Vittorio Hösle
Verfall der deutschen Universitäten?
Hochschulen in den USA und in Deutschland
Bundesbildungsministerin Edelgard Bulmahn will nicht nur das deutsche
Universitätswesen reformieren, das ganz besonders unter dem seit Jahrzehnten
währenden Reformstau leidet; sie hat, wie ihre Reise nach Kalifornien
im Januar 2001 zeigt, auch begriffen, daß von den amerikanischen
Hochschulen besonders viel zu lernen ist. Noch schmerzlicher als die inzwischen
verarbeitete, ja dankbar anerkannte Tatsache, daß ihre Heimat bei
dem “Griff nach der Weltmacht” zweimal jämmerlich gescheitert ist,
ist für die Deutschen wohl das Zugeständnis, daß sie auch
kulturell und wissenschaftlich darniederliegt: Sie wird im Ausland nirgends
mehr als das Land der Dichter und Denker wahrgenommen, und besonders bitter
ist es, daß der intellektuelle Primat gerade an jenen Staat übergegangen
ist, dem sich Deutschland und die meisten europäischen Staaten traditionell
immer wie einem reichen Parvenu gegenüber geistig überlegen gefühlt
haben, an die USA.
Seien wir ehrlich: Ein gewisser Antiamerikanismus gehört in Deutschland
zum guten Ton der politischen Korrektheit. Es bedarf konkreter Erfahrungen,
um zu begreifen, daß, obzwar die amerikanische Kultur bisher nichts
der klassischen deutschen Gleichrangiges hervorgebracht hat, dies nicht
impliziert, daß auch heute die deutsche Kultur besser sei als die
amerikanische. Die deutschen Universitäten waren zwar Anfang des 20.
Jahrhunderts die besten der Welt. Aber ihre aus Bewunderung entsprungene
Nachahmung durch amerikanische Wissenschaftsinstitutionen hat zum Aufstieg
dieser ebenso beigetragen wie die massenhafte Auswanderung exzellenter
europäischer Wissenschaftler während der autoritären bzw.
totalitären Phase Europas. Ende des 20. Jahrhunderts erfolgt die Weltspitzenforschung
in hohem Maß an den amerikanischen Universitäten. Erhält
ein gebürtiger Deutscher den Nobelpreis, ist die Wahrscheinlichkeit
hoch, daß er entweder an einer amerikanischen Institution wirkt oder,
falls er in Deutschland geblieben ist, an einem Max-Planck-Institut (mit
regelmäßiger Lehre in USA) -- in den letzten 25 Jahren gingen
65 Prozent der Nobelpreise an die USA, eine Zahl, die auf sich wirken zu
lassen lohnt. Die Überlegenheit der USA im technischen Bereich --
etwa was die Zahl der Patente angeht -- ist offenkundig.
Planwirtschaft oder Wettbewerb?
Obgleich die amerikanischen Universitäten sehr teuer sind, ziehen
sie wesentlich mehr ausländische Studenten an als die deutschen. Die
Zahl der begabten deutschen Studenten und jungen Wissenschaftler, die in
die USA zeitweise oder für immer auswandern (unter anderem dank einer
intelligenten und großzügigen Einwanderungspolitik: mehr als
50 Prozent der “Postdocs” sind Ausländer), ist groß, während
umgekehrt Analoges kaum zu beobachten ist, auch weil das Prestige der deutschen
Universitäten in der angelsächsischen Welt stark abgenommen hat.
Der “Wall Street Journal” vom 26. Februar 2001 brachte als Schlagzeilen
auf der ersten Seite: “Once-Proud German Universities Now Get Low Marks
-- Outclassed -- Despite Proud Past, German Universities Fail by Many Measures
-- An Odd Mix of Red Tape and a Ruthless Equuality Prompts Flight of Talent
-- 'Organized Irresponsibility'”.
Sind diese Schlagzeilen nur Ausdruck eines US-amerikanischen Kulturimperialismus?
Besteht zwar der geschilderte Sachverhalt, aber nur aufgrund von Zufällen,
oder gibt es objektive, planmäßig geförderte Ursachen für
die verblüffende Leistungsfähigkeit der amerikanischen Hochschulen?
