Interview

Interview mit Herrn Dr

Interview mit Herrn Dr. Vinicio Medici

In industrialisierten Ländern leidet ein Prozent der Bevölkerung an einer Epilepsie. In der Schweiz sind davon 60 000 – 70 000 Menschen betroffen. In Deutschland beträgt die Zahl bereits 800 000, was auch beweist, wie gross die sozi-ökonomische Bedeutung dieser Krankheit ist, Wenn wir an die teilweise teuren Behandlungskosten, an die Operationskosten sowie an die Arbeitsausfälle auch im Rahmen von Verletzungen bei Anfällen denken. Wegen der zunehmenden Überalterung der Bevölkerung ist mit einer weiteren Zunahme der Epilepsien zu rechnen. Zunehmende Tendenz zeigen auch Epilepsien nach Schädel- Hirntraumen bei Verkehrsunfällen und gefährlichen Sportarten. Das Redaktionsteam von Brainstorm hat sich mit dem Neurologen Herrn Dr. med. Vinicio Medici in Bern über einige Aspekte betreffend der Epilepsien unterhalten.

 

 

Redaktion: Wie kommt der Patient zu Ihnen? Wer schickt ihn? Sind es andere Aerzte, Spitäler, Familienangehörige?

Dr. Medici: In den allermeisten Fällen wird der Epilepsiepatient vom Hausarzt zur Beurtei-lung überwiesen. Ich arbeite aber auch konsi-liarisch für verschiedene Spitäler und nehme die entsprechenden Untersuchungen in der Praxis vor oder besuche die Patienten in den Kliniken und berate die zuständigen Kollegen.

Redaktion: Kommen die Patienten häufig auch von sich selbst aus zu Ihnen?

Dr. Medici: Dies bildet eher die Ausnahme. Grundsätzlich gesehen soll der die Familie und den Patienten kennende Hausarzt die Anlauf-stelle bei allen sich zeigenden Krankheiten bilden. Die Zusammenarbeit mit dem Hausarzt ist ausserordentlich wichtig.

Redaktion: Wie verläuft das erste Gespräch zwischen Ihrem neuen Patienten und Ihnen? Sprechen Sie mit ihm haupt-
sächlich über die Epilepsie, oder auch über Ereignisse während seines Lebens?

Dr. Medici: Das Erstgespräch mit dem Epilepsiepatienten ist sehr aufwendig. Man muss dafür mindestens eine Stunde einsetzen und dann meistens in einer zweiten Sitzung den Patienten noch eimal mit den Eltern oder dem

 

Lebenspartner beraten. Es ist ideal, wenn der Patient schon bei der ersten Untersuchung von Familienangehörigen begleitet wird, damit ich die sogenannte Fremdanamnese aufnehmen kann. Der Patient selbst kann ja lediglich den Beginn des Anfalls schildern, solange die Bewusstseinstrübung nicht schon in die Bewusstlosigkeit umgeschlagen hat. Deswegen ist es ausserordentlich wichtig, dass eine Vertrauensperson des Patienten dann darüber Auskunft geben kann, was im Verlaufe des Anfalls wirklich geschieht und sich ereignet hat. Der Patient kann mir vielleicht angeben, dass er plötzlich ein eigenartiges Hitzegefühl in der Bauchregion verspüre, nach Einsetzen der Umdämmerung kann der Patient dann keine Angaben machen, ob ert Schmatzbewegungen mit den Lippen vollführt oder z.B. mit den Fingern an den Kleidern nestelt oder in den vollen Teller hineingreifen will. All dies kann nur eine vertrauenswürdige genau beobachtende Person beschreiben, die den Anfall miterlebt. Ich erwähne noch, dass es nicht statthaft ist ohne ausdrückliche Entbindung durch den Patienten vom Arztgeheimnis bei sogenannten Drittpersonen die Fremdanamnese aufzuneh-men. Im Rahmen der Rezession und der schwierigen Stellensuche könnte dies für einen Patienten sonst unangenehme Folgen haben. Nach der möglichst genauen Anfallsbeschrei-bung muss dann die Familien- und Patienten-vorgeschichte besprochen werden. Es geht um die Frage, ob anderweitige Fälle von Epilepsie in der Familie vorkommen. Wichtig sind dann auch die Frage nach dem Verlauf der Schwanger-schaft und insbesondere nach dem Verlauf der Geburt. Wenn eine Mutter in Anwesenheit des Kindes befragt wird, muss hier sehr sorgfältig vorgegangen werden, da eine liebevolle Mutter oft an Schuldgefühlen leidet, wenn ein Kind Epilepsie hat und z.B. bei der ersten Unter-redung dem Neurologen verschweigt, dass beim Kind im Rahmen der Geburt eine Nabelschnur-umschlingung des Halses bestanden hat mit Blauverfärbung des Gesichtes im Sinne der sogenannten Asphyxie, was bereits die Ursache einer geburtstraumatischen Epilepsie bilden kann. Im weiteren Verlaufe des Gespräches muss dann die Frage der Einschulung und der Schulleistungen ebenfalls in das Gespräch eingeschlossen werden. Auch hier muss man behutsam vorgehen, da nicht gerne berichtet wird, dass das eigene Kind vielleicht eine Klasse sogar mehrfach repetieren musste. Weiterhin interessiert den Neurologen natürlich die Frage, ob der Patient schwere Schädel-Hirnverlet-zungen oder entzündliche Gehirnaffektionen im Sinne einer Hirnhaut- oder Hirnentzündung durchmachte. Nur anhand all dieser Angaben ist es dann möglich die Epilepsie einigermassen zu klassifizieren, was die absolute Voraussetzung für eine gute Behandlung bedeutet. Wie bereits erwähnt, muss die Vorgeschichte oft mehrmals noch ergänzt werden.

