5.3.2. Analyse des griechischen Textteils

Die Unvollständigkeit des griechischen Textteils ab der 29. Zeile sowie kleineren Bruchstellen in den Zeilen 26-30 und jeweils am Anfang der Zeilen 53 und 54 waren die größten Schwierigkeiten bei der Arbeit am Text. Fehlen in Zeile 29 lediglich drei Zeichen, so sind es in Zeile 54 schon mindestens 60 fehlende. Durch diese Unvollständigkeit ergeben manche Sätze keinen Sinn. Um Fehlinterpretationen zu vermeiden, habe ich mich bemüht, den Vokabeln, deren Identität auch im Kontext nicht recht deutlich wird, ähnlich variable deutsche Wörter zu setzen. Manche anderen Wörter lassen sich aus dem Sinnzusammenhang erschließen.
In der nachfolgenden Analyse werde ich mich zunächst auf formale, dann auf inhaltliche Aspekte konzentrieren und abschließend ihr Zusammenspiel erläutern.

Mit sechs Zeilen macht die Datumsangabe gut ein Zehntel des Textes aus. Rein optisch wirkt das wie eine äußerst exakte und ausführliche Bestimmung, die den ernsten Charakter des folgenden Textes vorbereitet. Im Text wurden keinerlei Stilmittel bewusst verwendet, und selbst bei genauerer Betrachtung fällt nichts auf als der trockene Erzählton des Textes, der dem Anlass durchaus gerecht wird. Am deutlichsten stechen die Schreibfehler aus dem Text heraus. Es gibt mehrere Arten: Einmal das, was man heutzutage als „Tippfehler" bezeichnet, nämlich ein falscher Buchstabe in einem Wort, der mit dem richtigen Buchstaben in keinerlei Verbindung steht. Dann noch das Fehlen von Buchstaben und der Einsatz von falscher Aspiration.

Die ersten sechs Zeilen sind ja allein der genauen Datenbestimmung gewidmet; aufgrund dieser peniblen Terminierung kann man Tag und Jahr des Dekrets genau bestimmen (27. März 196 v. Chr.). Das
yhfisma, was anstelle des deutschen Wortes Beschluss mit dem Fremdwort Dekret wiedergegeben wird, hat einen reinen Aufzählungscharakter. Die Taten und Beschlüsse, kurz: alle wichtigen Leistungen des Pharao Ptolemaios V. werden aneinandergereiht. Am Ende folgt die Verfügung, dieses Dekret zu vervielfältigen und „in jedem Tempel ersten und zweiten Ranges aufzustellen" (siehe dazu Kapitel 3.6).

Bei der Zeitbestimmung geht der Text vom Großen ins Kleine: Er nennt erst den König, unter dessen Regierung, das Dekret abgefasst wurde, sowie dessen Funktionen. Dann das Jahr in der Regierung, und zur Verifizierung werden der amtierende Priester der Ahnengötter und drei weitere Priesterinnen des dynastischen Kults genannt. Die Bestimmung des Tages erfolgt erst nach dem griechischen, dann nach dem ägyptischen Kalender. Die Tatsache, dass neben der Rechnung der herrschenden Oberschicht auch die der einheimischen Bevölkerung einbezogen wird, kann zwei Ursachen haben:

Dass der Stein für alle lesefähigen Einwohner Ägyptens bestimmt war, kann man am mittleren Textteil des Steins von Rosette erkennen, der ja in demotischer Schrift gehalten ist. Darum kann es sein, dass man dieser Zahl Einheimischer, die in den hundertvierzig Jahren der makedonischen Herrschaft den griechischen Kalender nicht übernommen hatte, das Datum nahezubringen. Oder aber diejenigen Ägypter, die hohe Stellungen im Götterkult bekleideten, hatten durchgesetzt, ihren uralten Kalender zur Legitimierung des Pharao vor den Göttern Ägyptens hinzuzuziehen.
Ptolemaios V. wird zehnmal genannt, davon sechsmal mit vollem Titel (siehe Kapitel 3.2.3). Eine Häufung der Erwähnung findet sich in den ersten neun Zeilen, sowie in den letzten fünf. Dies unterstreicht seine Leistungen und mag die (freilich vermeintliche) Eigenständigkeit betonen, mit welcher er die Beschlüsse zur Entlastung der Priesterklasse verfasste. Den eigentlichen Machthabern war daran gelegen, keinen Zweifel an der Stärke ihres Pharao aufkommen zu lassen, damit er den mächtigen Nachbarn im Osten nicht suspekt vorkam. Antiochos III. wollte schließlich den labilen Ptolemaios V. von seiner Tochter Kleopatra beeinflussen oder zumindest überwachen können, und hätte man ihm den Beweis geliefert, dass im Hintergrund andere Männer als der Pharao die Fäden zogen, hätte Antiochos womöglich erneut das Ptolemaierreich angegriffen und einen eigenen Pharao bestimmt. Die letzteren Spekulationen sind natürlich nur der Phantasie des Verfassers entsprungen und haben keinerlei Anspruch auf Gültigkeit.
Im Text des Dekrets taucht neben den ägyptischen Göttern (Horus, Isis, Osiris, Apis, Mnevis, Thot) auch der Hermes der Griechen auf. Offenbar bemühten sich die Makedonen nicht um eine radikale Gleichsetzung der eigenen und der fremden Götter, anders als die Römer im 5. Jahrhundert v. Chr. Lediglich Hermes taucht aus dem griechischen Götterreigen auf: Ausgerechnet der olympische Bote, der Gott der Diebe und Wanderer, und er wird auch noch als „der große und große" bezeichnet. Anscheinend besaß er ein Attribut, das im ägyptischen Pandaimonion fehlte und das für eine bestimmte Tat des fremdländischen Pharao wichtig war: Die Einnahme von Lykopolis und die Vernichtung seiner aufständischen Bewohner. Andere ägyptische Gottheiten wurden hellenisiert: so Zeus als Amun und Helios als Re.
Auch die verwendeten Maße stammen aus der Zeit vor der makedonischen Besetzung: Die
artabh ist ein persisches Hohlmaß von 55,8 Litern (1 Medimnus und 3 Choinikes). Es wurde wahrscheinlich bereits während der ersten persischen Fremdherrschaft in Ägypten (525 bis 401 v. Chr.) eingeführt. Die ägyptische Hufe (aroura) hat etwa 100 Quadratmeter. Das Wort stammt aus dem Griechischen („bebautes Land", „Saatfeld", „Flur") und ist wohl eine Übersetzung für den ägyptischen Namen dieses Flächenmaßes.

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Autor: Jonathan Groß