Spioninnen aus Liebe

Der Fall Benita von Falkenhayn und Renate von Natzmer

Nicht nur Mörderinnen mußten und müssen immer wieder ihre Taten mit dem Leben büßen. In der Welt des Mannes, in der die Frau angeblich gleichberechtigt ist, gibt es für sie noch andere Klippen und Abgründe, in die sie von ihren weiblichen - dem Mann oft unbegreiflichen - Gefühlen und Leidenschaften gerissen werden kann.
Die beiden Frauen, die an einem Februarmorgen des Jahres 1935 im Strafgefängnis Berlin-Plötzensee ihren letzten Weg antraten, waren Spioninnen aus Liebe.
Die jüngere von ihnen mit dem Namen des Mannes auf den Lippen, den sie heiß geliebt hatte - der sie aber nur kaltblütig für seine Zwecke mißbrauchte.
»Jurek...«, flüsterte sie noch auf dem Richtblock.
Dann blitzte das Beil, verstummte der Name, der für sie alles umfaßte, unter dem schrillen Bimmeln der Armsünderglocke.
Zehn Jahre vorher, an einem sonnigen Herbsttag 1925, hatte es begonnen. Auf dem Rennplatz in Karlshorst...
Sie gehörten zu einer kleinen Gesellschaft, die der Zufall zusammengewürfelt hatte. Benita von Falkenhayn war die herausragende Erscheinung: groß, blond, blendend gewachsen. Lebenslustige Augen blitzten in ihrem schönen, schmalen Gesicht. Sie ist gerade fünfundzwanzig - eine Frau, nach der sich Männer umdrehten, obwohl sie nur recht einfach gekleidet war.
Zufrieden registrierte sie, daß ihr Nachbar zur Rechten sie erst flüchtig, dann interessiert und schließlich unverwandt musterte.
Er war dunkelhaarig, mit geraden, schwarzen Brauen über den hellblauen Augen. Sein Mund sensibel - nicht schwächlich, aber empfindsam. Wenn er ihn öffnete, wurden seine weißen, regelmäßigen Zähne sichtbar.
Plötzlich spürte er ihre Hand auf seinem Arm.
»Herr Baron - Sie haben gewonnen...«
Lächelnd beugte sie sich vor. Sie deutete auf das Pferd mit der Nummer 5, das gerade mit knappem Vorsprung die Ziellinie passiert hatte. Es gehörte ihrem Nachbarn, dem Rittmeister Georg von Sosnowski.
Jetzt erst löste er seine Augen von der Frau, blickte über die Tribüne nach unten. Dann lächelte er zurück.
»Kein Mensch hätte meiner Stute einen Sieg zugetraut - aber mit Ihnen als Talisman...«
»Oh, danke«, erwiderte sie leise.
Sosnowski erhob sich. Auf seinem schlanken, straffen Körper saß der modische Anzug wie eine maßgeschneiderte Uniform. Seine Gestik hat den lässigen Charme des polnischen Edelmanns. Er entschuldigt sich, um nach Pferd und Reiter zu sehen.
»Bitte - darf ich Sie begleiten?« fragte da die schöne Blondine. »Ich liebe Pferde.«
Er nickte, wandte sich fragend an ihren Ehemann.
Oberleutnant a. D. Richard von Falkenhayn wirkte müde und abgespannt. Noch vor einem Jahr hatte er an Tagen wie diesem selbst im Sattel gesessen. Ein großartiger Reiter, der ein Rennen nach dem anderen gewonnen hatte. Dann war es passiert. Er war gestürzt - mitten vor der Tribüne. Wie tot hatte man ihn von der Bahn getragen. Es dauerte Monate, bis er wieder gesund wurde. Seither war er ein anderer. Nervös und verdrießlich. Und auffallend gleichgültig seiner hübschen, jungen Frau gegenüber.
Er sah jetzt den fragenden Blick Sosnowskis.
»Aber bitte...«, murmelte er abwesend.
Benita stand auf, hakte sich bei ihrem gutaussehenden Begleiter ein, schritt ruhig und sicher an seiner Seite. Im Nacken spürte sie die vielen Blicke, die ihr heimlich oder offen nachliefen.
Der Rittmeister bedankte sich bei seinem Jockei, klopfte anerkennend den Hals der Stute. Die Frau zog einen Handschuh aus, fuhr dem Tier ebenfalls liebkosend über das dampfende Fell.
»Mein Mann beneidet Sie«, sagte sie leise.
Er zog die dunklen Brauen hoch. »Gibt es einen Grund?«
»Ja - die Pferde. Nach dem Sturz hat er seinen Rennstall aufgeben müssen... Darüber kommt er nicht hinweg.«
»Warum richtet er sich nicht einen neuen ein?«
Sie seufzte, zuckte die runden Schultern.
»Schulden...«
Der Mann überlegte einen Moment. Dann erwiderte er: »Es muß schlimm für ihn sein... Wenn er will, kann er vorläufig bei mir reiten.«
»Ist das ein ernsthaftes Angebot?«
Er nickte lächelnd. »Meine Angebote sind immer ernsthaft - wenn auch nicht immer selbstlos. Ich teile mit Ihrem Mann: fünfzig zu fünfzig -«, sein Lächeln wurde breiter, »- die Renngewinne...«
Am Abend wurde das Abkommen bei Musik und Sekt besiegelt. Richard von Falkenhayn war sichtlich aufgetaut. Beflügelt von der Aussicht, bald wieder reiten und siegen - und kassieren zu können. Denn von seiner schmalen Offizierspension konnte er mit seiner jungen Frau nur dürftig leben.
Sosnowski erhob sein Glas. »Auf den ersten Sieg!«
Falkenhayn stieß mit ihm an.
»Auf die schnellen Pferde...«
»...und die schönen Frauen«, setzte der Rittmeister mit galanter Verbeugung zu Benita hinzu.
Über den Rand des Glases hinweg suchte er ihre Augen. Für einen Moment sahen sie einander an: aufmerksam - aber nicht allzu lange...
Sie hatte ihr schönstes Kleid angezogen. Es war teuer, viel zu teuer für ihre Verhältnisse - aber noch zu bescheiden für das Hotel, in das Sosnowski sie und ihren Mann eingeladen hatte.
»Kempinski« - damals Berliner Treffpunkt von Prominenz aus Politik und Wirtschaft, der Spitzen von Geld und Aristokratie, der Vertreter von Diplomatie und Grazie. Der Schmuck der Damen glitzerte mit dem Glasgeriesel der Kristallüster um die Wette. Fracks, Uniformen, Orden, steife Hemdbrüste - das alles spulte wie ein aufregender Film vor Benita von Falkenhayn vorüber.
Ihr Mann hatte zwar einen großen Namen mit in die Ehe gebracht - die große Welt aber war er ihr bisher noch schuldig geblieben... Und noch manches andere.
»Unser Verhältnis zueinander war freundschaftlich«, sollte sie später bekennen, als sie kurz vor ihrem Tod ihren Lebensbericht schrieb. »Er hatte aber nicht die Art, eine Frau zu fesseln. Seine Bequemlichkeit ging ihm über alles...«
Sosnowski dagegen war ein Mann, wie sie noch keinen kannte. Er schien alles das zu besitzen, was Richard fehlte. Von der ersten Minute an fühlte sie sich zu ihm hingezogen, verliebte sie sich in ihn. Und sie ahnte nicht, daß sie für ihn nur eine Schachfigur war, die er bald schon aufnehmen würde - zu einem gefährlichen Zug in einem tödlichen Spiel...
Zu dritt waren sie zwei Stunden durch den Grunewald geritten. Während Richard von Falkenhayn die Morgenarbeit mit Sosnowskis Pferden fortsetzte, gingen Benita und der Rittmeister über einen schmalen Pfad zum Parkplatz zurück. Er sah sie blinzelnd von der Seite an, und sie blickte mit leisem Lächeln zurück. Das Sonnenlicht, das durch die schneebedeckten Wipfel der Bäume sickerte, setzte helle Flecke in ihre blauen Augen. Eine unbestimmte Lockung schien von ihr auszugehen.
»Sie nehmen mich auch wirklich gern mit zur Stadt?« fragte sie.
Er nickte. Fröstelnd zog er sich unter seinem eleganten, pelzverbrämten Mantel zusammen. »Wenn Sie wollen, dürfen Sie sich dafür revanchieren - mit einer Tasse Tee.«
Ihm entging nicht das schnelle, verräterische Funkeln ihrer Augen, als sie erwiderte: »Einverstanden... Kommen Sie auf einen Sprung mit zu mir...«
Sie setzten sich in seinen großen amerikanischen Wagen, und als sie durch das winterliche Berlin fuhren, fragte sie wie nebenbei: »Warum sieht man Sie nie zusammen mit Ihrer Frau?«
Sosnowski zögerte. Ein Schatten umwölkte seine Augen.
Dann sagte er: »Sie ist abgereist. Wir wollen uns scheiden lassen... Sie ist immerhin zwanzig Jahre älter als ich...«
»Oh, wie bedauerlich«, entgegnete sie.
Aber sie wußte, daß ihre Entgegnung eine Lüge war. Denn auf diese Antwort hatte sie im stillen gehofft.
Das Haus Lützowufer 2, vor dem sie schließlich hielten, war ein düsterer, alter Kasten, der einmal bessere Tage gesehen hatte.
»Erschrecken Sie nicht, wie wir wohnen«, sagte sie, als sie ihm voran die Treppe hinaufging. »Mit Richards Pension können wir eben keine großen Sprünge machen... Dafür hat er sich im Krieg zusammenschießen lassen!« Seufzend fuhr sie fort: »Er ist eben nur ein a. D. - ein abgeschobener Deutscher. Doch denen, die noch im Dienst des Staates stehen, geht es auch nicht besser. Ich erzählte Ihnen ja schon von meiner Freundin, die im Reichswehrministerium arbeitet. Im Rang eines Offiziers - fuhr den Lohn einer Sekretärin.«
Sie schloß die Wohnungstür auf, machte eine wegwischende Geste, während sie ihren Mantel auszog und aufhängte.
»Aber lassen wir das... Wie mögen Sie den Tee?«
Er folgte ihr ins Wohnzimmer. Nach einem kurzen Blick auf das alte, ärmliche Mobiliar trat er auf sie zu. Sie wirkte in dieser tristen Umgebung wie eine schöne fremde Blume... Eine leichte Röte färbte ihre Wangen, und ein herausforderndes Zucken lief um ihren Mund, als er den Finger unter ihr Kinn legte.
Leise sagte er: »Lassen wir auch den Tee...«
Sie sträubte sich nicht, als er sie an sich zog. Ihr Arm glitt tastend an seiner Schulter entlang. Er spürte, wie sich ihr Körper sanft und innig an ihn schmiegte. Ihre Lippen waren einen Moment abwartend kühl - dann erwiderte sie seinen Kuß so heiß und leidenschaftlich, als habe sie viel nachzuholen... Nach einer Weile löste sie sich von ihm. Ihr Atem ging schnell.
»Gehen Sie - geh lieber!« flüsterte sie.
Da faßte er sie noch fester.
»Nein...«
Ihre Gegenwehr ging unter im wirbelnden Rausch ihrer Sinne. In seinen Armen vergaß sie alles - alles, was bis dahin gewesen war...