Offenkundig ist letzteres der Fall. Folgende Faktoren sind besonders hervorzuheben:
Zunächst besteht in den USA eine scharfe Konkurrenz zwischen den Hochschulen.
Die grundsätzlichen Argumente für den Wettbewerb gelten natürlich
auch für den Wissenschaftsbetrieb. Es gibt sehr unterschiedliche Träger
der zahllosen Hochschulen: private, kirchliche, staatliche. Damit ist ein
wissenschaftlicher Pluralismus garantiert, von dem man in Deutschland nur
träumen kann. Innerhalb der katholischen Hochschulen ist etwa jenes
Moment, das innerhalb des Katholizismus eine gewisse Gewaltenteilung garantiert
-- das Nebeneinander von Welt- und Ordensgeiistlichen --, stark ausgeprägt;
der Ortsbischof hat bisher noch keine Lehraufsicht über die theologischen
Departments der Ordenshochschulen. Allein die Jesuiten unterhalten mehr
als 20 Hochschulen. Auch viele anderen Orden sind im Hochschulwesen sehr
aktiv, nicht zu sprechen von Colleges, die von christlichen Laien getragen
werden.
Unter anderem aufgrund eines vernünftigen Stiftungs-, Steuer-
und Erbrechts (Deutschland bewegt sich langsam in die richtige Richtung,
hat aber noch einen immensen Nachholbedarf) können auch Neugründungen
relativ schnell das erforderliche Kapital auftreiben; renommierte Institutionen
können leicht ihr Stiftungskapital -- in Harvard mehr als 40 Milliarden
Dollar -- vermehren (meine eigene Universität, Notre Dame, hat in
den letzten Jahren über eine Milliarde Dollar an Spenden akquiriert).
Als sehr grobe Faustregel gilt, daß zahlreiche Hochschulen ein Drittel
ihrer Ausgaben aus Kapitalerträgen (von denen ein Teil wieder in das
Kapital gesteckt wird, das somit stetig wächst), ein Drittel aus Studiengebühren,
ein Drittel aus Spenden (meistens ehemaliger Absolventen) bestreiten. Für
die Natur- und Ingenieurwissenschaften kommen noch Einnahmen aus privater
und staatlicher Auftragsforschung hinzu. Da die letzteren Einnahmen (und
der Zuwachs an den ersteren) vom Profil der Universität abhängen,
besteht ein ständiger Anreiz, sich um Leistungserhöhung zu bemühen.
Der Rückgang der Studenten führt sehr schnell zur Streichung
von Stellen, gegebenenfalls von ganzen Departments (in diesem Fall behalten
sich einige Universitäten das Recht vor, selbst Professoren mit "tenure",
also einer im allgemeinen unkündbaren Position, zu entlassen).
In Deutschland gibt es dagegen eine wesentlich geringere Identifikation
mit der eigenen Institution, deren qualitativer Niedergang sich nicht oder
wenigstens nicht rasch in negativen Sanktionen für die an ihr Beschäftigten
niederschlägt. Die Gründung von Universitäten erfolgt nach
planwirtschaftlichen Grundsätzen, nicht aufgrund von Nachfrage --
aufgrund der naiven und falschen Vorstellung, politische Ziele ließen
sich am ehesten mit direkten Mitteln erreichen. Nun bestreitet kein Vernünftiger,
daß der Staat eine Verantwortung für Wissenschaft und Kultur
hat. Aber er hat auch eine Pflicht, dafür zu sorgen, daß jeder
sein tägliches Brot essen kann, ohne daß daraus folgt, daß
er alle Bäckereien verstaatlichen muß: Denn ein solcher Schritt
wird die Qualität der Brotversorgung nicht heben.
