Geschichten - Gefallener Engel


Ich möchte dir heute eine Geschichte erzählen. Setz dich ruhig zu mir. Schau in meine Augen. Vielleicht wirst du so besser verstehen. Ich möchte dich nicht quälen heute Abend. Ich möchte dir nur erzählen. Ich erzähle dir heute eine Geschichte über die Wahrheit, über das Leben. Vielleicht sollte ich beginnen. Aber ich betone noch einmal: Ich erzähle dir diese Geschichte nicht, um dir weh zu tuen.

Ich kannte vor vielen Jahren einmal ein Mädchen. Ich habe sie jeden Tag beobachtet. Sie kannte mich nicht. Jedenfalls nicht wirklich. Doch ich war immer da. Immer. Ob Tag oder Nacht. Ich war da und habe über sie gewacht. Doch sie nahm mich nie war. Sie fühlte sich immer alleine. Immer. Dieses Kind, welches ich kannte, lachte viel. Es lachte immer. Aussenstehende sagten, dies sei ein fröhliches und glückliches Kind. Doch nur ich wusste, dass es lacht um nicht vor lauter Trauer und Schmerz zu weinen. Denn die Seele dieses Kindes, die dieses Lachen eigentlich ausmachen sollte, war tot. Leer. Verbraucht. Benutzt. Zerissen und zerstört. Dieses Kind war innerlich tot. Ich habe sie viele Jahre lang begleitet. Vielleicht zu viele.

Nein, schau nicht weg. Ich weine, ja. Aber vielleicht spiegeln sich ja in meinen Tränen die Bilder wieder, die ich bei dieser Geschichte sehe. Sehen muss.

Das Mädchen über das ich dir erzähle war sehr traurig. Es fühlte sich allein, gehasst und abstossend. Niemand mochte es. Niemand wollte mit ihr spielen. Niemand nahm es als menschliches Wesen wahr. Jedesmal kam es vom Kindergarten oder von der Schule nach Hause und weinte bitterlich. Denn es wurde wieder geschlagen und gehänselt und niemand war da. Nur ich ruhte über ihr und sendete ihr stumm meine Kraft, die ich besaß.
Eines Tages, bekam dieses Kind Besuch. Es war an jenem Tag 12 Jahre alt. Naiv. Jung. Kindlich. Es wurde besucht von diesen zwei Jungen aus ihrer Klasse. Ich freute mich mit ihr. Denn dies war der erste Tag an dem es Besuch bekam. Sie fühlte sich so plötzlich nicht mehr allein. Also ging sie mit ihnen mit und ich zog mich zurück. Denn ich spürte keine Gefahr. Sie war glücklich. Ich glaubte, sie bräuchte mich nicht mehr. Ich ließ sie allein.

Eine Stunde später kehrte sie zurück. Sie sprach kein Wort. Ich erschrack. Ich wusste nicht was in dieser einen Stunde passierte. Doch ich wusste sofort, es war nichts gutes. Ich sah in ihre Augen. Sie waren so leer... und schwarz. In ihnen spiegelte sich die Traurigkeit wieder. Ich blickte an ihr hinunter. Ihre Kleidung saß schief. Ihre Hose war nicht zugeknöpft. Unter ihren Nägeln klebte Dreck und ihre blonden Haare waren ganz zerzaust, standen wirr vom Kopf ab. Dieses Bild von diesem stummen Kind, sagte mir mehr als tausend Worte. Ich brauchte nicht zu fragen was geschehen war. Ich brauchte mir nur ihren Körper anzusehen, in ihre Augen zu schauen. Dies sagte mir mehr, als jedes Wort. Ich wusste sofort, in ihren Körper drang männliches Gift ein.
An diesem Abend ging sie still zu Bett. Sie bewegte sich schwer und mit gebückter Haltung. Ich sah ihren Rücken. Er war ganz blau und manche Flecke waren fast tiefschwarz. Ihre Oberschenkel und Arme waren gelb und grün. Auf den jungen Brüsten sah ich deutliche gelb/grün/blaue Fingerabdrücke. Dieses Bild zeriss mir das Herz und ich glaube auch ein Teil von mir starb an diesem jenen Tag.

Das Jahr verging. Erst kam der Frühling. Dann der Sommer. Dann der Herbst und der Winter. Sie wurde ein Jahr älter. Ein neues Jahr brach ein. Ich sah noch immer diese Wunde in ihr. Doch ihre Wunden von aussen waren verheilt. Äusserlich lachte sie.
Innerlich schrie alles gegen den Schmerz. Doch sie blieb stumm. Aus Scham. Aus Angst. Sie verdrängte. Und von ihrer Wunde ging weiterhin tödliches Gift aus.

