FEUILLETON | Montag, 4. Februar 2002 |
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Deutschland Seite 15 |
Hochschuldebatte
Kumulatives Mittelmaß
Vom Leiden an der selbstverschuldeten Unmündigkeit
In einer Gesellschaft, die sich dem Wettbewerb und der Deregulierung verschrieben hat, werden jene Nischen immer kleiner, in denen nicht der kategorische Imperativ des shareholder-value als alleiniges Sittengesetz gilt. Diese Nischen sind, Gottlob, noch weitaus zahlreicher, als man glauben möchte. Das ist auch gut so, denn keine Gesellschaft kann, ohne Schaden zu nehmen, darauf bestehen wollen, solche Biotope auszutrocknen, zumal diese einen Überschuss produzieren, der sich im weitesten Sinne als kulturell verstehen lässt. Zu diesen Nischen gehören auch die geisteswissenschaftlichen Universitätslehrstühle, die auf dem soliden Fundament des ihnen zugehörigen akademischen Mittelbaus aufruhen, aus dem sie sich fallweise personell regenerieren.
Das System hat eine lange, geradezu feudalistisch anmutende Tradition, die mit Eifersucht gehütet wird. Jetzt aber droht dieser Idylle Ungemach, beharrt doch die Bundesbildungsministerin Bulmahn darauf, dass der geisteswissenschaftliche Mittelbau nicht zu einem Wartesaal verkomme, in dem so mancher ein ganzes Berufsleben lang ausharrt, ohne dass ihn der Ruf auf eine Lehrkanzel im akademischen Oberbau erreichte. Zwölf Jahre Zeit für Promotion und Habilitation, so die Ministerin, seien genug. Wer binnen dieser alles in allem sehr großzügig bemessenen Frist nicht zum Zuge gekommen sei, der müsse sich eines anderen besinnen. Diese Absicht, die von den Mittelbauern eigentlich nur ein selbstverständliches Maß an kritischer Selbstachtung einfordert, stößt bei ihnen gleichwohl auf ebenso lautstarke wie selbstgerechte Empörung, wofür der Streik an der Universität Bielefeld, an der die Angehörigen des geisteswissenschaftlichen Mittelbaus für zwölf Tage Dienst nach Vorschrift machen wollen, ein schönes Beispiel liefert.
Aber auch sonst verraten die empörten Reaktionen der hier im Wortsinne Betroffenen viel über deren Selbstbewusstsein, behaupten sie doch allen Ernstes, dass eine solche Fristsetzung der geisteswissenschaftlichen Forschung in diesem Lande einen kaum mehr wiedergutzumachenden Schaden zufüge. Der Haken dabei ist nur, dass es kaum gelänge, eine solche Behauptung unter den derzeit obwaltenden gesellschaftlich-kulturellen Gegebenheiten zu verifizieren. Wenig anders sähe es aber auch aus, veränderte man die Parameter und nähme solche Zeitläufte zur Grundlage einer Wertigkeitsbestimmung, die etwa einen Ulrich von Wilamowitz- Möllendorf oder einen Jacob Burckhardt, einen Max Weber und einen Theodor Mommsen als Fixsterne am Firmament der Geisteswissenschaften aufwiesen.
Das erhellt, dass die Geisteswissenschaften selbst zu einem Gutteil die Misere zu verantworten haben, deren Folgen sie jetzt beklagen. Indem sie sich seit den späten 60er Jahren des vergangenen Jahrhunderts immer schamloser den Wonnen der disziplinären Beliebigkeit hingaben und es weithin klaglos geschehen ließen, dass man ihre alte Heimat, die historisch-philosophischen Fakultäten, zerstörte. Damit verrieten sie eben jenen Anspruch und jene Selbstachtung, auf die jetzt der Mittelbau wieder Anspruch erhebt. Unter der wohlfeilen Parole, gleiche Bildungschancen für alle, senkten die Geisteswissenschaften damals nicht nur das Anforderungsniveau an Studenten wie Lehrpersonal, sondern hießen auch ihre vermeintlichen Brüder und Schwestern im Geiste, die Pädagogen und Didaktiker willkommen, denen ein alter Wunsch in Erfüllung ging, dass sie ihr Lehramt an einer Pädagogischen Hochschule mit der unendlich prestigeträchtigeren Bestallung als Professor an einer Universität vertauschen konnten.
Dieser Strukturwandel, den die Geisteswissenschaften an den Universitäten erlebten und der mit den Stichworten Verschulung und inhaltlicher Orientierung an den Erfordernissen der Lehrerausbildung beschrieben ist, bedingte ihre schleichende Selbstentmündigung. Das ist die Quittung dafür, dass die Geisteswissenschaften in der gesellschaftlichen Wahrnehmung, sieht man von ihrer Bedeutung für die Lehrerausbildung ab, belanglos geworden sind. Dabei handelt es sich keineswegs um ein Imageproblem, sondern um eine Sinnkrise, in die sich die Geisteswissenschaften selber stürzten, als sie sich mit den Pädagogen und Didaktikern in der Hoffnung ins Bett legten, dass deren Mitgift ihnen neue Stellen und Achtung beschere.
Diese Hoffnung ging auch in Erfüllung, aber darauf ruhte der Fluch des Danaergeschenks. Denn zum einen galt Gütergemeinschaft, aus der die Pädagogen und Didaktiker ideell wie materiell den weitaus größeren Nutzen zogen. Zum anderen bewirkte die schubartige Stellenvermehrung, die Hand in Hand ging mit einer Gründungswelle neuer Universitäten, dass das kumulative Mittelmaß alle Schranken, die es bislang eingedämmt hatten, überschwemmte. Indem sich so für viele der Traum des geradezu antikisch anmutenden Aufstiegsmusters einer Universitätskarriere erfüllte, wurde dessen Verlockung in die Herzen und Hirne von noch mehr Aspiranten gesenkt, die nun ihrerseits hoffnungsfroh in die Räume des Mittelbaus einströmten.
Das eben ist das Problem: Viele fühlen sich berufen, aber nur wenige werden berufen. Daran dürfte sich in absehbarer Zeit kaum etwas ändern, zumal auch einer im Prinzip sehr wohlhabenden bürgerlichen Gesellschaft es nicht zugemutet werden kann, die Lehrstühle für Byzantinistik, Archäologie oder Germanistik in dem Umfang zu vermehren, wie qualifizierte Bewerber dafür bereitstehen. Außerdem verstärkt solcher Andrang, der auf keine Nachfrage stößt, eher den Eindruck der Belanglosigkeit. So gesehen müsste die Fristsetzung für die Verweildauer im Zwischenreich des Mittelbaus durch die Bundesministerin für Bildung geradezu den Beifall der davon Betroffenen finden: Zum einen nimmt sie ihnen eine Entscheidung ab, zu der manche von diesen offenkundig selbst nicht mehr fähig sind; zum anderen leistet sie damit einen nicht zu unterschätzenden Beitrag, den Geisteswissenschaften zu einer neuen gesellschaftlichen Wertschätzung zu verhelfen.
Dass die Fristenregelung der Ministerin beim geisteswissenschaftlichen Mittelbau auf einen derart vehementen Protest trifft, kann im übrigen nicht überraschen. In den Grundlinien der Philosophie des Rechts hat Hegel das Gesetz dieser Mechanik bereits gültig beschrieben: Gegen die Natur kann kein Mensch ein Recht behaupten, aber im Zustande der Gesellschaft gewinnt der Mangel sogleich die Form eines Unrechts, was dieser oder jener Klasse angetan wird.
JOHANNES WILLMS
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