Redaktion: Welche Möglichkeiten haben Sie, um nach einem Gespräch mit dem Patienten die
Epilepsie zu erkennen.

Dr. Medici: Der Schlüssel zur Diagnose bildet die sorgfältige Erhebung der Vorge-schichte und insbesondere das Ergebnis der bereits erwähnten Fremdanamnese. Nach der eingehenden Besprechung wird der Patient neurologisch untersucht. Diese Untersuchung ist völlig schmerzlos und ebenfalls sehr zeit-aufwendig.Oft ergibt dann schon der soge-nannte Neurostatus Hinweise für das Vorliegen eines Gehirntumors oder einer anderweitigen mein Fachgebiet betreffenden Erkrankung, die auch Anfälle verursachen könnte. Im Anschluss an die neurologische Untersuchung wird dann das Elektroencephalogramm abgeleitet. Es darf dabei nicht vergessen werden, dass die übliche elektroencephalographische Untersuchung eine Zeitaufnahme über den Zustand des Gehirns während 25 Minuten aufzeigt. Was in den übrigen 23 Stunden und 35 Minuten sich ereignet, kann mit dem einfachen Oberflächen-EEG während 25 Minuten ja nicht beurteilt werden. Unter Umständen muss dann noch ein Langzeit-EEG in einer Klinik oder mit dem Kasettengerät abgeleitet werden. Ausser bei typischen generalisierten Epilepsien im Sinne der Absenzepilepsie wird heutzutage immer noch ein bildgebendes Verfahren angewendet, um genaue Auskunft über das Gehirn zu erhalten. Keine Blutgefässgeschwülste (Cavernome) kön-nen nämlich bei der Untersuchung und auch beim EEG nicht nachgewiesen werden. Hier hilft uns die feine Methodes des MR weiter. Die MR-Untersuchung ist dem Computerbild (CT) eindeutig an Aussagekraft überlegen.

Wenn alle Untersuchungsbefunde vorhanden sind, muss dann mit dem Patienten und den Angehörigen die Gesamtbesprechung in einer zweiten Sitzung erfolgen.

Redaktion: Welche verschiedenen Arten von Epilepsien gibt es?

Dr. Medici: Betreffend der Ursache können wir zwischen den sogenannt symptomatischen und idiopathischen Epilepsien unterscheiden. Wir sprechen von symptomatischen Epilepsien, wenn die das Leiden verursachende Schädigung im Gehirn bekannt ist. Von idiopathischen oder sogenannt anlagebedingten Epilepsien sprechen wir, wenn sämtliche Untersuchungsbefunde unauffällig ausfallen, aber doch eine gewisse familiäre Belastung und Altersbildung der Epilepsie besteht. Von einer sogenannt kryptogenetischen Epilepsie wird gesprochen, wenn weder im Rahmen der Untersuchungen noch der eingehenden Familiengeschichte sich irgendwelche Auffälligkeiten ergeben. Betreffend der Erscheinungsart und Form sprechen wir von sogenannten Epilepsiesyndromen. Wir sprechen von generalisierten Epilepsien, wenn beide Hirnhälften sozusagen in den krankhaften Prozess miteinbezogen sind. Von vokalen oder partiellen Epilepsien sprechen wir, wenn die Anfälle durch eine umschriebene Funktions-störung an einem bestimmten Punkt des Gehirns ausgelöst werden. Die internationale Klassifikation der epileptischen Anfälle ist sehr umfangreich und erfährt auch immer wieder zeitweilige Veränderungen auf der Basis von neuen Erkenntnissen.

