DIE SCHAUKEL
Als Kind sagte ich: „ich wuensche mir ein Leben wie
auf der Schaukel.“ Meine puritanische
Grossmutter: „Kind, versuendige dich nicht.“
Aber es wurde doch eine wundersame Schaukel.
Ich wurde 1921 in Riga als Kind deutschbaltischer Eltern
geboren. Von der Zeit der
kommunistischen Besetzung sprachen die Eltern, Tanten und Onkel, die zusammen
mit den Letten in der deutsch-baltischen Landeswehr gekaempft hatten,
fluesternd in Nebenzimmer und gebrauchten ab und zu ein franzoesisches Wort. Ich schnappte das eine oder andere auf. So kam es dazu, dass ich mit einer in Fetzen
gehuellten Puppe um den Esstisch lief und „Flucht“ spielte. Auch erfuhr ich, dass die Jugendlichen mit
dem „Schlachtruf“; „Sclagt tot Vater, schlagt tot Mutter“ groehlend durch die
Strassen von Riga gezogen waren. Sehr
beeindruckt war ich von der Schilderung, wie schlitzaeugige Asiaten sich aus
Pluenderungen stammende Huete turmartig ueber den Kopf stuelpten.
Meine Kindheit und Jugend fielen in eine harmonische
Zeit mit Schlittenfahrten, Reiten, Hausbaellen (wie bei Tonio Kroeger), deren
Hoehepunkte Cottillon und Tourenwalzer waren.
Den groessten Stellenwert hatte die Freunsdschaft, die bis heute anhaelt
und damals zum Aerger unserer Vaeter meist am Telephon „ausgetragen“ wurde.
Nach der Gruendung Lettlands 1918 war die
Landessprache Lettisch. Ich bediente
mich ihrer das erste Mal mit vier Jahren, als ich Zeuge war, wie unser Maedchen
in einen Brunnen fiel. Tilla akā (Tilla ist im Brunnen) lief ich
schreiend zu lettischen Bauern, die in der Naehe ihren Roggen maehten.
Eine meiner aufregendsten Jugenderinnerungen sind
mit dem Eisgang auf der Duena verbunden.
Der eisfreie Hafen Rigas war einer der geopolitischen Gruende von
Kriegen, denen das Baltikum ausgesetzt war: der Zugang zum Meer.
Der Eisgang – ein erregendes Schauspiel. Der Fluss schien durch schaukelnde, teils
uebereinandergeschobene Eisschollen lebendig zu sein. Eine „Mitgestaltung“ dieses Schauspiels durch Springen von
Scholle zu Scholle und dann weiter, war eines der schaerfsten elterlichen
Verbote. Entweder konnte man von den
Schollen erdrueckt oder aufs Meer hinausgetragen werden.
Es war wieder Eisgang. Das Ufer voller Schaulustige, fuer die es „ein grosses
„Spektakel“ war. Ploetzlich, ohne
Ueberlegung, sprang ich auf eine Eisscholle.
Nie wieder hatte ich, allein auf einer Scholle zwischen anderen, die
sich zielstrebig Richtung Meer bewegten, ein solches Gefuehl des
Losgeloestseins. Aber die Extase war
kurz. Ich wurde „gerettet“ und in
meinem kalten, nassen Kleidern zu den strafenden Eltern gebracht.
Ein Wort noch zur Lage und Rolle der baltischen
Pastoren, die massgebend an der kulturellen Entwicklung des Landes beteiligt
waren. In disem Zusammenhang muss die
Bedeutung der theologischen Universitaet in Dorpat (estn. Tartu) erwaehnt
werden. Erwaehnenswert ist auch die
Tatsache, dass die Pastore keine Beamte waren und statt eines Gehalts
Naturalien von den Bauern ihrer Gemeinde erhielten. Das Beispiel meiner Grossmutter verdeutlicht den Idealismus, den
dieser Beruf erforderte: nach dem
ploetzlichen Tod ihres Mannes blieb sie allein mit vier kleinen Kindern
zurueck. Sie durfte noch ein Jahr im
Pastorat leben, musste dann aber, mittellos wie sie war, sich eine Arbeit
suchen.
Ein Kuriosum im Zusammenhang mit meinem Grossvater
Feyerabend: er erfuhr eines Tages, dass einige Gemeindeglieder „Feyerabends“
hiessen. Als er der Sache nachging,
hoerte er vom Gesetz, dass sich die Letten Familiennamen suchen muessen. Da er als Pastor sehr beliebt war, haben sie
sich nach ihm benannt – durch Anhaengung eines „s“ als lettische Endung!
Wenn wir von unser Kindheit und Jugend erzaehlen,
werden wir manchmal gefragt, ob unser Land hinter dem Monde liege, was sich
aber nur auf die technische Seite der Kultur beziehen koennte, Gewiss
beherrschten noch keine Autos das Strassenbild. Beim Ruf „Izvoschtschik“ erschienen zweispaennige Kutschen, im
Winter mit Pelzdecken ausgelegte Schlitten, deren Fahrer die Pferde stehend
lenkten.
