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Ventotene II

Ventotene III

 Altiero Spinelli   

Das Manifest von Ventotene 

I - DIE GESELLSCHAFTSKRISE DER GEGENWART 
 

Die moderne Kultur beruht auf dem Prinzip der Freiheit, wonach der Mensch nicht zum Werkzeug seiner Artgenossen herabgewürdigt werden darf, sondern als selbständiges Lebenszentrum aufgefaßt wird; aufgrund dieses Prinzips wurde gegen jeden ein großartiger historischer Prozeß geführt, der dagegen verstieß.
1) Es wurde das gleiche Recht aller Nationen anerkannt, unabhängige Staaten zu bilden. Jedes Volk, durch ethnische, geografische, sprachliche und historische Merkmake charakterisiert, sollte in diesem, entsprechend seiner politischen Auffassung selbst geschaffenem staatlichen Wesen, das geeignete Werkzeug finden, um seine Bedürfnisse aufs beste und unabhängig von fremdem Einreden zu befriedigen. Die Ideologie der nationalen Unabhängigkeit brachte zu einer äußerst wirksamen Beschleunigung des Fortschritts; sie half die engstirnige "Kirchturmpolitik" im Kampfe gegen fremde Unterdrücker zu überwinden, zugunsten einer weitumfassenderen Solidarität. Sie entfernte zahlreiche Hindernisse auf dem Weg zur vollen Bewegungsfreiheit der Menschen und Waren; sie erteilte unterentwickelten Gegenden, innerhalb des neugeschaffenen Raumes, die Institutionen fortgeschrittener Gesellschaftsordnungen. Sie trug jedoch in sich die Keime des kapitalistischen Imperialismus, den unsere Generation stark anwachsen sah, bis hin zur Bildung totalitärer Staaten und zum Ausbruch der Weltkriege.
Nun gilt die Nation nicht mehr als das Produkt des Zusammenlebens von Menschen, die infolge eines langen Prozesses zu einer stärkeren Einheitlichkeit der Sitten und Bestrebungen gelangt sind und in ihrem Staat die wirksame Form sehen, um das Gemeinschaftsleben im Rahmen der gesamten menschlichen Gesellschaft zu gestalten. Die Nation ist im Gegenteil zu einem göttlichen Wesen geworden, das ausschließlich seine eigene Existens und Entwicklung im Auge behalten soll, ohne Rücksicht darauf zu nehmen, daß es dadurch anderen Schaden zufügt.
Die uneingeschränkte Souvrenität der Nationalstaaten hat sie zu Herrschaftsansprüchen geführt, da jeder sich von der Macht des anderen bedroht fühlt und immer größere Gebiete als den ihm zustehenden Lebensraum betrachtet, innerhalb dessen er sich unbeschränkt bewegen und sich das Lebensnotwendige unabhängig von anderen sichern kann. Diese Herrschaftsansprüche können nur auf eine einzige Art und Weise zum stillschweigen gebracht werden: in der Hegemonie des stärksten über alle anderen.
Die Folge davon ist, daß der Staat sich vom Hüter der Freiheit seiner Bürger zum Herren über geknechtete Untertanen, die in seinem Dienste, der Kriegseffizienz wegen, voll zur Verfügung stehen müssen, entwickelt hat. Selbst in Friedenszeiten, die als Ruhepause und Vorbereitung auf kommende unvermeidliche Kriege gelten, überwiegt heutzutage der Einfluß militärischer Kreise und erschwert so zunehmend die Funktionsfähigkeit freiheitlicher politischer Ordnungen: Schule, Wissenschaft, Produktion, Verwaltungsapparat dienen hauptsächlich der Steigerung des kiegerischen Potentials. Mütter sind nur noch Gebärmaschinen zukünftiger Soldaten und werden nach den gleichen Kriterien belohnt, wie auf Messen zeugungsfähiges Zuchtfieh. Kinder werden bereits in zartem Alter zum Waffendienst und zum Haß gegen den Fremden erzogen. Die individuellen Freiheiten werden nichtig gemacht, da jeder militarisiert ist und jederzeit zum Waffendienst gerufen werden kann. Immer neue Kriege zwingen die Menschen die Familie, den Arbeitsplatz, Hab und Gut zu verlassen und ihr Leben zu opfern für Ziele, dessen Wert im Grunde genommen niemandem einleuchtet. In wenigen Tagen zerstört man die Anstrengungen von Jahrzehnten, die zur Erhöhung des allgemeinen Wohlstands beigetragen hatten.
Die totalitären Staaten sind am konsequentesten vorgegangen, als es galt, alle Kräfte zu vereinen, und erreichten dadurch ein Höchstmaß an Zentralisierung und Autarchie. Sie sind demnach den heutigen internationalen Verhältnissen am besten gewachsen. Es genügt, daß ein Staat einen Schritt in Richtung eines ausgeprägten Totalitarismus tut, damit alle anderen, aus Überlebenswillen, den selben Weg gehen.