Während in Deutschland auch kleine Universitäten, was die
vertretenen Fächer angeht, die großen zu kopieren suchen und
eine sinnvolle, marktgerechte Differenzierung zwischen den einzelnen Hochschulen
fehlt, sind in den USA die qualitativen und quantitativen Unterschiede
zwischen den Hochschulen beträchtlich. Daher kann man gerne zugeben,
daß die durchschnittliche Hochschule in USA in der Forschung weniger
leistet als die deutsche: Der Professor an einem drittklassigen College
ist weniger qualifiziert als sein deutscher Kollege, was Publikationen
angeht. Aber er muß ständig zeigen, daß er seiner eigentlichen
Aufgabe gerecht wird -- der Vorbereitung seiner Studenten auf einen dynamischen
Arbeitsmarkt, und vermutlich ist diese Aufgabe gesamtgesellschaftlich wichtiger
als das Abfassen von Artikeln, die von kaum jemandem gelesen werden. An
Colleges, die ja nur den Bachelor (BA) verleihen, wird eine gründliche
Allgemeinbildung vermittelt, allerdings um ein oder zwei Hauptfächer
zentriert. Hier ist die Lehre zentral, und sie ist so gut, daß etwa
ein betriebswirtschaftlicher oder ein juristischer Abschluß danach
in zwei bzw. drei Jahren erworben werden kann. Die amerikanischen Studenten
drängen mit 22 Jahren bzw., wenn sie eine Universität (ohne PhD)
abschließen, mit 24 bis 25 Jahren auf den Arbeitsmarkt; sie finden
recht leicht eine ihrer Ausbildung entsprechende Anstellung. Während
nur 16 Prozent der Deutschen einen Hochschulabschluß haben (bei einer
durchschnittlichen Studiendauer von sechs Jahren), sind es in den USA 32,9
Prozent (bei einer Studiendauer von durchschnittlich vier Jahren). Dabei
werden in den USA für jedes Studienjahr im Mittel mehr als 17 000
Dollar, in Deutschland weniger als 10 000 Dollar ausgegeben -- wobei in
den USA das Gros der aufgebrachten Mittel privater Herkunft ist.
Wie macht man akademische Karriere?
Die deutsche Tendenz zur Gleichmacherei führt dazu, daß
nicht nur sehr begabte Lehrer sich mit Forschungsarbeiten beschäftigen
müssen, die ihnen nicht sonderlich liegen und sie von ihrem eigentlichen
Talent, der Lehre, abführen, sondern auch, daß überdurchschnittliche
Begabungen in der Forschung mit Mißtrauen betrachtet werden: Es gibt
keine für sie spezifisch geeigneten Hochschulen, während das
in den USA die Spitzenuniversitäten sind. Das Argument, ein Kandidat
sei überqualifiziert (was man an deutschen Universitäten immer
wieder von ehrlichen Kommissionsmitgliedern hört), gibt es natürlich
prinzipiell auch in den USA -- wenn denn ein exzellenter Wissenschaftler
sich an einer zweit- oder drittklassigen Hochschule bewerben sollte. Das
kommt aber selten vor, schon weil die Einkommensunterschiede groß
sind, was zu größerer Allokationsrationalität führt.
Im deutschen System mit der Fiktion einer gleichen Qualität aller
Universitäten kann freilich das genannte Argument überall wiederholt
werden. Im übrigen ist der langsame Aufstieg aus einem Provinzcollege
nach Harvard im Prinzip jeder großen Begabung möglich, aber
es ist natürlich am wahrscheinlichsten, daß man irgendwo im
soliden Mittelfeld unterkommt -- während der deutsche Privatdozent
im
wesentlichen vor der Alternative Arbeitslosigkeit oder Verbeamtung,
häufig als Ordinarius (ohne weitere Leistungskontrolle), steht und
die endlich erworbene Machtposition alle bisherigen Leiden zu kompensieren
hat. Es braucht wohl nicht gesagt zu werden, daß der Menschentyp,
den die deutsche Universität nicht ausschließlich, aber doch
regelmäßig selektioniert, nicht sonderlich attraktiv ist.