Ich würde gerne stoppen. Ich sehe Tränen über dein Gesicht laufen. Doch ich kann nicht. Ich möchte dir diese Geschichte bis zu ihrem Ende erzählen. Schaffst du das? Oder soll ich eine Pause machen. Aber ich wüsste nicht, ob ich dann noch stark genug wäre um fortzufahren. Nimm dir ein Taschentuch. Trockne das Salz auf deinen Wangen und ich fahre fort...

Es war wieder Februar. Die Luft war kalt. Es war wie vor fast einem Jahr. Ich hatte mir geschworen sie nie wieder allein zu lassen. Nie wieder. Wir waren zu Besuch bei ihm. Sie liebte ihre Großeltern und ich konnte sie für ein paar Stunden lachen und unbeschwert leben sehen. Das machte mich glücklich und ich glaubte zu sehen, wie ein winziges Stück ihrer Wunde zu verheilen schien, jedesmal wenn sie dort war. Hier hatte sie nichts zu befürchten. Hier fühlten wir uns beide sicher. Ich konnte sorgenlos schlafen. In ihrem inneren wachen.
Es war im Februar und es war Nacht. Ich weiß noch, dass es Vollmond zu dieser Nacht gab und nur vereinzelte Wolken am Himmel vorbei zogen. Sie liebte den Sternenhimmel, so sehr wie ich. Sie lag in seinem Bett. So wie immer. Dieses Bett war sehr klein. Aber sie, das kleine Kind ... fast schon eine junge Frau ... fühlte sich wohl. War zufrieden. Lebte Angstfrei.

Doch die Nacht war anders. Sie merkte es, sobald sein Bein ihre Beine berührte, runterdrückte, festhielt. Sie blieb starr. Schloss die Augen. Sie tat nichts. Ihr Atmen setzte aus. Es tat weh zu atmen. Angst schnürrte ihr die Kehle zu. Doch dann war es plötzlich wie ein Messerstich. Wie eine Feuerwalze die über sie hinweg fegte und zu verbrennen drohte. Schmerz auf ihrer Haut. Wie Feuer. Denn das war der Moment als es anfing. Als er sie berührte. Sie verführte. Sie missbrauchte. Vergewaltigte. Wie lange? Minuten? Stunden? Diese Nacht war Zeitlos. Sie endete nie. Auch heute noch nicht.

Und ich war nicht da. Ich wiegte mich und sie wieder in Sicherheit. Ich sollte sie beschützen! Das war meine Aufgabe. Wieder einmal hatte ich versagt.

Es tut mir leid, wenn du jetzt kaum noch meine Worte verstehst. Doch Tränen hindern mich am sprechen... Verzeihe. Ich werde mich sammeln und weitersprechen.

Ich konnte mir diesen Fehler nie verzeihen. Ich wünsche mir oft den Tod. Denn nichts besseres hätte ich verdient. Ich bin ein gefallener Engel. Ich muss mit dieser Schande und dieser quälenden Schuld weiterleben. Ich habe nichts getan! Ich habe sie alleine gelassen. Diesen Fehler kann ich nie wieder gutmachen.

In dieser Nacht riss ihre Wunde wieder auf. Wurde größer und größer, sie breitete sich in ihrem ganzen Körper aus und das Gift konnte ungehindert überall hinströmen und verpestete langsam und qualvoll ihren Körper. Ich war hilflos. Es tut mir leid.

Jetzt ist ihre Seele tot. Tot. Ihre Seele besteht nicht mehr aus lachen. Nicht mehr aus Fröhlichkeit. Nicht mehr aus Unbeschwertheit. Alles ist weg. In ihrer Seele herscht Leere. Fetzen von Verzweiflung, Angst, Wut, Trauer und Schmerzen hängen in der Luft. Doch nichts kann mehr diese Leere ausfüllen.

Ich bin in ihr gefangen. Ich bin der kleine Rest. Der kleine Rest der von diesem Mädchen, von diesem Kind noch übrig geblieben ist. Ich war nicht da. Ich muss in ihr weiterleben. Ich muss meine Schuld tragen. Doch mit nichts kann ich es wieder gutmachen. Mit nichts.

Hier endet sie, diese Geschichte. Konntest du ein paar Bilder in meinen Tränen sehen?

by [me]