»Durch Jurek«, schrieb sie später in der Todeszelle, »bekam mein Leben eine Wendung schicksalschwerster Art...«
Von dieser Stunde an waren die beiden unzertrennlich. Man sah sie zusammen auf den Rennbahnen, während Falkenhayn für Sosnowski Rennen ritt - unglücklich und sieglos. Man sah sie zusammen im Kempinski, im Adlon, auf Partys der Gräfin Bocholtz am Kaiserdamm. Sie blühte an seiner Seite auf, wurde noch schöner, noch begehrenswerter.
Er verwöhnte sie, kaufte ihr ein Auto, Kleider, gewöhnte sie an Geld und Luxus - und versprach ihr die Heirat.
Ihre Ehe zerbrach. Ihre Eltern wandten sich von ihr ab. Ihr Ruf ging verloren. In der Berliner Gesellschaft galt sie bald nur noch als das ausgehaltene Verhältnis des Polen - das alles nahm sie in Kauf. Und sie machte sich kaum Gedanken darüber, wovon er sein aufwendiges Leben finanzierte.
Eines Abends, Anfang 1927, erfuhr sie es...
Er lag auf der Couch in ihrer Wohnung, mit dem Kopf auf ihrem Schoß. Das Zimmer war in Halbdunkel getaucht. Nur eine kleine Lampe brannte. Träge Rauchkringel taumelten von seinen Lippen zur Decke empor.
»Ich habe ein Geheimnis vor dir, Benita!« sagte er plötzlich.
Sie hob leicht die sauber gezupften Augenbrauen.
»Ist es... eine andere?«
Er löste sich von ihr, stand auf, lief nervös durchs Zimmer, blieb dann mit dem Rücken zu ihr in der Mitte stehen.
»Nein«, erwiderte er knapp. »Mit unserer Liebe hat das nichts zu tun.« Er zögerte kurz, ehe er sich zu ihr umdrehte und fortfuhr: »Ich muß dir gestehen, daß ich nicht der sorglose Lebemann bin, für den mich alle halten. Ich bin aktiver polnischer Offizier - mit dem Auftrag, hier in Berlin militärische Nachrichten zu sammeln!«
Benitas hübsches Gesicht verfärbte sich, wurde blaß.
»Spionage...?« stammelte sie.
Er nickte. Seine dunklen Augen brannten.
»Ja. Du hast mich jetzt in der Hand - du kannst mich anzeigen. Wenn du mich aber liebst, wirklich liebst, mußt du mir helfen! Andernfalls -«, erneut zögerte er, »- andernfalls werde ich Berlin sofort und für immer verlassen...«
Nur kurze Zeit schwankte sie.
Dann wußte sie, was sie zu tun hatte. Ihre Liebe ließ ihr keine andere Wahl. Sie zwang sie auf den Weg, der sie acht Jahre später ins Verhängnis führen sollte - in die Todeszelle von Plötzensee...
Die Strafanstalt Plötzensee, das deutsche »Sing-Sing«, liegt am Westhafen Berlins. Erbaut im schmucklosen Kasernenhofstil der Wilhelminischen Ära. Sechs Meter hohe Mauern, langgestreckte Verwahrhäuser mit ungeputzten, rohen Ziegelwänden. Jedes Haus umschlossen von einem eigenen Spazierhof, der von den anderen Höfen wiederum durch Mauern mit Eisentoren abgetrennt ist - eine düstere, verschlossene Welt für sich.
Im C-Flügel des Hauses III brennt im Erdgeschoß Nacht für Nacht das Licht - hier liegen die Todeszellen. Enge, kalte, doppelt gesicherte Kammern. In einer von ihnen wartet Benita von Falkenhayn am Abend des 17. Februar 1935 auf ein Wunder - auf ihre Rettung...
Ihr Verteidiger hat ihr am Nachmittag noch Mut gemacht. Sie hofft auf Begnadigung. Doch über ihr Schicksal ist längst entschieden. In der Zelle neben der Wachstube, nur wenige Meter von ihr entfernt, sitzt schon der Mann, der es bald besiegeln wird...
Scharfrichter Gröpeler ist mit dem Morgenzug um 8.20 Uhr aus Magdeburg gekommen. Eine breitschultrige, kräftige Gestalt mit rötlichem Schnurrbart und militärisch kurzem Haarschnitt. Seinen hochgeknöpften Gehrock hat er jetzt abgelegt. Mit aufgekrempelten Ärmeln sitzt er mit seinen Gehilfen beim Skat.
Das dumpfe Geräusch ihrer Fäuste, die hart die Karten auf den Tisch schlagen, dringt von Zeit zu Zeit in die Zelle, in der Benita von Falkenhayn ihren Lebensbericht beendet, den sie in der Untersuchungshaft begonnen hat.
»Sosnowski versprach, mir für meine Dienste monatlich 1000 Mark zu geben«, schreibt sie über die schicksalhafte Szene im Januar 1927. »An einen Krieg, so redete er mir ein, wäre in den nächsten zehn Jahren nicht zu denken. Bis dahin seien ohnehin alle Nachrichten wertlos - ich schade also niemandem, wenn ich ihn bei seiner Arbeit unterstütze.
Nun erfolgten neue Zärtlichkeiten, und er sagte, alles sei gar nicht so wichtig. Nur wolle er mir fürs erste 2000 Mark geben, die ich ihm eben quittieren solle. Auf einer Rechnung, die schon auf mich ausgestellt war. Wenn ich ihn liebte, wäre es das Einfachste von der Welt. Ich tat es - in meinem Rausch und Liebeswahn...«
Für einen Moment hält sie im Schreiben inne, hebt lauschend den blonden Kopf.
Schritte auf dem Flur. Das Türschloß knirscht. Der schwere Riegel wird zurückgeschoben.
Benita springt auf, als ein Mann mit roter Robe und rotem Barett die Zelle betritt: Reichsanwalt Jorns. Begleitet von einem Inspektor der Gefängnisverwaltung.
Jorns blickt sie unbeteiligt an. Mit knarrender Stimme sagt er: »Der 3. Senat des Volksgerichtshofs hat Sie wegen Verrats militärischer Geheimnisse zum Tode verurteilt. Ihr Verteidiger hat ein Gnadengesuch für Sie eingereicht. Ich bin beauftragt, Ihnen mitzuteilen, daß der Führer und Reichskanzler von seinem Gnadenrecht keinen Gebrauch gemacht hat. Das Urteil gegen Sie ist rechtskräftig. Es wird morgen früh um sechs Uhr vollstreckt!«
Sie sinkt auf einen Schemel. Sie hört, wie die Tür sich schließt, wie die Nachbarzelle geöffnet wird.
»Nein...«, murmelt sie verloren.
Es dauert Sekunden, bis sich ihre Erstarrung löst. Bis sie aufspringt, sich auf die Pritsche wirft, und immer wieder verzweifelt den einen Namen hinausschreit:
»Jurek! Jurek...!«
Georg von Sosnowski - von Benita zärtlich »Jurek« genannt - wiegte sie ein Jahr lang in Sicherheit.
Monat für Monat zahlte er ihr ein »Gehalt« von 1000 Mark - und sie hatte dafür nichts zu tun, als gut auszusehen, sich sorgfältig zu schminken, elegant zu kleiden und bei den Prominentenpartys, die er gab, als Gastgeberin aufzutreten. Zuerst war dieses Dasein für sie ein Traum. Doch allmählich gewöhnte sie sich daran. Schließlich konnte sie nicht mehr ohne Luxus leben... Als Sosnowski das bemerkte, zog er die Schlinge zu.
Er fragte sie: »Wie hieß doch noch deine Freundin aus dem Reichswehrministerium?«
»Irene von Jena. Warum?«
»Lade sie zu dir ein. Ich möchte sie kennenlernen.«
»Wenn es dein Wunsch ist...«
»Kein Wunsch!« Er zündete sich mit einem goldenen Feuerzeug eine Zigarette an, und blickte sie über den ersten Rauchkringel, den er ausstieß, lächelnd an. »Es ist ein Auftrag!«
Seine Stimme klang anders als sonst. Auch sein Lächeln war anders. Ein Lächeln, das Härte verriet.
Sie begriff sofort. Sie unterdrückte ihre Angst. Sie wußte, daß jetzt die Zeit gekommen war, ihre Rolle zu spielen - in dem gefährlichen Spiel, dessen Regeln und dessen Ausgang sie noch nicht kannte...
»Also gut«, erwiderte sie.
Irene von Jena kam schon am nächsten Abend in die Wohnung Benitas am Lützowufer. Sosnowski hatte die früher ärmlichen Räume auf seine Kosten neu und verschwenderisch ausstatten lassen, und die junge Adelige blickte sich verwundert um.
Sie war schmal und zierlich. Bis auf die geschminkten Lippen hatte sie sich weiter nicht zurechtgemacht. Eine blasse, unscheinbare Frau, an der die Männer vorbeigingen. Es schmeichelte ihr, daß der gutaussehende Rittmeister sich so eingehend für sie interessierte. Zwanglos und unauffällig brachte er das Gespräch auf ihre Tätigkeit im Ministerium.
»Ein verantwortungsvoller Posten«, sagte er.
»Ja«, entgegnete sie fast schroff. »Aber miserabel bezahlt.«
»Nun ja - es gibt Dinge, die sind nicht mit Geld aufzuwiegen.«
Sie seufzte. »Das sagte man uns neulich auch - und dann kürzte man uns die Gehälter...«
Sie brach das Thema ab, und er drang nicht weiter in sie. Kurze Zeit später verabschiedete er sich. Die beiden Frauen blieben allein. Geschickt horchte Benita die Schulfreundin aus. Bald wußte sie von ihr alles, was Sosnowski interessierte.
Wegen der Hunderttausend-Mann-Klausel aus dem Versailler Vertrag hatte das Reichswehrministerium eine Reihe von Offizieren für den Militärdienst freigestellt und ihre Schreibtischposten im Ministerium Frauen anvertraut. Frauen aus angesehenen alten Familien. Meist Adelige. Irene von Jena, Tochter eines Generalmajors, war eine von ihnen. Sie arbeitete beim Stab des Wehramtes im Referat 1b. In einer hohen Vertrauensstellung - für das niedrige Gehalt von 225 Mark im Monat. Davon wurde ihr jedesmal noch ein größerer Betrag abgezogen. Für Kleider, die sie für sich und ihre Schwester auf Gutscheine aus dem Ministerium gekauft hatte.
Sosnowski schmunzelte, als Benita ihm am nächsten Morgen Bericht erstattet hatte.
»Eine Frau mit Schulden - genau nach meinem Geschmack...«
Benita fühlte sich nicht ganz wohl in ihrer Haut, und sie versuchte, ihn von seinem Vorhaben abzubringen.
Da legte er seine Hände auf ihre Arme, zog sie sanft an sich.
»Nicht schwach werden, Engel. Du liebst mich doch?«
Für einen Augenblick straffte sich ihr Körper. Dann, unter seinem Kuß, verlor ich ihr leiser Widerstand. Sie seufzte, ihre Knie wurden schlaff, und sie gab seinem begehrlichen Drängen nach. Ihre Lippen antworteten ihm gierig... Sie war ihm rettungslos verfallen. Wachs in seinen Händen...