Auch an derselben Universität richtet sich in den USA die Honorierung
nach der Leistung und ist daher sehr unterschiedlich. Assistenzprofessoren
fangen in Notre Dame mit einem Gehalt um die 40 000 Dollar an, erfolgreiche
Jura- und Businessprofessoren, die in der freien Wirtschaft ein Vielfaches
verdienen könnten, "begnügen" sich mit einem Einkommen zwischen
200 000 Dollar und 300 000 Dollar (das also höher ist als das des
amerikanischen Präsidenten). Das stört diejenigen Kollegen mit
bescheideneren Gehältern nicht, die gute Kollegen in diesen Disziplinen
haben und die Universitäten mit der freien Wirtschaft konkurrenzfähig
halten wollen. Das Gehalt wird jedes Jahr neu festgelegt (an einigen Universitäten
durchaus auch nach unten); Gehaltserhöhungen erfolgen keineswegs primär
aufgrund auswärtiger Rufe, sondern aufgrund von Leistungen an der
eigenen Institution. Erhöhungen um 10 Prozent aufgrund von Veröffentlichungen
und erfolgreicher Lehre sind keine Ausnahme, was zu einer Verdoppelung
des Anfangsgehalts innerhalb weniger als einem Jahrzehnt führen kann.
Ebenso verhandelbar ist das Lehrdeputat. Da Gerechtigkeit die Gleichbehandlung
gleicher, aber nicht ungleicher Leistungen erfordert, wird es als gerecht
angesehen,
daß Professoren, die in der Forschung mehr leisten, in der Lehre
weniger gefordert werden. Bewerbungen um Forschungsstipendien werden von
der Hochschule unterstützt -- Notre Dame etwa füllt jede Einkommensdifferenz
zwischen Stipendium und universitärem Einkommen; derart zusätzlich
erworbene Forschungszeit führt nicht notwendig zur Verschiebung des
regelmäßig gewährten Freisemesters nach hinten. Auf diese
Weise gelingt es, die Abwanderung sehr guter Wissenschaftler an reine Forschungsinstitutionen
zu verhindern, die in Deutschland die einzige Alternative zum Acht-Wochenstunden-Deputat
sind -- was die Zahl der von Spitzenwissenschaftlern an deutschen Universitäten
gelehrten Stunden senkt, nicht erhöht. Flexible Anstellungen -- etwa
ein Semester jedes Jahr oder jedes zweite Jahr -- werden häufig getätigt
und erlauben die Internationalisierung der Universitäten: In Notre
Dame lehren mehrere britische und irische Kollegen nur zur Hälfte
und bleiben somit gleichzeitig ihrer Heimat verbunden, was den “Braindrain”
mindert, ja wegen der Impulse aus Übersee ins Positive zu wenden vermag.
Das deutsche Beamtenrecht erlaubt analoge Regelungen nicht.
Eine erfolgreiche Karriere an der Hochschule, an der man zuerst
angestellt wurde -- die freilich sinnvollerweise, um wissenschaftliche
Abhängigkeiten zu verhindern, nicht die Institution sein kann, an
der man promoviert wurde -- ist möglich, ja normal: Ein Assistenzprofessor,
der nicht einem einzelnen Ordinarius, sondern einem Department zugeordnet
wird, wird nach drei Jahren für weitere drei Jahre angestellt oder
entlassen, wobei Letzteres keineswegs zum Abbruch der wissenschaftlichen
Karriere führen muß, sondern häufig genug mit der Anstellung
durch eine andere, meist weniger gute Hochschule endet, im Fall einer Fehlentscheidung
allerdings auch durch eine bessere, die sich durch das negative Urteil
der ersten Institution keineswegs gebunden fühlt -- was für diese
eine beträchtliche Blamage ist und einen Prestige- und Machtverlust
für die für die Fehlentscheidung Verantwortlichen zur Folge hat.
Nach weiteren drei Jahren erfolgt die Entscheidung über die Beförderung
zum “Associate Professor” -- in der Regel mit “tenure”, also auf eine Lebensstelle.
(Assistenzprofessoren mit tenure -- den deutschen Akademischen Räten
entsprechend -- sind selten und werden kaum noch weitergeführt.) Nach
weiteren Veröffentlichungen besteht die Möglichkeit, sich um
eine Beförderung zum “Full Professor” zu bewerben, ebenfalls an der
eigenen Institution. “Endowed Chairs” sind kein normaler Endpunkt einer
Karriere, sondern seltene, besonders ausgestattete Stellen, die meist nach
einem privaten Stifter benannt sind.