2) Allen Bürgern wurde das gleiche Recht zugesprochen, an der Bildung des Staatswillens mitzuwirken. Dieser sollte das Ergebnis von zwangslos formulierten, unterschiedlichen wirtschaftlichen und ideologischen Bedürfnissen aller Gesellschaftsschichten darstellen: Eine politische Ordnung dieser Art ermöglichte die gemeinsten Ungerechtigkeiten früherer Regierungsformen zu verbessern oder zumindest sie abzuschwächen. Die Presse- und Vereinsfreiheit und die allmähliche Erweiterung des allgemeinen Stimmrechts, erschwerten zunehmend die Aufrechterhaltung alter Privilegien und stärkten sodann auch das Repräsentativsystem. Nach und nach lernten die Besitzlosen, sich dieser Instrumente zu bedienen und mit ihrer Hilfe die erworbenen Rechte der besitzenden Klasse anzufechten. Die Vermögens- und Erbschaftssteuern; die progressiv ansteigenden Abgabepflichten für Besitzer großer Vermögen; die Steuerfreiheit für das Existenzminimum und die lebensnotwendigen Güter; die unentgeltliche öffentliche Schule; die erhöten Ausgaben für sozialen Beistand; die Agrarreformen; die Kontrolle in den Fabriken: All das, bedrohte die privilegierten Klassen, die sich in befestigten Zitadellen zurückgezogen hatten.
Selbst jene privilegierten Klassen, die der Gleichheit politischer Rechte zugestimmt hatten, weigerten sich den Enterbten das Recht zuzugestehen, sich dieser zu bedienen und somit jene tatsächliche Gleichheit zu verwirklichen, die den zugesagten Rechten einen konkreten Inhalt echter Freiheit verschafft hätte. Die Gefahr, daß dies zustande käme, wurde nach dem Ersten Weltkrieg aktuell. Kein Wunder, daß diese Gesellschaftsschichten das Aufkommen der Diktaturen aufs wärmste begrüßten und deren Verwirklichung Vorschub leisteten! Somit entzogen sie ihren Gegnern die rechtlichen Waffen.
Andererseits, drohte die Bildung von riesenhaften Industriekomplexen und Bankkonzernen, sowie Gewerkschaften, die ganze Heere von Arbeitern unter einer einzigen Leitung zusammenfaßten - wobei sowohl die Gewerkschaften als auch die Konzerne Druck auf die Regierung ausübten, um ihre Sonderinteressen durchzusetzen - den Staat in zahlreiche wirtschaftliche Interessenverbände, in heftigem Kampf gegeneinander, aufzulösen. Die liberal-demokratische Rechtsordnung verfiel diesen Gruppen, die sie dazu mißbrauchten, die Gemeinschaft besser auszunutzen, und verloren daher zunehmend an Würde. So bahnte sich nach und nach die Überzeugung an, daß einzig und allein ein totalitäres Staatssystem, durch die Abschaffung freiheitlicher Institutionen, die Interessenkonflikte, denen die bestehenden politischen Institutionen nicht mehr auszuweichen vermochten, zu lösen. Die Wirklichkeit sah dann freilich anders aus. Im allgemeinen, festigten die totalitären Regime die jeweils errungene Stellung der verschiedenen Gesellschaftsklassen; Polizeikontrollen der Bürger und gewaltsame Säuberung der Gesellschaft von allen Andersdenkenden, schlossen jegliche Möglichkeit aus, auf legalem Wege zur weiteren Verbesserung dieses Tatbestandes zu gelingen. Damit sicherte man die parassitäre Existenz müßiger Grundbesitzer, deren einziger Beitrag zum Volkseinkommen darin besteht, die Dividendenscheine ihrer Wertpapiere einzulösen; der Monopole und Kartelle, die den Verbraucher ausnutzen und das Geld des Kleinsparers verwehen lassen; der Plutokraten, die hinter den Kulissen die Fäden der Politiker ziehen, in der Absicht die Staatsmaschine ausschließlich im Dienste ihres eigenen Vorteils zu stellen, unter dem Vorwand der Verfolgung höherer nationaler Interessen. Unverändert bleiben die riesigen Vermögen weniger und das Elend der großen Massen, die von der Möglichkeit die Früchte der modernen Kultur zu genießen ausgeschlossen werden. In seinen wesentlichen Zügen wird ein Wirtschaftssystem aufrecht gehalten, in dem die wirtschaftlichen Hilfsquellen und die Arbeitskräfte - welche zur Befriedigung grundlegender Bedürfnisse und daher zur Entwicklung menschlicher Lebensenergie eingesetzt werden sollten, werden wiederum zur Befriedigung unbedeutender Wünsche jener dienen, die es sich leisten können, jeden Preis dafür zu zahlen. Ein Wirtschaftssystem, in dem das Erbschaftsrecht dafür sorgt, daß das Geld innerhalb der gleichen Gesellschaftsklassen bleibt und sich in ein Privileg verwandelt, das in keinem Verhältnis zu den Diensten, die diese dem Gemeinwohl zugute kommen läßt, steht. Das Möglichkeitsspektrum bleibt daher für das Proletariat streng begrenzt, denn, um zu überleben, sind die Arbeiter oft gezwungen sich ausnutzen zu lassen von jedem, der ihnen irgend eine Arbeitsmöglichkeit bietet.