Später erteilte Sosnowski ihr genaue Anweisungen für die Anwerbung ihrer Freundin. Widerspruchslos, mit einer Kaltblütigkeit, die sie selbst überraschte, befolgte sie seinen Plan.
»Jurek und ich machen bald eine Reise zur Riviera«, schwärmte sie ihr vor. »Nizza... Cannes... Monte Carlo...«
Die Augen Irenes funkelten begehrlich auf.
Benita bemerkte es. Schnell stieß sie nach: »Hättest du nicht Lust, mitzukommen?«
»Lust schon. Aber das kostet doch allerhand.«
Lässig winkte Benita ab. »Du könntest in unserem Wagen mitfahren. Die Fahrt hast du also frei. Und für das andere sparst du eben etwas.«
»Sparen - wovon?« erwiderte Irene bitter. Langsam schüttelte sie den Kopf. »Nein, nein, dafür reicht mein Gehalt nicht.«
Benita runzelte die Stirn. Sie schien über etwas nachzudenken. Grübelnd sagte sie nach einer Weile: »Ich wüßte da einen Weg für dich, zu Geld zu kommen...«
Mit gedämpfter Stimme erzählte sie von einem Engländer, einem gewissen Mr. Graves. »Ein Mann mit viel Geld, Leiter einer Organisation gegen den Bolschewismus. Er ist an Material aus dem Reichswehrministerium interessiert und zahlt dafür hohe Honorare... Könntest du ihm solches Material liefern, Irene?«
Empört reckt sich die zierliche Gestalt ihrer Freundin auf. »Das kann doch nicht dein Ernst sein. Das ist doch Landesverrat!«
Benita war auf diese Reaktion gefaßt. Wie in einem Theaterstück hatte sie vorher mit Jurek den vermutlichen Verlauf des Gesprächs konstruiert und durchgeprobt. Jurek hatte dabei die Rolle der Jena gespielt und deren Argumente vorgebracht. Sie wußte deshalb sofort, wo sie den Hebel anzusetzen hatte.
»Ach was«, sagte sie wegwerfend. »Dieser sehr deutschfreundliche Engländer hat nur Interesse für die russische Abwehr. Er ist so vorsichtig, daß überhaupt nichts passieren kann.« Dann hob sie die Stimme. Leidenschaftlich fuhr sie fort: »Von dem Geld einmal abgesehen - ist es nicht die Pflicht aller guten Deutschen, etwas gegen die Russen zu tun? Das Reich ist in Gefahr, seitdem General von Seeckt mit den Sowjets sympathisiert. Das führt noch zur Katastrophe, wenn wir nicht aufpassen. - Vergiß das nicht!«
Irene von Jena nickte.
Dieses Argument zeigte ihr plötzlich alles in einem anderen Licht: Sie konnte als gute Patriotin handeln - und gutes Geld nebenher verdienen...
Zögernd begab sie sich auf den Weg, der sie zunächst an die Riviera, dann aus ihren Schulden und schließlich lebenslänglich ins Zuchthaus bringen sollte...
Sie machte mit. Sie schmuggelte Geheimdokumente, in eine Zeitung gelegt, aus dem Ministerium. Sie brachte sie in die nahegelegene Wohnung Benitas. Und sie wußte nicht, daß der geheimnisvolle »Mr. Graves«, an den ihre Freundin das Material weiterleitete, kein deutschfreundlicher Engländer war, sondern ein polnischer Offizier: Sosnowski.
Sie wußte auch nicht, daß sie im Kriegsministerium in Warschau als Agentin geführt wurde - unter dem Decknamen »Dattel«.
Im Sommer 1928 erzählte sie Benita von ihrer Freundschaft mit einer Adeligen, die ebenfalls im Reichswehrministerium arbeitete - in der wichtigsten von einer Frau besetzten Schlüsselposition: Renate von Natzmer führte das Briefbuch für die »roten geheimen Kommandosachen«. Damit hatte sie Einblick in die wichtigsten militärischen Geheimnisse.
Sosnowski war wie elektrisiert. Die letzten Lieferungen Irene von Jenas hatten Warschau nicht befriedigt. Man hatte ihm Vorwürfe gemacht. Ihm mit Abberufung gedroht. Wegen seines maßlos teuren Lebenswandels. Wegen der hohen Summen, mit denen er um sich warf - ohne wirklich wichtiges Material zu liefern. Jetzt sah er die große Chance, endlich den großen Schlag zu landen. Hoffnung packte ihn, ließ ihn aufspringen.
»Diese Frau, Benita«, stieß er aufgeregt aus. »Ich muß sie gewinnen!«
Benita lächelte spöttisch. »Für dich - oder deine Arbeit?«
Er trat auf sie zu, blickte sie fest an. »Du hast keinen Grund zur Eifersucht. Du weißt, daß du meine Frau wirst - sobald ich frei bin...«
Sie glaubte ihm. Und doch sollte diese Renate von Natzmer ihre Rivalin in der Liebe zu Sosnowski werden.
Und deshalb Jahre später ihre Partnerin beim Sterben...
»Jurek! Jurek...!«
Die gellenden Schreie aus der Zelle nebenan haben Renate von Natzmer vom Stuhl hochgerissen. Sie steht wie erstarrt. Sie ahnt dumpf, was diese Schreie Benitas zu bedeuten haben - noch ehe an ihrer Tür die Riegel klirren.
Das schmale, straffe Gesicht des Reichsanwalts Jorns schiebt sich wie ein heller Fleck in ihr Blickfeld. Sie sieht, wie sich sein blutleerer Mund öffnet, hört, was seine knarrende Stimme zu sagen hat.
Sterben... Morgen früh um sechs...
Renate von Natzmer registriert es still. Sie weint nicht, begehrt nicht auf, bricht nicht zusammen.
Sie hat es von Anfang an gewußt. Sie war nicht von Liebe verblendet wie Benita, als sie sich in das gefährliche Spiel einließ. die Liebe kam später. Erst tat sie es für ihren kranken Vater. Ihrem Bruder sagte sie: »Vielleicht muß ich eines Tages meinen Kopf dafür hergeben...«
Jetzt ist es soweit. In zwölf Stunden...
»Haben Sie noch einen Wunsch?«
Sie blickt auf. Der Gefängnisdirektor steht vor ihr.
»Ein Glas Wein«, sagt sie leise.
Man bringt es ihr, obwohl Alkohol in der Todeszelle seit kurzem streng verboten ist. Obwohl in ganz Plötzensee zu dieser Stunde kein Wein aufzutreiben ist. Nur bei einem - bei dem Mann, der mit seinen Gehilfen neben der Wachstube des Hauses III einen zünftigen Skat drischt.
Bei Scharfrichter Gröpeler...
Renate von Natzmer weiß nicht, daß sie den letzten Schluck Wein ihres Lebens aus der Flasche ihres Henkers trinkt.
Und ihr Henker ahnt nicht, daß er sich elf Jahre später mit Wein betrinken wird, ehe er einen kurzläufigen Revolver an die Schläfe setzt und abdrückt... Ehe er sich den Tod, den er so vielen anderen brachte, selber gibt - wie seine Vorgänger...
Der erste Scharfrichter von Plötzensee, der Magdeburger Reindel, starb eines natürlichen Todes, nachdem er zwischen 1874 und 1898 196 Menschen enthauptet hatte. Sein Nachfolger Krautz endete im Zuchthaus. Er hatte einen seiner  Gehilfen erschlagen. Lorenz Schwietz, der nächste, starb durch eine Revolverkugel. Und Gröpelers Vorgänger Späth nahm sich ebenfalls das Leben.
Sie alle waren mit der Blutschuld, die sie für andere, für die Gesellschaft, auf sich luden, nicht fertiggeworden. Opfer ihrer eigenen um Tod und Vernichtung kreisenden Anlage, die sie erst zum Köpfen, dann zum Selbstmord drängte...
An diesem Abend des 17. Februar 1935 ist Gröpeler, der gelernte Pferdemetzger und Kürschner, allem Anschein nach noch ein fest in sich ruhender Mann.
Er hat gute Karten. Er gewinnt eine Runde nach der anderen - während seine Gedanken um die beiden Frauen kreisen, die morgen früh ihr Leben verlieren sollen. Durch ihn...
Renate von Natzmer lernte den Rittmeister Georg von Sosnowski nicht im eleganten Anzug, sondern in der Badehose kennen. An einem schwül-heißen Nachmittag am Stölpchensee. Was wie Zufall aussah, war sorgfältig arrangiert worden. Irene von Jena hatte ihre Bekannte aus dem Ministerium weisungsgemäß mit zum Baden genommen. In der Bucht, in der die beiden Frauen im Sand lagen, tauchten wenig später Sosnowski und Benita auf.
»Hallo!« stieß Irene mit gut gespielter Überraschung aus.
Sie machte Renate mit dem schönen Polen und seiner schönen Geliebten bekannt.
»Irene hat uns schon viel von Ihnen erzählt«, sagte er lächelnd. Er bückte sich zu Frau von Natzmer herunter, um ihr die Hand zu geben. Die Muskeln seines gebräunten Körpers spielten dabei im gelben Sonnenlicht. »Wie nett, Sie selbst kennenzulernen.«
Er taxierte sie flüchtig: grobes, breitflächiges Gesicht mit hohen Backenknochen; nicht gerade schön. Die Figur unter dem einteiligen hellen Badeanzug ließ allerdings keine Wünsche offen: weiblich attraktive Rundungen, schlanke Beine, schmale Fesseln. Zufrieden kehrten Sosnowskis Augen von der kurzen Inspektion zurück.
»Auch ich habe von Ihnen gehört«, gab Renate zurück.
Immer noch lächelnd, erwiderte er: »Hoffentlich nichts Schlechtes?«
»Nein - aber manches Amüsante...«
Mit sicherem Instinkt spürte er, daß er ihr sofort gefiel. Er sprang mit ihr ins Wasser, tollte mit ihr am Strand herum. Und schließlich, als die Strahlen der Sonne schräger fielen, legte er die sentimentale Platte auf. Er setzte sich neben sie, sprach von seinen Pferden, von seiner Jugend, von dem großen Gut seiner Eltern, auf dem er aufgewachsen war. Nach einer Weile sagte sie leise: »Bitte, hören Sie auf...«
Er sah, daß sich ihr Körper wie fröstelnd zusammenzog. Seufzend sagte er: »Verzeihung - ich wollte keine dunklen Erinnerungen heraufbeschwören.«
Erstaunt blickte sie ihn an.
»Wie kommen Sie darauf? Durch Irene?«
Er nickte. Er wußte alles von ihr.
Daß sie einem uralten Adelsgeschlecht entstammte. Daß der Sitz ihrer Familie, das Rittergut Borkow in Pommern, zwangsversteigert werden mußte, nachdem ihr Bruder, der es verwaltete, riesige Schulden gemacht hatte. Daß sie nach zweijähriger Ehe geschieden worden war. Daß ihr Mann ihre Mitgift durchgebracht hatte. Daß sie jetzt für sich und ihren mittellosen siebzigjährigen Vater und dessen hohe Arztkosten aufkommen muß - mit ihren 250 Mark im Monat...
Benita von Falkenhayn stand plötzlich vor ihnen.