Evaluation
Die Mitglieder in den entsprechenden Kommissionen sind besonders qualifiziert:
Bei der Beförderung zum Full Professor können nur Full Professors
Mitglieder sein, bei einer Berufung auf einen Endowed Chair sind die meisten
Mitglieder selber “Chairholder”. Der Neideffekt und die Entwicklung von
Tauschgeschäften werden dadurch unter Kontrolle gehalten. Die Kriterien,
auf die es bei Berufung und Beförderung ankommt, sind Forschung, Lehre
und Verwaltung, und zwar in unterschiedlicher Gewichtung je nach der Natur
der Institution. Bei den auswärtigen Gutachten zur Forschung hat der
Kandidat das Recht zum Vorschlag von Gutachtern und ebenso zum Veto von
bis zu drei Namen.
Die Lehre wird professionell überprüft, manchmal von vier
Kollegen in unterschiedlichen Veranstaltungen, die jeweils ein Gutachten
schreiben müssen, die schließlich in ein umfassendes Gutachten
eingehen, in dem auch die nach jedem Seminar abgegebenen studentischen
Bewertungen berücksichtigt werden. Entgegen verbreiteten Vorurteilen
unterliegen Letztere selber einer Bewertung, das heißt, man versucht
herauszufinden, ob sachfremde Aspekte wie Antipathie, Ärger über
schlechte Noten usw. ein negatives studentisches Urteil bedingt haben.
Die Zahl der Studenten pro Veranstaltung spielt ebenfalls bei der Evaluation
eine wichtige Rolle; Tutoren werden im übrigen nicht nach dem Gießkannenprinzip
verteilt, sondern je nach der Studentenzahl.
Fehlentscheidungen kommen natürlich auch in den USA vor, doch
gibt es drei Korrekturmöglichkeiten: erstens Appelle an die nächsthöhere
akademische Instanz; zweitens Klagen bei Rechtsverletzungen wie Ungleichbehandlungen.
(Das amerikanische Schadensersatzrecht mutet Europäer oft bizarr an
-- es hat freilich den entscheidenden Vorteiil, daß es einem sozialen
System, in dem Strafen eine recht geringe Rolle spielen und moralische
Autorität kein wichtiger Machtfaktor mehr ist, empfindliche Sanktionsmechanismen
zur Abwehr asozialen Verhaltens zur Verfügung stellt. Denn auch wenn
private Universitäten keinen Penny vom Staat erhalten, sind sie selbstverständlich
an Recht und Gesetz gebunden, wenn sie nicht die im Zehnjahresabstand neu
zu gewaehrende Akkreditierung verlieren wollen).
Entscheidend ist aber drittens, daß ein riesiger Markt zur Verfügung
steht, an den man sich wenden kann, wenn man mit seiner Institution unzufrieden
ist.
Akademische Tauschhandel
In Deutschland ist die Assistentenzeit häufig genug mit unerträglichen
Abhängigkeiten und Demütigungen verbunden, die teils eine Folge
der Tatsache sind, daß oft der Doktorvater der weisungsberechtigte
Vorgesetzte wird, was selbständige wissenschaftliche Entwicklung schwerlich
fördert, und die teils mit der Notwendigkeit der Habilitation zusammenhängen,
einer in den USA unbekannten Institution, die über eine akademische
Karriere schlechthin, nicht nur an der gewährenden oder verweigernden
Institution entscheidet.