Um die Unbeweglichkeit und die Unterwerfung der Arbeiterklassen aufrecht zu erhalten, wurden die Gewerkschaften von freien Kampforganisationen, deren Führer das Vertrauen ihrer Anhänger genossen, zu polizeilichen Aufsichtsorganen und unter die Leitung von Beamten gestellt, ihrerseits von den herrschenden Machtgruppen ausgesucht und nur diesen Rechenschaft leistend. Wird in einem solchen Wirtschaftssystem einmal eine Veränderung vorgenommen, dann geschieht dies stets aus Gründen des Militarismus, die gemeinsam mit den reaktionären Zielen der privilegierten Klassen, zur Entstehung und zur Festigung der totalitären Staaten beigetragen haben.
3) Gegen den autoritären Dogmatismus hat sich der Wert des kritischen Verstandes als fortwährend erkannt. Jede Behauptung mußte vernunftgemäß erscheinen oder aber verschwinden. Der Methodik dieser unbefangenen Geisteshaltung verdankt unsere Gesellschaft die wichtigsten Errungenschaften auf jedem Gebiet. Die geistige Freiheit hat jedoch der Krise, die das Entstehen der totalitären Staaten einleitete, nicht standgehalten. Neue Dogmen, die blindgläubig oder heuchlerisch angenommen werden, beanspruchen Herrschaftsrechte in allen Zweigen der Wissenschaft. Obwohl niemand eine genaue Vorstellung hat, von was eine Rasse sei, und die einfachsten Geschichtskenntnisse beweisen, wie absurd die Einteilung der Menschheit auf diese Weise sei, verlangt man dennoch von den Physiologen daran zu glauben, es zu beweisen und die Zugehörigkeit zu einem Herrenvolk überzeugend darzustellen; und dies nur, weil der Imperialismus es nötig hat, Haß und Stolz der Massen mit Hilfe solcher Mythen aufzupeitschen. Die einleuchtendsten Erkenntnisse der Wirtschaftswissenschaft müssen mit dem Bann belegt werden, um die Politik der Autrchie, den ausgewogenen Handelsaustausch und anderes, was zum Alteisen des Merkantilismus gehört, als unerhörte Erfindungen der Neuzeit hinzustellen. Alle Erdteile stehen in gegenseitiger wirtschaftilcher Abhängigkeit zueinander; der Lebensraum, der ein der heutigen Kultur entsprechendes Lebensniveau aufrecht erhalten will, ist demnach, für jedes Volk, der gesamte Erdball. Dennoch hat man eine Scheinwissenschaft, die Geopolitik, zum Beweis der Theorie des Lebensraums herbeigeführt, um dem Machtbestreben des Imperialismus ein theoretisch-begründetes Bild zu verschaffen.