Eine andere „Antiquitaet“ war der Nachtwaechter, an
dessen breitem Guertel alle Schluessel seines „Reviers“ hingen. Beim Ruf „Storosch“ tauchte er auf, schloss
die Tueren auf und erwartete ein Trinkgeld.
Eigentlich war seine Funktion nicht mehr noetig, denn es wurde fast nie
eingebrochen. Selbst in abgelegenen
Haeusern wurden die Haustueren nicht einmal nachts abgeschlossen. Dem Gefuehl der Sicherheit entsprach die
Sauberkeit des Strassenbildes: Wer etwas auf den Boden warf, musste Strafe
zahlen. Diese Haltung war wohl auf die
baltischen Gene zurueckzufuehren: man braucht nur an die alten Pruzzen zu
denken, denen allgemein die Tugenden Zucht, Gehorsam, Fleiss etc. zugeordnet
werden.
Unsere Erziehung geschah nach festen
Grundsaetzen, unter denen Bescheidenheit und das
Verzichtenlernen
eine grosse Rolle spielten. So bekam ich, wenn ich nicht die selbstgestrickten
schwarzen Wollstruempfe tragen wollte, zu hoeren: „dich schmueckt die Jugend,“
was jedoch nicht stimmte. Diese
Genuegsamkeit spiegelt sich in einem Gedicht aus dem Provinzstaedtchen Hapsal
wider:
Ich
lobe Gott mit Saitenspiel,
dass ich
in Hapsal wohne
und nicht
am Ganges, nicht am Nil,
nicht in
der heissen Zone,
zwar
waechst bei uns nicht Ananas,
doch
waechst bei uns so dies und das
und manche
Gartenfruechte.
Zu dieser fast puritanischen Bescheidenheit gesellte
sich „eine Grosszuegigkeit, eine Welt- und Weitraeumigkeit, die der Weite
unserer Landschaft entsprach. So lebte
meine Familie in einer Art Feudalsystem, wenn auch ohne Reichtum und
Adelskrone. Sie wurde fuer kuerzere
oder laengere Zeit (herrliche drei Monate Sommerferien!) durch Verwandte (auch
mit Freunden) „aufgestockt“. Einmal
luden meine Eltern einen obdachlosen russischen Fluechtling ein – Madame
Nikulina. Sie blieb zwei Jahre und
beherrschte alle. Wenn sie
Kristallmesserbaenkchen auf die Diele warf, schob man es auf ihre Gene als
Kosakentochter. An den
jour-fixe–Abenden war sie der Mittelpunkt der Konversation.
Nach dem Abitur am Staedtischen Deutschen Gymnasium
studierte ich am privaten Herderinstitut. 1939 kam ein abrupter Abschied. Auf
Schiffen verliessen wir Riga, deren Silhouette immer kleiner wurde. Die
Vergangenheit, unsere Vorfahren, die seit Jahrhunderten im Baltikum siedelten,
und unsere Graeber blieben zurueck. Wir wussten, es ist fuer immer.
Aber es ging nicht zu „neuen Ufern.“ Stattdessen
lernten wir „strenge Herren“, Strohlager, Trekks und Hunger kennen. Aber unser
Schicksal war nicht so schrecklich wie das anderer Fluechtlinge.
Meine erschuetterndsten Kriegserlebnisse? In Wien ging ich an einem Truemmerhafen
vorbei, auf dem ein blasses russisches Kind von ca. 12 Jahren Ziegeln
schleppte. Da schaute es auf. Es sah nicht mich, sondern das Brot. Ich hielt ihr das Brot hin. Bevor sie es aber nahm, fragte sie mich auf
Russisch, ob ich Russin oder Deutsch sei.
Ich hatte kaum „Deutsche“ gesagt, als sie das Brot mir zuruekwarf und
vor mir ausspuckte. Was muss das Kind
erlebt haben, dass es zu so viel Hass faehig war?
Zu Besuch in Lodz begleitete mich meine Freundin zu
einer Kaserne, hinter deren Eisenstaeben viele polnische Kindern, bewacht von
Polizei, weinend nach ihren Eltern riefen, die verzweifelt vor der Kaserne
standen. Es fiel mir auf, dass alle
Kinder blond waren. Ich erfuhr, dass
blonde polnische Kinder auf der Strasse wie streunende Hunde eingefangen und
nach Deutschland in ideologische Schulen geschickt wurden. Auf diese Weise sollte der Prozent der
blonden (!) Arier erhoeht werden.
Wir hatten Glueck, meine Freundin und ich. Statt im Sommereinsatz zu Bauern in die
Tucheler Heide, wo schon polnische Partisanen waren, geschickt zu werden,
durften wir Bromberg eingezogene Lehrer einer Schule, die geschlossen werden
sollte, ersetzen.
Das Unterichten machte Freude, wenn nur nicht der
„Bombendienst“ zweimal woechentlich gewesen waere! Wir mussten bei Anbruch der Nacht dauernd das ganze Schulgebaeude
– bei Verdunkelung – nach Bomben absuchen.