Die Ungerechtigkeiten, die man an deutschen Universitäten in diesem
Zusammenhang erleben kann, sind empörend -- mehrere Kommissionsmitglieder
sagen offen vor einem Verfahren, jetzt sei die Möglichkeit gekommen,
es dem Habilitanden oder seinem Professor, der sich der Zunft nicht unterwürfig
genug gezeigt hatte, "zu zeigen", und sie nutzen diese Gelegenheit entsprechend
(wobei einige Habilitationsordnungen sogar anonyme Abstimmungen zulassen,
und zwar mit dem Argument, daß die Habilitation sowohl eine Prüfung
als auch eine Aufnahme in den Lehrkörper sei -- was richtig ist, aber
gegen die Institution spricht). Wo nicht in der aktiven Rolle Unrecht wiederholend
zugefügt wird, das man früher als Opfer erlitten hatte, werden
gerne Tauschhandel getätigt, die auch bei Berufungen eine beachtliche
Rolle spielen -- oft handelt es sich dabei um Geschäfte auf Wechselseitigkeit,
deren große Bedeutung sich daraus ergibt, daß sie die einzige
Möglichkeit sind, die eigene Ausstattung und das eigene Einkommen
zu verbessern. Man kann leicht zweifeln an der betriebswirtschaftlichen
Logik eines Verfahrens, jemanden nur dann zu prämiieren, wenn er sich
an einer anderen Institution engagiert.
Die Zusammensetzung der Berufungskommissionen erfolgt selten nach sachlichen
Kriterien. PH-Professoren ohne Habilitation, die nach einer mittelmäßigen
Dissertation kein Buch mehr geschrieben haben, können zu Vorsitzenden
von Kommissionen werden, die unter viel qualifizierteren Kandidaten zu
wählen haben.
Informationen über die Lehrfähigkeiten werden auf dilettantische,
wenn nicht sogar manipulative und ungerechte Weise eingeholt; der Bewerbungsvortrag
steht vor der doppelten, oft unlösbaren Aufgabe, sowohl eine Forschungs-
als auch eine Lehrleistung darzustellen (in den USA werden an guten Universitäten
für wichtige Positionen zwei Bewerbungsvorträge gehalten, einer
vor den Professoren, ein anderer vor den Studenten); die in Kommissionen
aktiven Studenten haben oft mehr studentenpolitische als akademische Qualifikationen;
und eines der Ziele solcher Studenten kann der Professor oder die Professorin
für den kleinsten gemeinsamen Intelligenzquotienten sein, zumal die
Karrierechancen der Studenten nicht in gleichem Maß wie in den USA
von der Reputation der eigenen Hochschule abhängen.
Nach der Kommissionsarbeit geht in den USA die Liste zu “Chair”, “Dean”,
“Provost” und “President”, die jeweils ein Kontroll- und Eingriffsrecht
haben. Diese monokratischen Organe haben -- anders als die deutschen Universitätssenate,
deren amerikanische Äquivalente nichts mit Berufungen zu tun haben
-- eine klare,
individuell zurechenbare Verantwortung. Machtmißbrauch wird dadurch
unwahrscheinlicher, daß jeder Amtsträger von der höheren
Stelle kontrolliert wird -- der Präsident vom “Board of Trustees”,
der zu gutem Teil aus erfolgreichen ehemaligen Absolventen besteht und
den stetigen Kontakt zwischen Universität und Gesellschaft garantiert.
Überhaupt ist die Verwaltung der Universitäten in den USA
professioneller als in Deutschland. Der Chair, der das Einkommen der Kollegen
seines Departments festlegt, wird -- manchmal, nicht immer, auf Vorschlag
der Kollegen -- vom Dean ernannt. Für die Zeit seines Amtes hat er
nicht nur eine Reduzierung seines Lehrdeputats, sondern auch ökonomische
Vorteile (in Notre Dame zwei Neuntel seines Einkommens zusätzlich).
Der Präsident ist oft genug kein Wissenschaftler (an der New School
for Social Research derzeit ein ehemaliger Bundessenator, der nur einen
Bachelor hat, was aber seine Arbeit nicht behindert), mit einem Einkommen,
das dem eines Vorstandsvorsitzenden eines Unternehmens vergleichbar ist,
also gegebenenfalls auch um die 500 000 Dollar. (Höher noch sind die
Einkommen der “coaches” der Sportteams -- an 20 Universitäten
verdienen sie mehr als eine Million Dollar.) Eine der Hauptaufgaben des
Präsidenten ist das Eintreiben von Spenden, und man sieht leicht ein,
warum jemand, der darin erfolgreich ist, mit dem genannten Einkommen belohnt
werden sollte -- für die Universität ist das immer noch ein Gewinn.
