Und Jesus ging von dort weg und kam in seine Vaterstadt, und seine Jünger folgten ihm nach. Und als der Sabbat kam, fing er an, zu lehren in der Synagoge. Und viele, die zuhörten, verwunderten sich und sprachen: "Woher hat er das ? Und was ist das für eine Weisheit, die ihm gegeben ist ? Und solche mächtigen Taten,die durch seine Hände geschehen ? Ist er nicht der Zimmermann, Marias Sohn, und der Bruder des Jakobus und Joses und Judas und Simon ? Sind nicht auch seine Schwestern hier bei uns ? Und sie ärgerten sich an ihm. Jesus aber sprach zu ihnen: Ein Prophet gilt nirgends weniger als in seinem Vaterland und bei seinen Verwandten und in seinem Hause. Und er konnte dort nicht eine einzige Tat tun, außer daß er wenigen Kranken die Hände auflegte und sie heilte. Und er wunderte sich über ihren Unglauben.Und er ging rings umher in die Dörfer und lehrte.
Propheten bzw. Prophetinnen - spielen sie in unserer Zeit noch eine ernstzunehmende Rolle ? Da kommen in jährlichem Rhythmus die fünf "Wirtschaftsweisen" zum Bundeskanzler. Sie überreichen ihre wissenschaftliche Analyse der aktuellen Wirtschaftlage und sprechen Empfehlungen für die Zukunft aus. Wer die "Richtlinien der Politik" zu bestimmen hat, sollte auf diese Stimmen hören. Da treten Menschen auf, die mit furchterregenden Bildern das bevorstehende "Ende der Welt" predigen und Rettung in einem "besseren Jenseits" zusichern. Da sind andere Zukunftsvisionäre, die ihre Gläubigen geistig so gefangen nehmen, daß diese ihnen blindlings Folge leisten. Da sind die tagtäglich Gesundheit und Lebensverlängerung verheißenden Angebote in den Medien. Die Aufzählung dieser Stimmen ließe sich sicherlich noch fortsetzen, immer aber geht es darum, sie scheinen die Zukunft zu kennen.
Nun bringt sich Jesus in dem oben zitierten Bibeltext selbst auch in den Ruf eines Propheten.
In damaliger Zeit verbindet sich mit der Bezeichnung Prophet eine etwas andere Vorstellung als wir sie vielleicht haben. In biblischer Zeit gilt der Prophet als "Mund Gottes", als "Künder". Wenn also die Bibel bis heute als "Gottes Wort" gilt, so deshalb, weil sie Gotteserkenntnis zur Sprache bringt.
Als Jesus sich selbst als Prophet hinstellt, hält er sich in seiner heimatlichen Gemeinde auf. Die Nachrichten von seinen erstaunlichen Taten haben sich natürlich schon herumgesprochen. Und nun ist er auf direktem Weg aus dem benachbarten Kapernaum, seinem jetzigen Wohnort, in die alte Heimat gekommen. Zweifellos ist in Nazareth inzwischen bekannt, daß in Kapernaum ein entschlafenes junges Mädchen auf Jesu Anruf hin von den Toten auferstanden ist. Mit Spannung sieht man darum der Predigt des Mannes entgegen, der in ihrer Mitte aufwuchs. Jeder kennt seine Familie, die Brüder und Schwestern, und natürlich auch die Eltern. Jesus ist der Älteste und mancher erinnert sich noch, daß es seinerzeit mit der Familiengründung etwas sonderbar zuging. Auch heute noch ist die Rede von dem "Sohn der Maria", nicht etwa des Josef, wie es doch eigentlich Brauch ist.
Wie in jedem Gottesdienst beginnt man auch dieses Mal mit Lobpreisungen und Gebeten. Es folgen Lesungen aus dem hebräischen Teil der Bibel, und dann ist Jesus an der Reihe.Er soll seinen Kommentar zu den Texten geben. Es dauert nicht lange, und die Hörer werden unruhig. Wie kann einer aus ihren eigenen Reihen, noch dazu ohne Ausbildung in einer Prophetenschule so sprechen als käme Gott selbst zu Wort ? Man hatte ja schon öfter mal von erfolgreichen Heilern gehört, aber Tote auferwecken ? Grenzt dieses Auftreten nicht an Gotteslästerung ?