Im Interesse der herrschenden Klasse werden wesentliche geschichtliche Daten verfälscht. Biblotheken und Buchhandlungen werden von nicht-ortodoxen Geisteswerken gereinigt. Der Obskurantismus droht aufs neue, den menschlichen Geist zu ersticken. Sogar die soziale Ethik der Freiheit und Gleichheit wird untergraben. Menschen gelten nicht mehr als freie Bürger, die sich des Staates bedienen, um ihre Kollektivziele besser zu erreichen. Sie sind Knechte des Staates; dieser schreibt ihnen vor, welches ihre Ziele sein müssen, und der Wille der Machtinhaber wird ohne weiteres als Staatswille hingestellt. Menschen sind keine Rechtssubjekte mehr, sondern werden in eine Hirarchie eingereiht und zum widerspruchslosen Gehorsam gegenüber übergeordneten Autoritäten gezwungen, die in einem dementsprechenden vergöttlichten Führer gipfeln. Die Vorherschaft der Kasten ersteht mit Anmaßung aus ihrer eigenen Asche auf. Diese reaktionäre Zivilisation des Totalitarismus hat, nachdem sie sich in einer Reihe von Staaten erfolgreich durchsetzte, im nationalsozialistischen Deutschland jene Kräfte gefunden, die glaubten, sie bis zur letzten Konsequenz durchführen zu können. Nach ausführlicher Vorbereitung, kühn und ohne Skrupel die Auseinandersetzungen, die Egoismen und Dummheiten anderer ausnutzend, europäische Vassallenstaaten, darunter Italien, mit sich reißend, mit Japan, was in Asien die selben Ziele verfolgt, verbündend, hat es sich an das Werk der Überwältigung gemacht. Sein Sieg würde die eindeutige Behauptung des Totalitarismus auf der ganzen Welt bedeuten. All ihre Wesensmerkmale würden aufs äußerste zugespitzt werden, und die fortschrittlichen Kräfte sähen sich auf lange Zeit hinaus in die Rolle der rein negativen Opposition gedrängt. Die traditionelle Arroganz und Unduldsamkeit der deutschen Militärkaste läßt uns bereits vorschmecken, wie ihre Herrschaft, nach einem von ihnen gewonnenen Krieg, aussehen würde. Die deutschen Sieger könnten es sich sogar leisten, den anderen europäischen Völkern gegenüber einen Anschein an Großzügigkeit an den Tag zu legen, indem sie ihre Gebiete und politischen Institutionen formell beachten würden, um somit jenes törichte patriotische Gefühl zu beherrschen, was auf die Farbe der Grenzpfäle besonderen Wert legt und die Staatsangehörigkeit der im Rampenlicht stehenden Politiker, anstatt das Kräfteverhältnis und den tatsächlichen Inhalt der staatlichen Organismen, beachtet. Wie auch immer die Wirklichkeit verschleiert sein möge, sie bleibt stets die selbe, und es wiederholt sich die Teilung der Menschheit in Spartiaten und Heloten.
Auch die Kompromißlösung zwischen den kämpfenden Parteien würde einen weiteren Schritt in Richtung des Totalitarismus darstellen, wären doch alle Länder, die sich dem Zugriff Deutschlands entzogen hätten, zur Anwendung der gleichen politischen Organisationsformen gezwungen, um sich angemessen auf die Wiederaufnahme der Feindlichkeiten vorzubereiten.
Ist es jedoch einerseits Hitlers Deutschland gelungen, nach und nach alle schwächeren Staaten zu unterwerfen, hat es andererseits immer stärkere Kräfte in den Konflikt miteinbezogen. Die mutige Kampfbereitschaft Großbritanniens auch im kritischen Augenblick, als es dem Feind allein gegenüber stand, verleitete die Deutschen dazu, sich mit dem zähem Widerstand der sowjetischen Armee zu messen und gab Amerika Zeit, seine unermeßlichen produktiven Mittel zu mobilisieren. Dieser Kampf gegen den deutschen Imperialismus ist eng verwandt mit dem, den das chinesische Volk gegen den japanischen Imperailismus führt.
Ungeheure Mengen von Menschen und Reichtümern haben sich bereits zum Kampf gegen die totalitären Mächte zusammengefügt. Die Kraft dieser Mächte hat den Höhepunkt erreicht und kann fortan nur mehr und mehr zerfallen. Die entgegenströmenden Mächte haben bereits ihr Tief überwunden und befinden sich erneut im Aufstieg.
Der Krieg der Alliierten stärkt die Freiheitsbestrebungen von Tag zu Tag auch in den Ländern, die der brutalen Gewalt unterworfen und vom darauffolgenden Schlag betäubt worden sind. Dieser Wille zur Befreiung erwacht sogar in den Ländern, die der Achse angehören und denen klar wird, in welch verzweifelte Situation man sie gezerrt hat, bloß um die Machtbestrebungen ihrer Herren zu befriedigen.
Der langsame Prozeß, durch den enorme Menschenmassen veranlaßt wurden, sich vom neuen Regime passiv modellieren zu lassen, es zu dulden und damit zu seiner Stärkung beizutragen, ist zum Stehen gekommen. Diese gewaltige Flutwelle, die unaufhaltsam ansteigt, reißt alle fortschrittlichen Kräfte mit sich; die Weitsichtigsten in der Arbeiterklasse, die weder der Terror noch die Schmeicheleien von ihrem Streben nach einer höheren Lebensform abzuhalten vermocht haben; die Verantwortungsbewußten unter den Intellektuellen, die die Abwürdigung der Intelligenz als Kränkung empfunden haben; die Unternehmer, die sich gewachsen fühlen, neue Initiativen voranzubringen und daher sich von den Schlingen der Bürokratie und der nationalen Autarchien, die sie in ihrer Bewegungsfreiheit hindern, befreien wollen; schließlich all die, deren angeborener Sinn für Würde es nicht zuläßt, das Haupt unter dem Joch der Knechtschaft zu beugen.
All diesen Kräften ist heute die Rettung unserer Kultur anvertraut.   
Vortsetzung