Aufgrund der höheren Professionalität, der Natur der Entscheidungsorgane
und der Gefahr von Gegenangeboten erfolgen Stellenangebote unvergleichlich
schneller als in Deutschland.
Wie studiert man?
Was die Studenten angeht, so ist der entscheidende Unterschied zwischen
deutschen und amerikanischen Hochschulen das Auswahlrecht der letzteren.
Die Universitäten kämpfen um qualifizierte Studenten, und diese
bemühen sich energisch um die Hochschule ihrer Wahl. Die Kosten des
Studiums führen dazu, daß dieses etwas wert ist und daß
man es zügig abschließt, und ein -- zugegebenermaßen verbesserungsfähiges
-- Kredit- und Stipendiensystem für diee sozial Schwachen garantiert,
daß es weitgehend die intellektuelle Fähigkeit ist, die über
die Studienmöglichkeit entscheidet (auch wenn einzuräumen ist,
daß der Besuch guter Privatschulen die Aufnahme in eine Eliteuniversität
erleichtert). Hochbegabte aus niedrigeren Einkommensschichten haben keine
Schwierigkeiten, Stipendien zu
finden. Schwieriger als in Deutschland ist freilich der Aufstieg in
eine gute Universität für die durchschnittliche Begabung aus
einer einkommensschwächeren Familie.
Das ist sicher etwas, was man nicht von den USA übernehmen sollte.
Die kollektive Identität, die die Studenten lebenslang mit ihrer Hochschule
verbindet, ist freilich bemerkenswert und gründet sicher auch im gemeinsamen
Sport, in den akademischen Feiern und in den Symbolen der Universitäten,
die sich oft als Wertegemeinschaften verstehen. Ehrengerichte aus Studenten
und Professoren kontrollieren Fairneßverletzungen, die vielen universitätsöffentlichen
Preisverleihungen führen dazu, daß der Neidkoeffizient gesenkt
wird. Die Universitäten kümmern sich sehr sorgfältig um
das berufliche Weiterkommen ihrer Studenten -- schließlich hängt
ein Teil ihres Einkommens von deren späteren Spenden ab. Bei der Eröffnung
eines PhD-Programms muß nachgewiesen werden, daß der akademische
Markt die Jungwissenschaftler aufzunehmen in der Lage ist.
Der amerikanische Durchschnittsstudent ist fleißiger als der
deutsche, der freilich meist über eine bessere Schulbildung verfügt.
Allerdings wird Originalität durch das amerikanische System nicht
in gleichem Maß gefördert wie soziale Anpassung und das schulmäßige
Aufnehmen von Wissen; als unerfreulich empfinden aus Europa kommende Kollegen
insbesondere das Betteln um gute Noten bei jedem Seminar, da auch diese
Noten, anders als in Deutschland, in die Endnote eingehen. Eine amerikanische
Doktorarbeit in den Geisteswissenschaften ist technisch meist besser, aber
oft auch stromlinienförmiger als eine deutsche. Neben hochbegabten
unterhalten deutsche Universitäten in den Geisteswissenschaften freilich
auch zahlreiche studierunfähige Studenten (meines Ermessens etwa ein
Drittel), die durch die sozialen Vorteile des Studentendaseins angezogen
werden, die ja nach einem eigenwilligen Verständnis sozialer Gerechtigkeit
zum guten Teil auch immatrikulierten Großverdienern zugute kommen.
Es ist für einen Amerikaner unverständlich, wenn etwa in
Nordrhein-Westfalen der privaten Universität Witten-Herdecke eine
von jeder Kostendeckung weit entfernte Obergrenze für die Studiengebühren
auferlegt wurde, und zwar mit dem Argument, die reichen Leute sollten nicht
zuviel Geld in die Ausbildung ihrer Kinder investieren dürfen. Luxusgüter
dürfen sie ihnen ja kaufen -- warum dann nicht eine Ausbildung, die
vermutlich der Gemeinschaft als ganzer zugute kommen wird, zumal wenn ein
sozial gerechtes Stipendiensystem bzw. sozial gerechte Rückzahlungsbedingungen
zur Verfügung stehen? Die Folge ist natürlich, daß begabte
Kinder reicher Eltern dann gerne im Ausland studieren.