Die Schule befand sich neben einem Park, in dem kurz vor Kriegsbeginn
die Polen deutsche Bromberger zusammengetrieben und massakiert hatten. Es war so unheimlich... Die Toten schienen bei uns zu sein. Wir versuchten, in der Musik Bachs – ich
spielte Harmonium – das Grauen zu mildern.
Im Russisches gibt es ein Sprichwort: alles
vergeht und wird wieder schoen. Schoen war mein Studium an den
Universitaeten Koenigsberg und Wien, wo ich meinen Doktor phil. in Slawistik,
Indogermanistik und Sprachpsychologie machte. Thema meiner Dissertation: „die
slawischen Lehnwoerter im Lettischen.“
Kurz vor Kriegsende: wieder ging es westwaerts wie
bei unseren indoeuropaeischen Vorfahren, die in Wellen aus Asien geritten kamen
und das Matriarchat der autochtonen durch das Patriarchat ersetzten. Nur, dass
ich kein Pferd hatte.
Dafuer ersetzten deutsche Eisenbahner, die ein
Heldentum an den Tag legten, indem sie pausenlos drei Tage und drei Naechte die
letzten Fluechtlinge aus Posen, wo man schon den russischen Kanonendonner
hoerte, nach Berlin fuhren, die Pferde meiner Vorfahren.
Bahnhof. Ein
neuer Zug faehrt ein, der panikartig gestuermt wird. Meine Freundin und deren Mutter hatten, wie ich, das Glueck,
einen Platz zu finden, wenn auch in verschiedenen Abteilen, die, jede auf ihre
Art, eine „dantesche“ Atmosphaere hatten.
Die Mutter wurde unfreiwillige Zeugin von perversen Orgien von deutschen
Offizieren und Wehrmachtshelferinnen, unter deren traumatischen Spaetfolgen
sie, Tochter eines baltendeutschen Gouverneurs von Sibirien, noch lange
litt. Meine Freundin hate das Pech,
zwischen Bergen von alten Federbetten der Schwarzmeerdeutschen, die als
Notdurft fuer die Kinder herhielten, eingeklemmt zu sein.
Auch wenn ich weder Orgien noch Gestank ausgesetzt
war, litt ich mit den alten baltischen Damen, die sich dauernd ihr Gepaeck
reichen liessen, um dann dessen Inhalt ueberall zu verstreuen. „Kindchen“ musste ihn aufsammeln!
Jedesmal, wenn der Zug hielt, und er hielt haeufig,
hiess es: „Kindchen, machen Sie das Fenster auf und rufen Sie die NSV. Sie soll den alten baltischen Damen Kaffee
bringen“. Laengst gab es keine NSV
mehr!
Zuletzt malten sie sich die schoenen roten Haeuschen
in Berlin aus, die Hitler fuer sie reserviert haben wuerde. Kann man hier vom „Prinzip Hoffnung“
sprechen?
Nach laendlichen Taetigkeiten bei Kriegsende wie das
Ausmisten des Stalles und das Weiden unserer Tusnelda, die uns
mitleidige Moenche ueberliessen, suchte ich nach einem Broterwerb, aber ausser
Stricken von Norwegerhandschuhen (als Heimarbeit!) wurde mir nichts
angeboten. Da entschloss ich mich, in
Tuebingen Englisch, Deutsch und Franzoesisch zu studieren (es war noch die Zeit
der von amerikanischem Brei gefuellten Blechschuessel). Nach dem Staatsexamen und der
Referendarspruefung unterrichtete ich an Gymnasien in Stuttgart. Es war eine unterhaltsame, oft lustige Zeit.
Mit der Pensionierung fiel ich in das sattsam
bekannte „Loch“, das ich erfolglos mit der Wiederaufnahme von Klavierspiel und
Oelmalerei auszufuellen versuchte.
Da kam als rettender Einfall, Vor- und Fruehgeschichte
an der Eberhard-Karls-Universitaet bei Professor Korfmann zu studieren. Wieder eine herrliche Studentenzeit, die ich
mit der Magisterpruefung abschloss.
Darauf folgten Reisen zu Kongressen in andere Laender, wo ich interessante
Leute kennenlernte, mit denen ich immer noch in Kontakt bin. So bin ich, als
„Orientversessene“, oefters zu Freunden nach Baku eingeladen.
Es wuerde zu weit fuehren, auf meine Publikationen
einzugehen. Nur sieben werden
nachstehend abgedruckt.
Weshalb dann ueberhaupt eine Home-page? Es ist die Idee meines „kaukasischen“
Sohnes, der auf seine deutsche Mutter – ganz zu Unrecht – stolz ist.
Meine drei anderen Soehne und sieben Enkel? Sie
werden nicht vernachlaessigt, Wir
freuen uns immer, wenn wir zusammen sind.
Paar Fotos sollen als pars pro toto einen
kleinen Ausschnitt aus meinem intensiven, von Neugierde erfuellten Leben geben.
Gisela Burger
11.01.2002
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