist zwar Vater einer Tochter, doch als dieses Kind geboren wurde, war seine Beziehung zur Kindesmutter bereits beendet. Seine vielen Frauenbeziehungen, die immer in der Drogensucht (und der "Problemtrance") versanken und daran scheiterten, drücken eine anhaltende Sehnsucht nach partnerschaftlicher oder familiärer Bindung aus, die aber nie dauerhaft befriedigt werden konnte. Seine sechsjährige Partnerschaft mit Vita (Westerland/Husum) wirkt auf den ersten Blick wie eine späte Ausnahme vom Lebensmuster, war aber doch eher die süchtige Zweckgemeinschaft zweier Drogenabhängiger.

Auch beruflich blieb Wolfgang in einer Übergangsphase hängen, in einer Lebens-Situation, die eher typisch für Zwanzigjährige ist. Eine Maurerlehre brach er ab und ging dann für einige Jahre zur Hochseefischerei. Dieser Job stellt wegen seiner extremen körperlichen und sozialen (stets wiederkehrende lange Trennung von den Bezugspersonen an Land) aus sich heraus bereits eine Übergangsphase dar – kaum jemand konnte über viele Jahre als Decksmann auf einem Fischdampfer arbeiten. Nach seiner Fischdampferzeit gelang Wolfgang nie wieder der Sprung in eine geregelte Erwerbsarbeit. Es gab Ansätze mit dem Strassen- und Jugendtheater, die aber durch den Drogenkonsum ("Problemtrance") zunichte gemacht wurden. Es gab auch Ansätze durch nachgeholte Schulabschlüsse, doch der eingeschlagene Weg wurde dann nicht weiter gegangen. Wolfgang blieb in der Übergangsphase zwischen Schul- und Berufsbildung hängen. Seit über zwei Jahrzehnten ist er arbeitslos und durchläuft allenfalls Beschäftigungsprogramme des Arbeitsamtes.

Wolfgang Ehlert pflegt als inzwischen fast 50jähriger Mann immer noch den sozialen Lebensstil eines Szene-Junkies aus den 70er Jahren. Er hat keine Wohnung, wenn ihm das Sozialamt keine zahlt. Dann kommt er eben irgendwie bei einer Frau oder einem Kumpel unter. Er darf sich zwar Matrose nennen, hat aber keinen Beruf, der sich aktuell verwerten ließe. Er hat keine feste Partnerschaft, lernt aber immer wieder Frauen kennen und geht partnerschaftliche Bindungen mit ihnen ein (auch im Knast, über Kontaktanzeigen, da hat sich seit dem Schreiben des ersten Kapitels etwas getan). Er treibt durch sein Leben und die einzige Konstante ist die Sucht. Sie hat ihn "young" gehalten, zumindest, was seine soziale Entwicklung angeht, denn in der steht er dort, wo er auch schon als 25jähriger stand. Weitergehende Entwicklungen - eine Lebensgeschichte also, die Ecken und Kanten hat (in der es auch Richtungswechsel gab) – blieben aus. Die Verhaltensmuster des Wolfgang Ehlert ähneln sich seit fast einem Vierteljahrhundert so, dass jeder Spannungsbogen fehlt und trotzdem sorgt die Sucht stets für Dramatik, für "Alarm", wie Wolfgang sagen würde.

Doch diese "Forever young – forever Junkie"-Lebensweise hat längst ihren Reiz und ihren Kick verloren, sie muss allen Betrachtern (auch Wolfgang selbst) als tragisch-altersunangemessen vorkommen zum Teil sogar tragisch-komisch. Die letzte Straftat (die Urteilsbegründung wurde vorne ausführlich zitiert) wirkt ja wirklich wie das Delikt von "durchgeknallten" Halbwüchsigen.

Bisher wurde Wolfgangs Lebensweise als eine "Existenz in der Übergangsphase" beschrieben. Das ist sie aber längst nicht mehr, der unerwachsene und wenig fortentwickelte Lebensstil ist schleichend zur "Normalität" für Wolfgang geworden. Und in diesem ganz speziellen "Normalzustand" möchte Wolfgang nicht bleiben. Er hat ihn satt. Deshalb ist diese Lebensart nach unserer Betrachtungsweise jetzt der Kategorie A zuzuordnen, die Wolfgang überwinden möchte. Zustand B ist aber noch weitgehend "unbekanntes Gelände" – so ganz genau kann Wolfgang jedenfalls nicht sagen, wie es weitergehen soll. Nur eines ist ihm klar: Nicht so wie bisher.

Aktuell gilt zu bedenken, dass die Alternativen zur Lebensgestaltung für einen knapp 50jährigen nicht mehr so vielfältig sind, wie für einen Mann, der halb so alt ist. Außerdem dürfen die Augen nicht davor verschlossen werden, dass in ökonomischen Zeiten wie diesen die Anzahl der alternativen Möglichkeiten ständig sinkt. Keiner kann mehr alles werden. Es stehen Wolfgang also schwierige Zeiten bevor. Wenn er seinen Lebensweg umsteuern will, muss er auf reichlich Frust und viele Kompromisse gefasst sein. Und wenn er derartige emotionale Belastungen wie bisher durch Alkohol- beziehungsweise Drogenkonsum "bewältigt", dann wird sich für eine kurze Weile zwar der Stress aus seinem Kopf verabschieden – aber eine Entwicklung wird nicht möglich sein. Dann dürfte es zwar weiterhin viel "Alarm" in seinem Leben geben (Sucht, Beschaffungsdruck) – aber sonst kaum etwas, denn dann hängt er ganz schnell wieder in der Tretmühle der Sucht fest und wird auch den Knast nicht zum letzten Mal von innen gesehen haben.

Wolfgang Ehlert muss spätestens zu Beginn seiner stationären Therapie suchtmittelfrei sein und während der Therapie angestrengt an der Steigerung seiner Frustrationstoleranz arbeiten. Nur auf dieser Grundlage kann ich für ihn eine Chance erkennen, aus seiner Sehn-Sucht nach einem anderen Leben mehr zu machen als nur Sucht (und Kriminalität).

siehe auch: "Braune Beziehungen - Interviews mit einem Heroindealer"