Was ist von den USA zu lernen?
Grundlegende Unterschiede in Verfassung, Mentalität, politischer
Kultur und Interessenverteilung machen es unmöglich, daß Deutschland
das amerikanische System vollständig oder auch nur weitgehend übernimmt.
Auch bei der Auswahl einzelner Elemente muß man natürlich darauf
achten, daß sie nicht in einem unterschiedlichen Kontext ganz andere
Auswirkungen haben -- die Festlegung des Einkommens eines Professors durch
den Chair würde ohne wirkliche Konkurrenz zwischen den Universitäten
zu noch mehr Ungerechtigkeiten führen.
In der Tat scheint mir darin das Hauptproblem der Reformvorschläge
von E. Bulmahn zu liegen: Sie greifen sich einzelne Aspekte des amerikanischen
Systems heraus, gehen aber nicht das zentrale Problem der deutschen Universitätspolitik
an -- den Würgegriff des Staats und der Interessenvertreter. Rahmenbedingungen
für gute private Universitäten zu schaffen, wäre wahrlich
wichtiger als die Schaffung neuer Bürokratien. Denn Deutschland hat
einige bedeutende Standortvorteile -- in seinen Studenten ebenso wie in
seiner Kulturlandschaft und seinen geistigen Traditionen. Die Europäische
Union könnte einen großen akademischen Markt darstellen, wenn
man sich auf Englisch als eine der Unterrichtssprachen einigen könnte.
Es ist bedauerlich und der Bildung einer kollektiven Identität Europas
sicher nicht förderlich, wie wenige Kollegen aus benachbarten EU-Mitgliedsstaaten
bisher an europäischen Hochschulen unterrichten.
Eines bleibt freilich klar: Da die Zukunftsfähigkeit eines Landes
entscheidend von seinem Bildungssystem abhängt, ist die Prognose plausibel,
daß die USA noch lange ins 21. Jahrhundert hinein ihre Spitzenstellung
halten werden, während die Mehrzahl der europäischen Staaten
wissenschaftlich, kulturell und wirtschaftlich weiter absinken wird --
wenn nicht weitgehende Änderungen erfolgen und die Universitäten,
die in Kontinentaleuropa im wesentlichen nach den Prinzipien einer Zunftordnung
funktionieren, der Logik des Marktes unterworfen werden. Denn eine Zunft
kann nur funktionieren, wenn ein bestimmtes Ethos sie trägt -- im
Fall einer Universität: wenn die Großzahl der Mitglieder Gelehrtenpersönlichkeiten
sind. Ist dies nicht der Fall -- und seit der Expansion der Universitäten
in den 60er Jahren ist das nicht mehr so -- , kann es keinen Sinn haben,
Professoren Privilegien wie das Fehlen einer Leistungskontrolle zu gewähren,
die weder im Interesse der Studierenden noch der Wissenschaft sind. Wie
die Amerikaner genau zu kontrollieren, was mit den eigenen Steuergeldern
geschieht, ist nicht notwendig kleinbürgerlich -- es kann eine Bürgertugend
sein, die auch der christlichen Caritas zugute kommen mag.
Nach dem Scheitern von Peter Glotz in Erfurt sollte man keine Hoffnung
haben, daß in Deutschland eine staatliche Reformuniversität
gelingen kann. Private Sponsoren und Wissenschaftsmanager aus den USA sind
gefragt. Immerhin ist dies einer der positiven Aspekte der Globalisierung
(neben manchen negativen), daß die Staaten in viel intensiverer Weise
miteinander konkurrieren müssen, als dies früher der Fall war.
Das erhöht den Anpassungsdruck an die Gebote der Vernunft -- jedenfalls
wenn man nicht zu den Verlierern des geschichtlichen Prozesses gehören
will.
Aus: Stimmen der Zeit, Juni 2001