Der Evangelist Lukas erzählt sogar, um welchen biblischen Text es sich gehandelt haben könnte. Er schreibt: Da wurde ihm das Buch des Propheten Jesaja gereicht. Und als er das Buch auftat, fand er die Stelle, wo geschrieben steht: (Jes. 61,1-2) "Der Geist des Herrn ist auf mir, weil er mich gesalbt hat, zu verkündigen das Evangelium den Armen; er hat mich gesandt, zu predigen den Gefangenen, daß sie frei sein sollen, und den Blinden, daß sie sehen sollen, und den Zerschlagenen, daß sie frei und ledig sein sollen, zu verkündigen das Gnadenjahr des Herrn" ……Und er fing an, zu ihnen zu reden: Heute ist dieses Wort der Schrift erfüllt vor euren Ohren. (Lk. 4, 17-21)
Auf die ärgerlichen Unmutsäußerungen der Leute antwortet Jesus mit dem heute noch geläufigen Ausspruch: Ein Prophet gilt nirgends weniger als in seinem Vaterland und bei seinen Verwandten und in seinem Hause. In seinem heimatlichen Umfeld ist Jesus ganz einfach nicht angekommen, ja, der Evangelist Lukas erzählt sogar, daß er aus dem Ort verjagt und fast zu Tode gestürzt worden ist.
Seit alter Zeit heißt es im christlichen Glaubensbekenntnis von Jesu Weg
gelitten
unter Pontius Pilatus
gestorben und begraben.
In der jetzigen Fasten- bzw. Passionszeit wollen Christen das "gelitten" besonders bedenken. Die Erinnerung an Jesu Erfahrung im Gottesdienst seiner Heimatstadt lässt es ahnen: Sein Leiden beginnt nicht erst mit den körperlichen Misshandlungen - wie der Film "Die Passion" es sehr blutig darstellt. Sein ganzer Lebensweg ist Leidensweg. Als prophetisch Handelnder in Wort und Tat stößt er von Anfang an auf unversöhnlichen Widerstand, trotz der Vielen, die ihm Vertrauen schenken. Jesus sagt nicht nur die Wahrheit, er lebt sie auch, ja er begegnet seinen Mitmenschen als das menschgewordene Wort Gottes, wenn er selbst von sich sagt : Heute ist dieses Wort der Schrift erfüllt vor euren Ohren (Lk. 4,21) und es erfüllt sich noch immer, wo Menschen im Geist Jesu leben und handeln.
In der Menschheitsgeschichte gibt es also prophetische Äußerungen, die in Erfüllung gehen. Wie will man diese nun von falscher Prophetie unterscheiden ? Ich denke, da sind drei wesentliche Kriterien: Einmal die Bevollmächtigung durch den Geist Gottes, d.h. das Handeln geschieht aus Liebe zum Nächsten, dann die Übereinstimmung von Wort und Tat in der prophetischen Gestalt, und schließlich die fast immer ablehnende Reaktion im Umfeld. Der echte Prophet mutet seinen Mitmenschen unerwartet Neues zu und stößt damit auf Widerstand. Je stärker die Strukturen in einer Gesellschaft verfestigt sind, umso ärgerlicher wird auf prophetischen Geist reagiert. Das tragische Schicksal der Geschwister Scholl ist dafür ein Beispiel aus der jüngeren deutschen Geschichte. In einem ihrer Flugblätter schreiben Hans und Sophie Scholl Freiheit der Rede, Freiheit des Bekenntnisses, Schutz des einzelnen Bürgers vor der Willkür verbrecherischer Gewaltstaaten, das sind die Grundlagen des neuen Europa. Der Volksgerichtshof verurteilte die Geschwister Scholl wegen Landesverrats zum Tode. Ihre Vision von einem freien Europa ist heute Verfassungsrecht.