Lachend rief sie: »Schluß jetzt mit der blauen Stunde! Es wird kalt. Wollen wir nicht alle zusammen essen gehen?«
Renate von Natzmer stimmte zu. Sie fühlte sich wohl in der Gesellschaft des gutaussehenden Mannes und seiner eleganten Freundin. Sie ließ sich später gern in die Wohnung am Lützowufer einladen. Bald war sie dort ein häufiger Gast. Sie freundete sich mit Benita an, duzte sich schließlich mit ihr. Im Oktober 1928 schien sie Sosnowski für seine dunklen Pläne reif zu sein.
Benita versuchte, sie bei ihren finanziellen Sorgen zu packen. Kopfschüttelnd sagte sie: »So kann das mit dir nicht weitergehen. Immer nur arbeiten und dich einschränken... Auf diese Art wirst du nie einen Mann finden, der dir etwas bieten kann.«
Renate zuckte vergrämt die Schultern.
»Es ist nun mal so. Ich kann es nicht ändern.«
»Doch«, sagte Benita nach kurzem Überlegen, mit vielsagendem Lächeln.
»Ich glaube, du kannst es...«
Wieder tischte sie die Geschichte von dem »deutschfreundlichen Engländer« auf. Von seinem Interesse an Material aus dem Reichswehrministerium. Von dem hohen Honorar, das er bezahlen würde. Doch Renate von Natzmer war standhafter als vor ihr Irene von Jena. Sie ging nicht auf Benitas Vorschlag ein - vorerst nicht. Bis auch sie den Lockungen des Luxus unterlag, denen man sie nun planmäßig aussetzte. Bis sie sich von Benita dazu überreden ließ, für 400 Mark ein Kleid zu kaufen - um auf einem Fest einem Mann zu gefallen.
Vor Gericht sagte sie später: »Ich stellte meine anfänglichen Bedenken zurück und stimmte dem Plan von Frau von Falkenhayn zu, um mein Einkommen zu erhöhen und meinen Vater unterstützen zu können.«
Auch sie wußte lange Zeit nichts davon, daß Sosnowski ein polnischer Spion war. Daß sie in Wirklichkeit für ihn arbeitete. Als sie es erfuhr, war es zu spät - war auch sie ihm schon verfallen...
Sosnowski hatte richtig vermutet: Renate von Natzmer wurde seine beste Agentin. Ihre Lieferungen begeisterten seine Hintermänner, werteten seine Wichtigkeit erheblich auf. Auf dem Umweg über Benita zahlte er ihr monatlich 800 Mark. Auf demselben Umweg erhielt er von ihr Geheimdokumente, von deren Existenz nur wenige Eingeweihte wußten. Nachts ließ er sie fotokopieren - morgens lagen sie wieder im Panzerschrank des Ministeriums. Und mittags waren die Kopien schon auf dem Weg nach Warschau.
Doch alle diese Dokumente sollten von einem einzigen anderen noch weit übertroffen werden.
»Ich will mich aus dem Geschäft zurückziehen«, erklärte Renate eines Tages Benita. »Vorher könnte ich deinem Mr. Graves noch etwas Ungewöhnliches liefern - wenn er mich dafür außer der Reihe ungewöhnlich gut bezahlt. Sag ihm, daß er etwas Wichtigeres nie wieder bekommen kann.«
»Und das wäre?«
»Der deutsche Aufmarschplan!«
Sosnowski, der kalte, abgebrühte Nachrichtenoffizier, verlor fast die Sprache, als er davon erfuhr. Seine Augen glänzten fiebrig. Sein Atem ging schneller. Vor Gericht sagte er später: »Der A-Plan - das war der Traum eines jeden Spions!« Über Benita ließ er Renate sofort die geforderte Summe anbieten: 30000 Mark.
Am 29. August 1929 ging Renate von Natzmer wie gewöhnlich ins Reichswehrministerium - mit dem gefährlichsten Auftrag ihres Lebens...
Der Morgen begann so schwül wie der Abend geendet hatte. Mühsam schälte er sich aus den Frühnebeln hervor. Die Sonne stieß durch die letzten milchigen Schleier und nahm eine Etage nach der anderen des Häuserblocks in Besitz, in dem das Reichswehrministerium lag. Ihr Licht setzte dem Zaun, den Renate von Natzmer kurz vor acht Uhr passierte, goldene Spitzen auf.
Die Soldaten der Wache grüßten freundlich. Sie nickte ebenso freundlich zurück. Alles war wie sonst - bis auf die dunkle, nagende Angst, die sie begleitete, als sie durch das enggewundene Treppenhaus zu ihrem Büro hinaufstieg.
Major von Koch, der mit ihr das Arbeitszimmer teilte, saß schon an seinem Schreibtisch. Ein Mann mit glattem, rundem Gesicht, hellen Augen und schütterem blondem Haar. Er sah auf, als sie eintrat. Durch seine randlose Brille starrte er sie verwundert an.
»Fühlen sich nicht wohl, Natz, was?« fragte er im typischen Kasinoton.
Sie blickte verstört. Sie verstand ihn nicht. War ihr äußerlich anzusehen, was ihr Inneres bewegte? Konnte man von ihrer Stirn die Gedanken ablesen, die dahinter kreisten - um den ungeheuerlichen Verrat, den sie heute begehen wollte?
Vorsichtig fragte sie zurück: »Warum?«
Der Major deutete auf die Strickjacke, die sie trotz der Wärme trug.
»Ach so.« Sie lächelte erleichtert. »Der Kreislauf, Major! Ich bin doch ziemlich abgearbeitet. Der Urlaub wird mir guttun - ich kann ihn kaum noch erwarten.«
»Die drei Tage bis dahin gehen auch noch um«, erwiderte von Koch. »Travemünde, wie?«
Sie nickte. Sie träumte sich für einen Augenblick aus dem stickigwarmen Bürozimmer ans kühle Meer... Fort von ihren Sorgen und Problemen. Fort von ihrem kranken Vater, der ihre Hilfe brauchte. Fort von Benita. Von Sosnowski. Von dem geheimnisvollen »Mr. Graves«, für den sie zur Verräterin geworden war. Für dessen gutes Geld sie ein schlechtes Gewissen eingetauscht hatte... Dann konzentrierte sie sich voll auf das, was ihr bevorstand.
Wenn alles gutging, würde sie bald schon eine reiche Frau sein. Wenn nicht... Sie wischte den Gedanken daran fort wie ein lästiges Insekt. Bisher war immer alles gutgegangen - warum nicht auch diesmal?
30000 Mark standen auf dem Spiel... Sie waren ihr den hohen Einsatz wert...
Der Diebstahl des A-Plans, des allergeheimsten Schriftstücks der deutschen Heeresleitung, das alle Einzelheiten des deutschen Aufmarschs gegen den Osten im Kriegsfall enthielt, war für sie ziemlich einfach - abgesehen von den Unwägbarkeiten, die man nicht mit einkalkulieren konnte.
Der eine Teil des Plans lag im Panzerschrank in ihrem Zimmer, in einem besonderen Tresorfach - also doppelt gesichert. Der Schlüssel zum Panzerschrank befand sich zwar im Besitz des Majors von Koch - während der Dienstzeit aber stand der Schrank offen. Der Schlüssel zu dem kleinen Tresor war zudem abgebrochen, das Fach seither unverschließbar. In ihm war aber nicht nur ein Teil des A-Plans untergebracht, hier lagen auch die Reserveschlüssel zum Panzerschrank des Majors von Kluge, in dem sich der zweite Teil des A-Plans befand.
Sie mußte zunächst also einen Moment abpassen, in dem Major von Koch ihr gemeinsames Zimmer verließ, um den ersten Teil des Plans und die Reserveschlüssel zum Panzerschrank des Majors von Kluge im Nebenzimmer an sich zu bringen. Dann kam es darauf an, die restlichen Unterlagen von nebenan zu holen - ebenso rasch und unauffällig...
Kurz vor eins klappte von Koch, der ihr gegenübersaß, seufzend einen Aktenordner zu. Er erhob sich, dehnte die Glieder. »Gehen Sie mit zur Kantine, Natz?«
Sie sah zu ihm auf. War da nicht ein lauernder Ausdruck in seinen Augen hinter den Brillengläsern? Langsam schüttelte sie den Kopf.
»Heute nicht, Major. Bis zum Urlaub habe ich noch einiges aufzuarbeiten.«
»Unsinn. Haben in den letzten Wochen genug geschuftet. Lassen Sie Ihrer Vertreterin auch noch was... Kommen Sie!«
Widerwillig fügte sie sich. Sie ging mit. Am Ende des Korridors aber blieb sie plötzlich stehen. Mit einem Seufzer deutete sie auf ihre Strickjacke.
»Jetzt wird sie mir doch zu warm! Ich bringe sie schnell weg und komme nach.«
Der Major lachte auf. »Doch kein Fischblut, was?«
Während er steifbeinig über die Treppe nach unten ging, eilte sie über den Flur zurück in ihr Zimmer. Hastig streifte sie die Jacke ab. Dann trat sie an den Panzerschrank. Ein einsamer Schweißtropfen stand auf ihrer Stirn, als sie anfing, mit feuchten Handflächen das Rad der Steuerung aufzukurbeln. Schließlich gab die schwere Tür nach.
Sie öffnete sie nur einen Spalt, griff mit ausgestrecktem Arm hindurch in das Tresorfach, dessen Tür nur angelehnt war. Nach kurzen Tasten hatte sie das Gesuchte in der Hand - sie spürte das kalte Metall der Reserveschlüssel zu Major von Kluges Panzerschrank. Die A-Planstudie ließ sie noch unberührt - für den Fall daß sie im Laufe des Nachmittags noch gebraucht würde...
Nach dem Essen in der Kantine benutzte sie den Rest der Mittagspause dazu, die Ärmel ihrer Strickjacke am unteren Ende zuzunähen.
Dann nahm die Arbeit ihren gewohnten Gang. Sie erledigte ihre Schreibarbeiten. Wie üblich machte sie sich schließlich auf den Weg, verschiedene geheime Kommandosachen, mit denen ihre Inspektion befaßt war, zu anderen Dienststellen zu bringen und dort gegen Quittung in einem besonderen Buch abzuliefern.
Gegen sechzehn Uhr betrat sie die Inspektion 5. Sie geriet in eine fröhlich-lärmende Gesellschaft. Der Inspektionschef, ein gemütlicher, grauhaariger Oberst, hatte Geburtstag - eine Tatsache, die sie in ihren Plan mit einbezogen hatte. Die Flasche kreiste, und auch sie mußte ein Gläschen trinken. Aufmerksam glitt ihr Blick in die Runde. Die beiden Offiziere, die sie suchte, waren im Kreis der Gratulanten nicht zu finden. Nach einigen Minuten verabschiedete sie sich.
Ein Liedchen summend, betrat sie das Arbeitszimmer des Majors von Kluge.
»Nanu, was ist los, Natz?« fragte der Major überrascht, während er den Empfang eines Schriftstücks bescheinigte. »Lotteriegewinn?«
»Nein, Geburtstagsfeier. Oberst von Pentzlin. Haben Sie schon gratuliert?«
»Noch nicht.«
Sie versuchte, ihrer Stimme einen gleichgültigen Klang zu geben. »Sie sollten es nicht vergessen... bevor der Oberst geht.«
»Natürlich. Wird gleich nachgeholt.«
Er machte jedoch keine Anstalten aufzustehen, und unruhig ging sie nach draußen. Einen Augenblick blieb sie lauschend stehen. Für Sekunden hörte sie nur das laute Hämmern ihres Herzens. Dann das Scharren eines Stuhls.