Redaktion: Wie erläutern Sie dem Patien-ten seine Art der Epilepsie? Folgen? Vererbbarkeit? etc.

 

Dr. Medici: Die Diagnose der Epilepsie bildet für jeden Patienten eine ungeheure Belastung und oftmals fast eine Art Schock. Man muss geduldig und mit viel Einfühlungs-vermögen versuchen dem Patienten das Leiden in einer für ihn verständlichen Sprache zu erklären. Von allem Anfang an muss darauf hingewiesen werden, dass wir heutzutage mit den modernen Medikamenten doch bei über 70% der Epilepsien weitgehende Anfallsfreiheit und Heilung erzielen können. Voraussetzung bildet die Einhaltung der lebenshygienischen Massnahmen: Präzise Mitteleinnahme, regel-mässiger Schlaf-Wachrhythmus, am besten kein Alkohol. Die Fragen der Berufsausübung, der Wehrtauglichkeit und vor allem auch die Frage wegen der Fahrtauglichkeit müssen in aller Offenheit mit dem Patienten besprochen werden.

Redaktion: Sprechen Sie auch mit den Familienangehörigen; Lebens-partnern des Patienten?

Dr. Medici: Die Familienangehörigen und insbesondere der Lebenspartner müssen in alle Gespräche mit dem Patienten miteinbezogen werden. Die Angehörigen und der Partner sind ja durch die Krankheit auch betroffen. Ich muss sie auch anweisen wie erste Hilfe geleistet werden kann.

Redaktion: Wann entscheiden Sie sich, dass ein Patient keine ärzt-liche Behandlung mehr be-nötigt?

Dr. Medici: Die Behandlung der Epilepsie ist immer eine über Jahre dauernde Langzeit-behandlung. Bei einem anfallsfreien Verlauf von mindestens 5 – 8 Jahren kann sorgfältig eine Mittelreduktion im Hinblick auf das Absetzen der Medikamente vorgenommen werden, dies mit regelmässigen EEG-Kontrollen.

Redaktion: Hat es schon Patienten gegeben, die trotz einer erfolgreichen Behandlung, wie z.B. einer Operation, trotzdem zu Ihnen zurückgekehrt sind?

Dr. Medici: Das Rückfallsrisiko auch nach 5- oder 10jähriger Anfallsfreiheit beträgt immer durchschnittlich 30%. Es ist also damit zu rechnen, dass ich einen Patienten möglicher-weise wieder erneut vorübergehend behandeln muss. Auch nach einer Epilepsie-Operation muss der Patient im Allgemeinen noch rund während 2 Jahren die Mittel in absteigender Dosis einnehmen. Auch hier sind Rückfälle möglich.

Redaktion: Kann man sich ein zweites Mal operieren lassen, falls es beim ersten Mal nicht ge-klappt hat?

Dr. Medici: Grundsätzlich gesehen kann eine zweite Operation durchgeführt werden, es ist dies aber schon sehr selten.

Redaktion: Welche Arten von Epilepsien können nicht operiert werden?

Dr. Medici: Alle Formen der generalisierten Epilepsien, bei welchen von vorneherein beide Hirnhälften am krankhaften Erregungsprozess beteiligt sind, können nicht operiert werden. Für die Operation geeignet, sind nur die soge-nannten fokalen Epilepsienmit einem bestimm-ten Ausgangspunkt der epileptischen Entla-dungen im Gehirn. Wir unterscheiden zwischen einem Sogenannten läsions-chirurgischen Ein-griff, bei welchem z.B. ein Tumor als Ursache der Epilepsie entfernt werden muss. Von einem sogenannten epilepsie-Chirurgischen Eingriff sprechen wir, wenn die operative Entfernung von Hirngewebe im Sinne der sogenannten epileptogenen Fokus vorgenommen wird. Oftmals findet sich bei der letzterwähnten Form der sogenannten Herd im Schläfenlappen und kann dort sehr oft durch hochqualifizierte Spezialteams mit bestem Erfolg operiert werden. Vor dem Eingriff werden aufwendige Ab-klärungen mit Spezial-Elektroencephalo-grammen sowie bildgebenden Verfahren vorge-nommen, um den Herd genau lokalisieren zu können. All diese Untersuchungen können nur in einer Spezialklinik durchgeführt werden.

Redaktion: Ist ein plötzliches Weglassen der Medikamente gefährlich für den Patienten?