Sie flüchtete sich in die schräg gegenüberliegende Damentoilette. Durch den Türspalt konnte sie sehen, wie Major von Kluge sein Zimmer verließ. In dem düsteren, endlos langen Korridor wurde seine Gestalt kleiner und kleiner. Er zog das linke Bein nach. Eine Kriegsverletzung. Für einen Moment noch hörte man das unregelmäßige Geräusch seiner Schritte - dann war Stille.
Schnell überquerte sie den Flur, betrat den verlassenen Raum.
Während sie sich dem grauen Panzerschrank näherte, nestelte sie die Reserveschlüssel aus einem Versteck unter ihrer Bluse. Die Tür war verschlossen. Hastig führte sie den ersten Schlüssel in das tief in der Panzerung liegende Loch ein und drehte ihn mehrfach um. Dann kurbelte sie am Rad - die Tür öffnete sich. Mit dem anderen Schlüssel sperrte sie den kleinen Tresorraum auf: Die acht Dokumentenhefter des A-Plans lagen vor ihr - zum Greifen nahe.
Da zerriß ein schrilles Geräusch die Stille.
Das Telefon...
Sie betrachtete es mit ängstlichen Blicken. Schritte klangen im Korridor auf, gingen vorüber. Das Telefon klingelte hartnäckig und ohrenbetäubend weiter. Sie stand wie gelähmt. Wenn jemand die Tür öffnete und sie vor dem offenen Panzerschrank sah, war sie verloren...
Unvermittelt hörte das Läuten auf. Sie löste sich aus ihrer Erstarrung, nahm die Hefter an sich, legte sie in die Quittungsmappe in ihrer Hand, verschloß rasch die beiden Türen.
Als sie eine Minute später ihr Zimmer betrat, atmete sie erleichtert auf - auch Major von Koch war nicht da.
Sie legte den Reserveschlüssel in den Panzerschrank zurück, nahm den anderen Teil des A-Plans an sich, rollte die Dokumente zusammen und stopfte sie in die zugenähten Ärmel ihrer Strickjacke.
Mit der geschickt über den Arm gelegten Jacke verließ sie bei Dienstschluß das Ministerium.
Lächelnd passierte sie die Wachtposten. Die Männer sahen ihrer wohlproportionierten Gestalt mit männlicher Neugier nach - nicht wissend, daß sie nur zuzugreifen brauchten, um den größten Spionagecoup der Nachkriegszeit zu verhindern...
Renate von Natzmer überquerte den Landwehrkanal, schlenderte am Lützowufer entlang, an Benita von Falkenhayns Wohnung vorbei und steuerte wie absichtslos auf ein Auto zu, das vor dem Haus Nr. 30 parkte.
Benita saß am Steuer. Plaudernd lehnte Renate sich zu ihr durchs Fenster. Blitzschnell tauschte Benita die Jacke mit den Dokumenten gegen eine ähnlich aussehende aus. Dann verabschiedeten sich die Frauen. Benita fuhr um den Häuserblock und händigte einige Straßenecken weiter einer Mitarbeiterin Sosnowskis die Strickjacke mit dem kostbaren Inhalt aus.
Mit der Jacke über dem Arm betrat Renate von Natzmer am anderen Morgen wieder das Ministerium. Unbemerkt legte sie im Laufe des Vormittags die Dokumente in die beiden Panzerschränke zurück... Zu dieser Zeit waren 70 der 200 Seiten des deutschen Aufmarschplans, die Sosnowski während der Nacht fotokopiert hatte, als »Probelieferung« schon unterwegs nach Warschau. Stunden später hatte der polnische Generalstab sie in der Hand.
Der Verrat war geglückt.
Renate von Natzmer hatte alles riskiert - aber nichts gewonnen.
Denn erst sollte sie das versprochene Geld verlieren. Und Jahre später ihr Leben...
Als der Pfarrer die Todeszelle betritt, gehen die beiden Wärterinnen nach draußen. Er ist der einzige Mensch, mit dem die beiden Delinquentinnen in dieser Nacht vor der Hinrichtung allein sein dürfen.
»Ich möchte Ihnen helfen«, sagte er ruhig.
Benita von Falkenhayn sieht ihn aus großen, gequälten Augen an. Man hat ihr die Hände mit einer eisernen Acht gefesselt. Das ist hier in Plötzensee Vorschrift nach Verkündung des Todesurteils. Auch bei Frauen...
»Niemand kann mir mehr helfen«, murmelte sie. »Nur Jurek noch...« Plötzlich glänzen ihre Pupillen fiebrig, wird ihre Stimme hastig. »Wenn er mich jetzt noch heiraten würde - als Polin müßte man mich doch austauschen! Verstehen Sie?«
Dr. Klatt, der Pfarrer, nickt. Er begreift, daß sie sich in ihrer Verzweiflung an diese allerletzte Hoffnung klammert - nur sie steht noch zwischen ihrem Leben und dem Beil des Henkers... Diese Hoffnung, die Sosnowski ihr während der Untersuchungshaft machte, als er ihr in einem - später beschlagnahmten - Kassiber schrieb:
»Hinter Dir, Benita, und den anderen steht mein Land. Du hast dieselben, eher noch die größeren Rechte auf Austausch wie ich... Vielleicht kommst Du vor mir nach Polen - Damen haben bei uns immer Vortritt... Mein Haus wird Dein Haus. Du heiratest einen schneidigen polnischen Kavallerieoberst - im Heiraten hast Du doch Routine? Kopf hoch, Benita! Einen Monat nach dem Urteil bist Du schon in Milanowek... und es ist schön dort, Blumen blühen...«
Dr. Klatt blickt die Frau mit ernster Miene an, versucht seiner Stimme Festigkeit zu geben.
»Ihr Anwalt versucht sicher alles, was bei den irdischen Instanzen noch möglich ist... Sie sollten sich aber darauf vorbereiten, vor eine höhere Instanz zu treten... Wir wollen beten.«
Unter dem kalten Metall der Fessel faltet sie die Hände.
»Möge Er uns beistehen und helfen, wenn der Abend kommt und die Welt stille wird, und das Fieber des Lebens vorbei ist«, beten ihre Lippen dem Pfarrer nach, während ihre Gedanken weit weg sind... In einem kleinen Haus, das sie nicht kennt... In Milanowek... Ob sie noch einmal dort sein wird - ehe die Welt für sie stille wird? Ehe das Fieber des Lebens für sie vorbei ist? Wenn die Blumen blühen...?
Auch das schrieb ihr Jurek noch: »Wir werden dort zusammen glücklich sein und uns an die jetzige Zeit nur wie an einen bösen Traum erinnern...«
Aber noch, noch ist der Traum grausame Wirklichkeit - und wenn nicht noch irgend etwas Wunderbares geschieht, wird es für sie kein Erwachen mehr daraus geben... Ob Jurek weiß, wie entsetzlich sie sich fürchtet? Ob er sein Versprechen hält? Ob er es überhaupt halten kann? Und will?
Sie blickt auf. Leise sagt der Pfarrer: »Gott ist die Liebe...
Seine Liebe ist unvorstellbar... Sie ist größer als die Liebe der Menschen...«
Als er die Zelle verläßt, geht er gebückt. Auch er scheint eine schwere Last zu tragen.
Renate von Natzmer empfängt ihn gefaßt. Ruhig sagt sie: »Das Urteil gegen mich ist unmenschlich hart, Herr Pfarrer... Ich bete um die Kraft, mich damit abzufinden. Bitte, lassen Sie mir die Bibel hier - vielleicht kann sie mir den Trost geben, den ich brauche...«
Als Dr. Klatt geht, weiß er, daß diese Frau leichter als Benita von Falkenhayn sterben wird.
In der Tür dreht er sich noch einmal zu Renate um. Sie hat dunkle Ränder unter den Augen. Ihr dunkles Haar sieht verwirrt und ungepflegt aus - aber ihr wenig reizvolles Gesicht wirkt nicht häßlich. Es scheint seltsam abwesend, verklärt, dem menschlichen Dasein schon weit entrückt.
»Gute Nacht«, sagt er müde. »Morgen früh werde ich bei Ihnen sein.«
Er geht über den Flur zum Ausgang. Aus der Zelle neben der Wachstube hört er tiefe, unregelmäßige Atemzüge dringen - die Atemzüge des Henkers...
Vier Tage nach dem geglückten Coup fuhr Renate von Natzmer auf Urlaub nach Travemünde. Benita sollte die 30000 Mark für sie in Empfang nehmen - statt des Geldes aber kam ein Vorgesetzter Sosnowskis aus Warschau nach Berlin.
Er unterrichtete den Rittmeister von einem Umstand, mit dem er nicht im Traum gerechnet hatte: Der polnische Generalstab hatte Zweifel an der Echtheit der Unterlagen. Der Kommentar eines hohen Offiziers: »Zu schön, um wahr zu sein...«
Sosnowski dazu später vor Gericht: »Niemand vermochte sich vorzustellen, daß eine Frau zu so wichtigen Unterlagen überhaupt Zutritt haben könne. Man war allgemein davon überzeugt, daß die deutsche Abwehr die Agentenrolle der Frau von Natzmer durchschaut und ihr absichtlich falsches Material in die Panzerschränke gelegt habe, um uns irrezuführen... Ich faßte mich an den Kopf. Ich hatte Gold geliefert - und man hielt es für Blech! Ich versuchte meinen Auftraggebern klarzumachen, daß bisher alles, was Frau von Natzmer geliefert hatte, echt gewesen sei. Daher müsse auch der A-Plan echt sein. Doch sie waren nur schwer zu überzeugen.«
Der Zweifel siegte. Renate von Natzmer verlor ihr Geld an die Ungläubigkeit. Sie erhielt nicht einen Pfennig - ihr großes halsbrecherisches Unternehmen war umsonst gewesen.
Verbittert sagte sie zu Benita: »Aber dein Mr. Graves hat mir doch sein Wort gegeben...«
Die Freundin zuckte nur die Schultern. »Er ist selbst der Geprellte!« erwiderte sie.
Bald aber schon sollte sie, Benita, die Geprellte sein. Denn aus Angst, seine beste Agentin wegen dieser unglücklichen Entwicklung zu verlieren, zahlte Sosnowski Renate mit einer Münze aus, die ihr auch nicht schlecht gefiel, und die er überreichlich besaß - mit Liebe...
Es begann auf einer jener Partys, für die der elegante Pole in Berlin seit langem bekannt war. Eine Party, in der hochkomfortablen Sechszimmerwohnung Kleiststraße 13, in die Benita nach der Trennung von ihrem Mann auf Sosnowskis Geheiß umgezogen war. Unter seinen Gästen wie immer Diplomaten, Offiziere, Künstler, Schauspieler und schöne Frauen. Und wie immer wurde getanzt und getrunken. Viel getrunken.
Renate von Natzmer hielt sich lange zurück. Mit brennenden Augen verfolgte sie, wie Sosnowski mit anderen flirtete. Mit Frauen, die attraktiver waren als sie. Spätestens an diesem Abend wurde ihr klar, daß sie den Rittmeister liebte, daß sie Benita um ihn beneidete - und sich an ihre Stelle wünschte...
»Hallo, Natzchen - warum so traurig?« fragte plötzlich eine dunkle, wohlklingende Stimme hinter ihrem Rücken.
Sie fuhr herum.
Sosnowski. Mit der lässigen Haltung eines Mannes, der sich seiner Wirkung auf Frauen wohl bewußt ist, stand er vor ihr, ein Cocktailglas zwischen den schmalen Fingern.
»Darf ich Ihnen auch etwas mixen?«
Sie nickte. »Mir ist nach einem Martini zumute...«
»Bitte sehr - bitte gleich.«
Lächelnd drehte er sich zur Hausbar, nahm Gin und Wermut und bereitete das Getränk zu. Mit sicheren, eleganten Bewegungen füllte er schließlich ihr Glas. Er hob das seine.
»Auf Ihr Wohl!«
Sie wechselten einen raschen Blick. Und irgendwie hatte sie dabei das Empfinden, ein Funke ihrer Gefühle sei auch auf ihn übergesprungen.
Er leerte sein Glas mit einem Schluck, stellte es auf den Tisch, verneigte sich leicht.
»Tanzen wir?«
Wieder nickte sie. Er ging mit ihr hinüber in den Salon, den man freigeräumt hatte. Eine Fünfmannkapelle spielte. Sosnowski legte den Arm um sie, zog sie im Rhythmus der Melodie an sich. Eine Weile hielt sie den Blick gesenkt. Seine Lippen streiften ihre Wangen, und sie hob den Kopf.
»Sie mögen mich?« fragte er leise.
Es war eigentlich keine Frage, es war mehr eine Feststellung.
Statt einer Antwort drückte sie sich mit ihrem ganzen Körper an ihn. Ihre Augen unter den seidigen Wimpern blickten verschleiert, und ein neuer Zug verlieh ihrem groben, breitflächigen Gesicht einen gewissen Reiz.
Er wich von nun an nicht mehr von ihrer Seite. Er tanzte nur noch mit ihr. Er machte mit ihr immer häufiger Station an der Hausbar und animierte sie, zu trinken. Wein, Sekt, Wodka - wild durcheinander.
Es war kurz nach zwei, als sie mit zitternder Hand ein frisch gefülltes Glas hob. Sie blickte ihm tief in die Augen.
»Prost...!«
Das Glas kippte ihr aus den Fingern, noch ehe sie es an den Mund setzen konnte. Es zerschellte am Boden, und die Flüssigkeit breitete sich mit einem allmählich größer werdenden Flecken auf dem Boden aus.
»Es dreht sich«, murmelte sie vergnügt. Sie tastete sich zu seinem Arm, um bei ihm Halt zu finden. »Alles dreht sich... Bringen Sie mich nach... nach Hause, Herr... Baron?«
Sosnowski warf einen fragenden Blick auf Benita.
Deren Lippen verzogen sich zu einem bitteren Lächeln. Ihrer Aufmerksamkeit war nichts entgangen. Allzu auffällig hatte er sich um Renate bemüht. Doch dann nickte sie - von ihrer Freundin, die mit glasigen Pupillen und seltsam verrenkten Bewegungen durchs Zimmer in den Flur taumelte, schien keine Gefahr mehr auszugehen.
»Ich koche ihr noch einen Kaffee«, sagte sie.
Sosnowski hatte Mühe, Renate von Natzmer in seinen Wagen zu zwängen und später, sie hinauf in ihre Wohnung zu bringen.
Glücklich lehnte sie sich an ihn. Sie spürte seine sehnige, kräftige Gestalt unter dem dünnen Stoff des Anzugs. Er hatte einen Arm um sie gelegt und führte sie zu einer breiten, kissenübersäten Couch im Wohnzimmer. Er bemerkte nicht, daß sie die letzten Meter wieder ziemlich sicher ging.
Ein leises, verstohlenes Lächeln huschte über ihre Züge, als er sie vorsichtig in die Kissen bettete.
»Einen Kuß - zum Abschied«, sagte er.
»Ja, Liebster...«
Er beugte sich über sie. Seine Lippen berührten ihren Mund. Da warf sie ihre Arme zu ihm empor, preßte ihn an sich, umschlang ihn mit ungestümer Leidenschaft. Sie zog ihn hinab in eine brausende, taumelnde Tiefe, in der sich sein klares Denken verlor...
Für Scharfrichter Gröpeler beginnt um fünf Uhr der Tag. Das Gefängnis ist schon vor der Zeit aufgewacht. Als er sich von seiner Pritsche erhebt, scheint es von einem seltsamen Rumoren erfüllt zu sein. Es ist so, als habe sich selbst den Mauern mitgeteilt, daß hier bei Tagesanbruch zwei Menschen, zwei Frauen, sterben müssen...
Gröpeler kennt diese düstere, unheimliche Stimmung vor der Hinrichtung. Und dennoch: Als er kurze Zeit später in seinem hochgeknöpften Gehrock, einen schwarzen Koffer in der Hand, den Korridor betritt, da hat er das Gefühl, als ducke sich das ganze Gefängnis wie ein Tier zusammen, um ihn - den Henker - anzuspringen...
Ein Gefühl, wie es so oder ähnlich eines Tages jeden Henker packt. Und das schließlich bei vielen früher oder später in Selbstmord oder Psychosen mündet.
Der Münchener Scharfrichter Lorenz Schellerer zum Beispiel - ein Vorfahre von Johann Reichart, der 3165 Menschen köpfte und heute in der Nähe Münchens lebt - litt gegen Ende seiner Amtszeit an Verfolgungswahn. Als er in Würzburg den Raubmörder Holleder hinrichten sollte, wechselte er am Tag dreimal sein Quartier. Dann irrte er nächtelang in den Wäldern umher, bis ihn die Polizei aufgriff.
Schellerer war es auch, der 1854 auf dem Münchener Heumarkt die letzte Hinrichtung mit dem großen Handschwert vornahm. Ein entsetzliches Schauspiel. Nach damaligen Augenzeugenberichten hatte der Anblick der Delinquentin, einer ungewöhnlich schönen Gattenmörderin, den Henker so verwirrt, daß er siebenmal zuschlagen mußte, um sie zu töten... Nach dem qualvollen Ende dieser Frau wurde in Deutschland die Guillotine eingeführt.
Zuerst in Bayern. Später auch in den anderen Ländern. Die Henker transportierten die Todesmaschine in Kisten verpackt mit der Bahn oder - wie Johann Reichart - im eigenen Wagen zu den Hinrichtungsstätten. Nach 1933 wurden Guillotinen in allen größeren deutschen Gefängnissen installiert. Auch in der Strafanstalt Berlin-Plötzensee, die bald unter der Willkürjustiz Hitlers eine traurige Rolle spielen sollte.
An diesem Morgen des 18. Februar 1935 regiert hier aber noch das Handbeil, das Scharfrichter Gröpeler in seinem schwarzen Koffer, der einem Geigenkasten ähnelt, zum Richtplatz hinter dem Todeshaus trägt...
Auf dem Weg dorthin bleibt er vor den Zellen der beiden Frauen stehen. Er will seine »Leute« sehen.
Der Vorsteher, ein ältlicher Oberinspektor, öffnet leise die kleinen Klappen in der Tür. Gröpeler schaut hinein, wirft einen Blick auf die unruhige Benita von Falkenhayn und die betende Renate von Natzmer... Dann nickt er.
Auf Zehenspitzen gehen sie weiter. Am Ende des Ganges schließt der Vorsteher eine eiserne Gittertür auf. Sechs abwärts führende Stufen. Wieder eine schwere Eisentür. Dann stehen sie auf Hof III - vor dem etwas erhöhten Holzklotz, auf dem in wenigen Minuten das Leben der beiden Frauen enden wird, die schuldig wurden, weil sie einen Mann liebten.
Einen Mann, der ihrer aufopfernden Liebe nicht würdig war - dessen Untreue sie schließlich aufs Schafott brachte...
Erst nach der Liebesnacht mit Renate von Natzmer, erst nachdem er sich ihrer Gefühle völlig sicher war, ließ Sosnowski vor ihr die Maske fallen.
»Ich bin der angebliche Mr. Graves!« gestand er ihr ein. »Du hast bisher also nicht für England, sondern für den polnischen Geheimdienst gearbeitet - für mich!«
In diesem Augenblick hätte eine Umkehr Renate von Natzmer noch den Kopf retten können. Man hatte sie belogen. Sie hatte geglaubt, als Patriotin zu handeln. Gegen den Osten. Das hätte ihren schweren Verrat vielleicht gemildert. Doch die Liebe zu dem schönen Polen hatte auch sie jetzt verblendet. Sie arbeitet nun bewußt für den Osten - um ihn nicht zu verlieren...
Im Urteil hieß es dazu später nüchtern: »In der Folgezeit besuchten sich Frau von Natzmer und der Angeklagte von Sosnowski häufig in ihren Wohnungen. Das intime Verhältnis war besonders stark in den Jahren 1929 und 1932. Es dauerte auch noch bis in die letzte Zeit hinein...«
Benita blieben diese Beziehungen nicht verborgen. Sie erfuhr, daß ihr Freund den Diener fortschickte, wenn Renate ihn besuchte. Sie machte ihm heftige Szenen. Doch auch sie kam nicht von ihm los. Am 18. Dezember 1930 wurde ihre Ehe mit Richard von Falkenhayn geschieden. Sie war nun frei - für die versprochene Heirat mit Sosnowski. Dessen Scheidung aber ließ noch auf sich warten. Er hatte es nicht eilig mit einer neuen Ehe.
»Treue ist nicht meine starke Seite«, brüstete er sich einmal vor Freunden. Und: »Man soll einer schönen Frau nie aus dem Wege gehen...«
Benita und Renate waren für ihn nur zwei Frauen unter vielen. Figuren, die er auf seinem Schachbrett ordnete, um sie nach seinem Belieben oder nach der Notwendigkeit, die ihm sein Beruf diktierte, hin und her zu ziehen. Die er wie alle anderen betrog oder fallenließ, wenn sie ihren Zweck erfüllt hatten.
Bis er auf eine Frau stieß, deren enttäuschte Liebe in abgrundtiefen Haß umschlug. Die sich von ihm verraten fühlte - und ihn ihrerseits verriet. Und damit zugleich auch das blutige Ende von Benita von Falkenhayn und Renate von Natzmer heraufbeschwor.
Es war die Tänzerin Lea Niako, die eigentlich Lea Rose Kruse hieß. Eine atemberaubende Schönheit. Im Oktober 1933 lernte Sosnowski sie kennen - in einem Nachtlokal in Budapest...
Mit dem Tusch der Kapelle kam jäh die Dunkelheit. Alle Gespräche verstummten. Der rötliche Lichtfinger eines Scheinwerfers tastete sich durch den Raum und griff die Frau auf der Bühne aus der Finsternis. Für einen Moment stand sie still, in sich versunken. Dann begann sie sich im Rhythmus der Trommeln zu wiegen - wild und aufreizend.
Sie war makellos schön gewachsen. Das spärliche Kostüm mit den glitzernden Perlen gab mehr von ihrem Körper frei, als es verhüllte. Die Beine waren gerade und schlank, die Taille schmal, Brust und Schultern straff und wohlgerundet. Das lange, schwarze Haar hing offen. Es rahmte ein rassiges Gesicht von exotischem Zauber.