Dr. Medici: Ein einmaliges Weglassen oder Vergessen der Medikamente führt meistens nicht gerade zu einem Entzugsanfall. Wenn man merkt, dass man das Mittel vergessen hat, muss man die Tablette im Nachhinein zusätzlich ein-nehmen. Wichtig ist, dass die Gesamtdosis in 24 Stunden beachtet wird. Das mehrfache Weglassen der Medikamente könnte einen lebensgefährlichen sogenannten Status epilepti-cus auslösen. Eine sehr gefährliche kritische Angelegenheit indem der Patient sozusagen von einem Anfall in den andern fällt, wobei auch trotz modernsten Behandlungsmethoden das Todesfallrisiko immernoch bei rund 20% liegt. Das Weglassen der Mittel kann sich also als lebensgefährlich erweisen.

Redaktion: Ist es sinnvoll, die Medika-mente nach 4 oder 5 Stunden noch einzunehmen, wenn sie der Patient vergessen hat?

Dr. Medici: Im Zweifelsfall lieber eine Tablette zuviel als eine zuwenig.

Redaktion: Darf ein Patient mit verschie-denen Medikamenten experi-mentieren, ohne den Arzt zuvor über sein Vorhaben in Kenntnis gesetzt zu haben?

Dr. Medici: Nein. Es gibt heute sehr viele Medikamente, die sich mir Epilepsiemitteln schlecht vertragen. Sobald ein Epilepsiepatient vom Hausarzt zusätzliche Medikamente wie Antibiotika oder Hustenmittel erhält, soll er sich sicherheitshalber mit dem betreuenden Neuro-logen in Verbindung setzen, damit derselbe Rat geben kann, ob sich die Mittel vertragen oder unter Umständen Anfälle oder Überdosierungen der Epilepsiemedikamente auslösen.

Redaktion: Wie sehen Sie die Relation zu Ihren Patienten? Verstehen Sie die Patienten?

Dr. Medici: Der Anfallskranke ist ein gewöhnlicher Mensch wie Sie und ich. Als Mensch und Patient ist der Anfallskranke auch ein Partner des Arztes und muss mit ihm versuchen das Bestmöglichste für die Besserung der Epilepsie zu erzielen.

Redaktion: Gibt es Patienten, die den Eindruck haben, dass sie vom Arzt schlecht verstanden wer-den?

Dr. Medici: Sicher gibt es Patienten, die allerdings meistens wegen Missverständnissen den Eindruck haben, dass sie vom Arzt schlecht verstanden werden. Der Arzt und der Patient müssen unbedingt versuchen eine partnerschaft-liche Vertrauensbasis miteinander zu finden. Wenn die Wellenlänge zwischen Arzt und Patient trotz wiederholten Anläufen nicht in Übereinstimmung gebracht werden kann, ist es ehrlicher und besser, wenn der Arzt selbst dem Patienten vorschlägt bei einem befreundeten Fachspezialisten die Behandlung fortführen zu lassen. Der Patient selbst muss aber auch den Mut haben dies vorzuschlagen. Wir sind ja nicht allwissend und leiden auch darunter,wenn wir gerade beim Epilepsiepatienten ein unbefrie-digendes Ergebnis annehmen müssen.

Redaktion: Was hat Ihnen persönlich die Arbeit mit den Patienten gebracht?

Dr. Medici: Die Betreuung der anfallskranken Mitmenschen und deren Angehörigen ist wohl aufwendig, aber sehr befriedigend und dankbar. Ich bin jeweils überglücklich, wenn ich nach jahrelanger Betreuung sozusagen den Fall abschliessen kann und der Patient nach menschlich-medizinischem Ermessen geheilt ist. Als Neurologe muss ich aber auch bereit sein bescheidene Erfolge zu akzeptieren, da ja wie bereits erwähnt 30% der Epilepsien nur unbefriedigend oder knapp zufriedenstellend behandelt werden können. Gerade in diesen Situationen ist das Vertrauensverhältnis zwischen Arzt und Patient sehr wichtig. Ich bewundere meine tapferen und lieben Patienten, welche trotz immer wieder auftretenden Anfällen gelernt haben glücklich zu sein und mit dem Leiden umzugehen. Aus dieser Einstellung heraus lerne auch ich mit Misserfolgen um-zugehen und trotzdem die Hoffnung nicht zu verlieren, dass vielleicht doch einmal ein besseres Behandlungsergebnis erzielt werden kann.

 

Redaktion: Herr Medici, ich danken Ihnen recht herzlich für das Gespräch.

 

 

Benjamin Feuerle

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