Sosnowski starrte sie bewundernd an. Eine dumpfe Erregung begann sich in ihm zu rühren. Seit langem war er keiner so attraktiven Frau mehr begegnet. Als die Beleuchtung wieder heller wurde, winkte er einem der weißbefrackten Kellner.
»Wie heißt die Tänzerin?«
»Lea Niako, mein Herr.«
»Fräulein Niako?«
»Ich denke ja, mein Herr.«
Er stellte noch viele Fragen. Dann schrieb er rasch einige Zeilen auf eine Visitenkarte. Er reichte sie dem Kellner mit einem Geldschein und der Bitte, die Karte der Künstlerin zu übergeben. Ein Kompliment für ihren Tanz und eine Einladung an seinen Tisch. Er hatte darin Routine. Und er hatte Glück: Eine halbe Stunde später, nach einem heiteren Tanz, stand sie plötzlich an seinem Tisch.
Er erhob sich, beugte sich über ihre Hand.
»Ich bedanke mich«, sagte er lächelnd, während er nach ihr Platz nahm. »Ich hörte von Ihren Erfolgen in meiner Heimat Polen. Da wollte ich nicht versäumen, Sie hier in Budapest zu sehen...«
Sie trug jetzt ein tiefausgeschnittenes Abendkleid. Das schwarze Haar war zu einer kunstvollen Frisur aufgetürmt. Ihre großen Augen blickten erstaunt.
»Ihr Deutsch ist sehr gut für einen Polen...«
Er erzählte ihr von Berlin und erfuhr, daß sie in Hamburg aufgewachsen war. Ihre Mutter war Deutsche, ihr Vater Perser.
»Eine höchst reizvolle Mischung!« versetzte er.
Prüfend zog sie eine Braue hoch. »Lieben Sie die Kunst - oder die Künstlerinnen?«
»Beides.« Ein plötzlicher Einfall schoß in ihm hoch, und er sagte: »Nicht nur aus Passion. Ich habe auch beruflich damit zu tun...« Während er sich eine Zigarette anzündete, fragte er: »Haben Sie den Film »Mata Hari« gesehen?«
»Ja. Mit Greta Garbo.«
Er nickte. »Ein Freund von mir plant etwas Ähnliches. Einen Spionagestoff. Im Mittelpunkt eine Tänzerin - wie die Hari. Sie wären genau der Typ für die Rolle. Hätten Sie Lust?«
Sie zögerte nur kurz. »Warum nicht?«
Natürlich, dachte er. Fast alle hatten bisher auf den Köder Film angebissen. Und meist hatte er damit sein Ziel erreicht. Auch sie träumte also vom Zelluloidruhm... Plötzlich setzte sich in ihm der Gedanke fest, daß diese Frau die Rolle der Spionin tatsächlich spielen müsse. Aber nicht auf der Leinwand, sondern mitten im Leben. Als seine »Mata Hari« - in Berlin...
Seit Monaten saß ihm die deutsche Abwehr auf den Fersen. Etwas von seiner wahren Tätigkeit war durchgesickert. Die »Berliner Tribüne« hatte die Gerüchte um ihn in einem Zeitungsartikel aufgegriffen. Bekannte begrüßten ihn daraufhin ironisch: »Guten Tag, Herr Spion!« Dennoch wollte er nach kurzer Atempause in Budapest seine Arbeit fortsetzen. Aber er wußte, daß er sich nicht mehr lange würde halten können - wenn es ihm nicht gelang, die Aktionen seiner Gegner zu durchkreuzen.
Die schöne Tänzerin konnte ihm dabei behilflich sein.
Kein Zweifel: Sobald er mit dieser »Neuerscheinung« in Berlin aufkreuzte, würde sich die Abwehr an sie heranmachen. Zum Schein müßte sie auf ein entsprechendes Angebot eingehen - und ihrerseits ihre Aushorcher aushorchen.
Zunächst aber galt es, sie für sich zu gewinnen, sie an sich zu fesseln.
Schon am zweiten Abend ihrer Bekanntschaft begleitete er sie in ihr Hotelzimmer. Sie glaubte seinen Liebesbeteuerungen. Und seinen Versprechungen.
»Mit deinem Aussehen und meinen Beziehungen wirst du in Berlin ganz groß herauskommen!« sagte er. »Du kannst da verdienen, was du willst. Die Männer werden dir nachlaufen!«
Sie wischte ihm mit der Hand über den Mund.
»Ich will nur dich - dich allein, Jurek...«
Zärtlich schmiegte sie sich an ihn. Ihre Lippen hingen an seinem Mund, fest und fordernd. Er vergaß seine dunklen Pläne mit ihr. Er vergaß die Gefahr, in der er schwebte. Er vergaß Benita von Falkenhayn und Renate von Natzmer - er dachte nur noch an die schöne, rassige Frau in seinen Armen.
Dicht an ihrem Gesicht flüsterte er: »Ich liebe dich, Lea...«
»Immer?«
»Immer...!«
Für ihn war es nur ein Wort - für sie ein Liebesschwur. In diesem Augenblick, in der Stille des Hotelzimmers in Budapest, wußte sie noch nicht, daß er den Schwur schon bei der nächsten Frau vergessen würde. Und er ahnte nicht, daß dieser »Verrat« das Ende seiner abenteuerlichen Karriere bedeuten sollte - und den Tod von zwei Frauen, die ihm vertrauten...
Acht Tage später reiste Sosnowski nach Berlin zurück. Lea Niako folgte ihm Anfang November. Er tat alles um sie mit einem Schlag bekanntzumachen. Er gab zu ihrer Ehre große Diners und einen großen Tanzabend. Er lud dazu Prominenz von Film, Oper und Theater ein. Sie erhielt großen Applaus - aber kein Engagement. Und keine Filmrolle. Sosnowskis Stern sank. Und wie er stand auch seine neue Freundin im Nebel der Gerüchte. Schließlich griffen die Schatten, die sich über ihm zusammenzogen, auch nach ihr...
Mitte Dezember, während eines Frühstücks im »Kempinski«, eröffnete er Lea, wovon er lebte.
Sie war nicht sonderlich verwirrt. Bekannte und er selbst hatten ihr schon gewisse Andeutungen gemacht.
»Du bist also ein Spion?« fragte sie.
»Ja«, erwiderte er ruhig. »Hör zu. Ich habe dir ein Angebot zu machen - im Auftrag meiner Regierung.«
Er sei befugt, mit ihr zu verhandeln, fuhr er mit leiser Stimme fort. Über ihren Übertritt in den polnischen militärischen Nachrichtendienst. Für 1000 Mark im Monat. Er beschwor sie: »Eine Chance, die du nie wieder bekommst!«
Sie runzelte die Stirn, schien darüber nachzudenken - doch ganz andere Gedanken wirbelten durch ihren Kopf.
Seine Frauenaffären, von denen sie gehört hatte. Seine Liebschaft zu seiner neuesten Favoritin Katja Berberian. Die Mannequins und Filmsternchen, die er in Katjas Modesalon kennenlernte. Die er dann in seiner Wohnung empfing, wenn er den Diener weggeschickt hatte... Sie war gekommen, um deshalb mit ihm zu brechen. Sie wollte nicht eine von vielen sein. Ihre enttäuschte Liebe war wildem Haß gewichen. Und dieser Haß gab ihr plötzlich einen teuflischen Gedanken ein...
Nichts davon war ihr anzumerken, als sie sagte: »Spionage ist doch sehr gefährlich!«
Er lachte sein leichtsinniges Lachen, das ihr bisher an ihm so gefallen hatte, daß sie aber jetzt abstieß.
»Natürlich - es ist kein Kinderspiel«, entgegnete er. »Aber unerhört reizvoll und spannend. Wenn du gut einschlägst, kannst du eines Tages meinen Posten in Berlin übernehmen.«
»Du willst mich... verlassen?«
Nachlässig zuckte er die Schultern.
»Es fällt mir natürlich nicht leicht, Liebling. Aber meine Situation hier wird immer brenzliger!«
Da stand ihr Entschluß fest. Sie wollte ihm zeigen, daß er bei ihr an die Falsche geraten war. Daß man sie nicht ungestraft belügen und betrügen und schließlich abschieben konnte. Sie nicht...
»Also gut«, sagte sie. »1000 Mark sind 1000 Mark... Ich mache mit.«
Er lächelte zufrieden. »Ich habe mich in dir also nicht getäuscht.«
Auch sie lächelte. »Nein...«
Zwei Tage später bezog sie eine elegant möblierte Vierzimmerwohnung, die Sosnowski ihr in Berlin-Halensee, Cicerostraße 14, gemietet hatte. Hier sollte sie zweimal im Monat eine Gesellschaft geben und sich dabei an für ihn interessante Leute, vor allem an Reichswehroffiziere, heranmachen.
»Du mußt versuchen, ihre Schwächen herauszufinden«, erklärte er ihr. »Weiber, Spiel, Alkohol, Schulden... und so weiter.«
»Wie weit soll ich dabei gehen?«
»So weit wie nötig. Sei nur nicht zimperlich.« Flüchtig taxierte er ihre wohlproportionierte Figur. »Du hast ja allerhand in die Waagschale zu werfen...« Er stand auf, übersah ihre bebenden Lippen. »Noch eins: Ich werde von der deutschen Abwehr beobachtet. Bemühe dich um Kontakte mit Leuten vom Nachrichtendienst. Ich möchte wissen, was man gegen mich im Schilde führt.«
Die Tänzerin stellte die gewünschten Kontakte her - anders als Sosnowski es erwartet hatte.
Im Büro eines Bekannten traf sie mit einem Offizier der Abwehr zusammen. Sie packte alles aus, was sie über Sosnowskis Spionagetätigkeit wußte. Und sie schlug vor, deutsche Agenten in sein Spionagenetz einzuschleusen, um ihn so rasch und zuverlässig überführen zu können.
»Sie hassen ihn, nicht wahr?« fragte der Offizier.
Lea Niakos verkniffenes Gesicht drehte sich zur Seite. Sie gab keine Antwort. Nur ihr roter Mund zuckte.
»Kennen Sie Namen seiner Mitarbeiter?«
Langsam schüttelte sie den Kopf. Dann blickte sie wieder nach vorn und sagte: »Das heißt - vielleicht doch. Einmal machte er mit mir eine Gedächtnisübung. Er sagte mir einige Namen vor, die ich eine halbe Stunde später wiederholen mußte. Drei habe ich noch in Erinnerung...«
»Nun?« drängte ihr Gegenüber.
»Es waren: Benita von Falkenhayn... Renate von Natzmer... und Irene von Jena...«
Der Abwehroffizier verlor bei den beiden letzten Namen sichtlich die Ruhe. Seine Dienststelle lag im Reichswehrministerium. Er wußte, daß Renate von Natzmer und Irene von Jena dort beschäftigt waren - als Geheimnisträgerinnen.
Abrupt erhob er sich.
»Wir danken Ihnen für Ihre Hinweise, Fräulein Niako. Sosnowski wird uns nicht entkommen! Melden Sie uns bitte weiter alles, was Sie über seine Tätigkeit erfahren können. Achten Sie darauf, mit wem er verkehrt, wo er sich mit Leuten trifft - und notieren Sie sich alles, was er Ihnen erzählt.« Seine Augen blickten plötzlich hart, sein Ton wurde drohend: »Ich muß Sie ersuchen, zu niemandem über Ihren Kontakt zu sprechen. Verstehen Sie - zu niemandem!«
Sie nickte. Ein beklemmendes Gefühl beschlich sie.
Jetzt, da sie ihn verraten hatte, wurde sie ihrer Rache nicht froh. Sie kam sich mit einem mal niederträchtig und erbärmlich vor...
Und unter der Bedrohung, in die ihr Handeln ihn versetzt hatte, brachen ihre leidenschaftlichen Gefühle für ihn wieder auf. Sie versuchte zu retten, was noch zu retten war. Sie hielt wieder zu ihm. Sie blieb mit der deutschen Spionageabwehr nur noch in Verbindung, um ihn über alle Maßnahmen gegen ihn zu unterrichten, von denen sie erfuhr - eine doppelte Verräterin.
Doch zu spät: Die mit ihrer Hilfe geknüpfte Schlinge zog sich immer enger um Sosnowski zusammen. Schließlich war es soweit. Während eines Tanzabends, den er für sie gab, wurde er am 27. Februar 1934 in seiner Wohnung verhaftet. Unter Spionageverdacht.
Er trug einen Frack. Er sah ein wenig verlebt, aber unerhört elegant aus. Ein Spieler bis zuletzt.
»Ich - ein Spion?« sagte er amüsiert zu den Kriminalbeamten. »Glauben Sie denn auch dieses dumme Gerücht?«
»Ob es dumm ist, wird sich herausstellen«, antwortete kühl der Kommissar, der ihn fesselte. »Bitte, kommen Sie!«
In den folgenden Tagen wurden außer Lea Niako auch seine übrigen Helferinnen festgenommen, auf deren Spur man durch die Angaben der Tänzerin gekommen war:
Benita von Falkenhayn - die nach ihrer Enttäuschung mit Sosnowski gerade einen Ingenieur geheiratet hatte.
Renate von Natzmer - die zwei Wochen vorher ihren Dienst im Reichswehrministerium quittiert hatte, um - ebenfalls von Sosnowski enttäuscht - die Hochzeit mit einem alten Freund vorzubereiten.
Irene von Jena - die ahnungslos von einem Skiurlaub im Riesengebirge zurückkehrte...
Man brachte sie ins Polizeigefängnis am Alexanderplatz. Tag und Nacht wurden sie verhört. Renate von Natzmer verlor als erste die Nerven - sie gestand alles. Sie schonte niemanden, auch sich selbst nicht.
Nächste Station: Untersuchungsgefängnis Moabit. Hier erfuhr Benita, daß ihr neuer Ehemann die Ehe mit ihr, der »Spionin«, hatte annullieren lassen. Sosnowski bot ihr daraufhin die längst versprochene Heirat an - als Polin habe sie Anspruch auf Auslieferung in seine Heimat. Ein Angebot, das jedoch am Widerstand seiner ersten Frau scheiterte, sich von ihm scheiden zu lassen.
Der Prozeß vor dem 3. Senat des Volksgerichtshofs begann am 5. Februar 1935. Einziger Anklagepunkt: Landesverrat. Zwei Jahre früher hatte darauf nur Zuchthaus gestanden. Am 28. Februar 1933 war jedoch für Landesverrat in Deutschland wieder die Todesstrafe eingeführt worden. Tragischer Zufall: Reichspräsident von Hindenburg, der das neue strafverschärfende Gesetz unterschrieben hatte, war ein Verwandter Renate von Natzmers.
Die Verhandlung wurde sachlich aber unerbittlich geführt. Sie endete am 16. Februar mit dem Todesurteil von Benita von Falkenhayn und Renate von Natzmer. Georg Ritter von Sosnowski und Irene von Jena kamen mit lebenslänglich Zuchthaus davon. Sosnowski, »weil er Nichtdeutscher war und für sein Vaterland gearbeitet hatte« - ein Jahr später wurde er gegen deutsche Spione in Polen ausgetauscht. Irene von Jena, »weil ihr nicht nachzuweisen war, daß sie ihre Verratstätigkeit nach dem neuen Gesetz für Landesverrat fortgesetzt hatte«.
Der Tänzerin Lea Niako lohnte man ihren Verrat an Sosnowski mit Milde: neun Monate Gefängnis - abgebüßt durch die Untersuchungshaft. Sie konnte den Gerichtssaal ungehindert verlassen - frei aber verachtet...
Die beiden Todeskandidatinnen wurden noch am selben Tag nach Plötzensee gebracht. Nur auf Protest des Generals Blomberg hatte Hitler seinen Plan fallengelassen, sie im Hof des Reichswehrministeriums in Gegenwart sämtlicher Offiziere und Angestellten, auch der weiblichen, enthaupten zu lassen.
Ihre Hinrichtung wurde unter strengster Geheimhaltung auf Montag, den 18. Februar 1935, sechs Uhr früh festgesetzt... Selbst ihren engsten Angehörigen verschwieg man den Termin...
Das Schrillen der Armsünderglocke ist der Auftakt zum Sterben. Es beginnt Punkt sechs - und es reißt das ganze Gefängnis aus der Morgenstille.
Die unerbittliche Wirklichkeit schüttelt alle wie ein elektrischer Schlag: die beiden Frauen, für die das Leben zu Ende geht... Die Mithäftlinge, die von ihren Pritschen aufspringen und in ohnmächtigem Zorn gegen die Türen trommeln... Die Hinrichtungszeugen, die auf dem Hof hinter dem C-Flügel von Haus III warten. Alle schwarz gekleidet: das Spalier des Todes... Die Richter und Anwälte... Selbst Scharfrichter Gröpeler und seine beiden Gehilfen zeigen Zeichen von Nervosität. Ihre Hände sind unruhig. Ihre Mienen zucken...
Dann erstirbt das Flüstern der Männer im Hof - man hört Schritte näher kommen.
Zwei Gefängnisbeamte treten durch die schmale Eisentür. Hinter ihnen der Pfarrer. Dann Benita von Falkenhayn...
Für einen Moment stockt ihr Schritt. Sie bleibt stehen - die Pupillen starr auf den Richtklotz gerichtet, der über das Pflaster emporragt.
Ihr schlanker Körper schwankt, taumelt...
Die Beamten fassen sie, führen sie auf Beinen, die ihr schon nicht mehr zu gehören scheinen, die Stufen hinab. Zu einem mit schwarzem Samt bezogenen Tisch, auf dem ein Kruzifix und zwei brennende Kerzen stehen. In der Mitte dahinter in blutroter Robe: Reichsanwalt Jorns.
»Sie sind Benita von Falkenhayn«, sagte er nach dem Reglement des Todes.
Die Frau will etwas erwidern. Doch das Grauen preßt ihr die Kehle zu.
Sie trägt Holzpantinen und den grauen Häftlingskittel, der hinten am Hals tief ausgeschnitten ist... Ihr Atem geht stoßweise. Die auf den Rücken gefesselten Hände zittern. Ihre Augen hasten in hektischer Eile von einem Gesicht zum anderen, als suche sie einen Helfer, der sie noch vor dem Fürchterlichen, Ungeheuerlichen, das sich in den nächsten Sekunden vollziehen soll, bewahren kann...
Reichsanwalt Jorns verliest das Urteil. Erregung diktiert die Hast seiner Stimme. Dann wiederholt er, was er der Todeskandidatin schon gestern abend, vor genau zwölf Stunden, in der Zelle eröffnet hat: »Die Begnadigung ist abgelehnt... das Urteil zu vollstrecken...«
Er dreht sich zur Seite. Er blickt den Henker kaum an, als er ihm das Stichwort gibt:
»Scharfrichter, walten Sie Ihres Amtes!«
Der letzte Akt vollzieht sich blitzschnell, mit eingespielter Routine: Die beiden Gehilfen treten hinter Benita, drehen sie herum , heben sie hoch, tragen sie mit schleifenden Füßen zum Block.
Einer der Männer reißt ihr die rückwärts gefesselten Hände nach oben, so daß sie vornüber fällt. Der andere preßt sie auf das Gestell, so daß ihr Kopf darüber hinausragt, schnallt sie dann fest.
Gröpeler hat sich inzwischen den Zylinder vom Kopf gerissen, den Gehrock ausgezogen, die Hemdsärmel hochgestreift und das schwere Handbeil ergriffen, das bisher von einem schwarzen Tuch verdeckt an der Mauer lehnte.
Der Zylinder steht seltsam deplaziert einen Meter hinter ihm auf dem Hof, als er jetzt vor die Frau tritt und das Beil in beide Hände nimmt. Er hebt es nur ein wenig über Kopfhöhe. Ein kleines Blitzen über seinem Scheitel...
Er sieht den Nacken der Frau... Ein Jahr später wird er zum erstenmal in die Augen seiner Opfer sehen: wenn in Plötzensee auf »strafverschärfende« Weisung Görings zwei Hitlerjungenmörder mit dem Gesicht nach oben auf den Richtblock geschnallt werden - und sein Beil ihre Kehle trifft. Ein unvorstellbarer Akt des Grauens, der ihn, den blutgewohnten Henker, erst in seinen Träumen martert und schließlich in den Selbstmord treibt...
»Jurek...!« flüstert, stöhnt Benita von Falkenhayn. »Jurek!«
In diesem Augenblick noch kreisen ihre Gedanken um ihn. Um den Mann, der sie hinauf in den Himmel der Liebe hob - um sie dann hinab in ein Leben voller Angst, in ein Ende voller Schrecken zu stoßen...
Durch das Halbdunkel des anbrechenden Tagen funkelt hell die gekrümmte Schneide des Henkerbeils.
Ein harter Schlag... Der Kopf fällt in einen Korb... Alles ist rot von Blut...
Heiser ruft Gröpeler: »Das Urteil ist vollstreckt!«
 


 

Das Bimmeln der Glocke verstummt.
Dann ist Stille - schmerzhaft wie ein hoher Ton...
Minuten später fängt die Glocke wieder an. Sie läutet ein zweites Leben aus - wie ein Rennen, das sich dem Ziel nähert. Aber Sterben ist kein Ziel - niemals und für niemanden...
Als Renate von Natzmer im Hof erscheint, haben Gröpelers Gehilfen die Spuren von Benitas Sterben notdürftig beseitigt. Man hat ihr das lange Haar halb abgeschnitten. Sie geht langsam, wie in schlafwandlerischer Starre.
Kein Blick zu den letzten Wolken, die über sie dahinziehen... Kein Zeichen von Angst und Verzweiflung... Sie scheint schon halb tot zu sein... Ihr Gesicht ist eine wächserne Maske. Wie eine leblose Puppe läßt sie alles mit sich geschehen...
»Mir drehte sich der Magen um, als man auch sie auf den Block schnallte«, berichtete später Benitas Verteidiger Dr. Wolfgang Zarnack. »Ein Staatsanwalt neben mir wurde leichenblaß. Er steckte sich eine Pille in den Mund, und er gab mir auch eine, als ich plötzlich zu schwanken anfing«
Ein schwacher Seufzer der Frau... Ein neuer harter Schlag...

Mit dem schwarzen Tuch, das einer der Henkersgehilfen über den leblosen Körper wirft, fällt der Vorhang über der grausigen Szenerie...

Max Pierre Schaeffer,
Der Henker und die Frauen


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