United People; Manifest für eine neue Weltordnung
von
George Monbiot
übersetzt von Elisabeth Liebl, erschienen im Riemann Verlag. 300 Seiten 21 Euro.
Originaltitel: The Age of Consent Originalverlag: HarperCollins
ISBN: 3-570-50046-2
Erscheinungstermin: August 2003

George muss man UNBEDINGT HOEREN! www.tucradio.org MP3

Rezension:  http://www.dradio.de/dlf/sendungen/politischeliteratur/220228/
http://www.randomhouse.de/book/edition.jsp?edi=118703

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KAPITEL 6  Der Ausgleich - Die Organisation für Fairen Handel

KAPITEL 5

Das Maß ist voll -Die Internationale Clearing-Union

WIE ERFOLGREICH WIR bei der globalen Demokratisierung auch sein mögen, die Notwendigkeit von Regelungsmechanismen für den Umgang der Staaten untereinander wird erst dann nicht mehr bestehen, wenn die Nationalstaaten aufhören zu existieren. Leben sie weiter, so werden auch ihre Institutionen weiter bestehen und - unter anderem - die globale Verteilung des Wohlstands kontrollieren. Wohlstand bzw. Armut der Menschen sind dann nach wie vor eine Frage der Stärke bzw. Schwäche der nationalen Wirtschaft. Diese wiederum wird beeinflusst von den Wirtschaftsbeziehungen der Staaten untereinander.

Diese Beziehungen gründeten während der letzten 500 Jahre auf dem Prinzip der Ausbeutung. Die Länder, die aufgrund verschiedener historischer Ereignisse als Erste das internationale Netz woben, das den funktioneilen Rahmen für das heutige Handelssystem stellt, wussten es mit so viel Kalkül zu gestalten, dass der Reichtum stets weg von ihren schwächeren Handelspartnern hin ins eigene Land floss. Diese Struktur überlebte nahezu unverändert den Übergang von formloser zwischenstaatlicher Einflussnahme hin zum offenen Kolonialismus und den erneuten Wechsel vom Kolonialismus zurück zur formlosen Einflussnahme (einem Zustand, den man heute generell als Unabhängigkeit zu bezeichnen geruht).

Zwei Punkte sind besonders wichtig, wenn wir verstehen wollen, weshalb einige Länder arm bleiben, während andere reich werden. Da sind zunächst einmal die Bedingungen, unter denen die Staaten untereinander Handel treiben, vor allem die Regeln für den Austausch von Gütern und Zahlungsmitteln sowie die Bewertung der Ressourcen. Darum und um die Möglichkeiten, diese Bedingungen zu verbessern, wird es in Kapitel 6 gehen. Der zweite Punkt sind die Handelsbilanzen, mit denen wir uns in diesem Kapitel beschäftigen werden.

Nur den wenigsten Menschen ist bekannt, dass ein Großteil der Schulden der armen Länder auf das Konto ungleicher Handelsbedingungen geht. Wenn ein Staat bestimmte Waren aus dem Ausland einfuhren möchte (zum Beispiel Arzneimittel, Computer oder Getreide) und nicht über entsprechende Devisen verfugt, um diese Güter zu bezahlen, muss er im Ausland Kredit aufnehmen. So entstehen Auslandsschulden, die der Staat nur dann wieder begleichen kann, wenn er Devisen einnimmt. Zu diesem Zweck versucht er, seine eigenen Güter auf dem Weltmarkt zu verkaufen. Erzielt er aus seinen Exporten auf Dauer weniger Devisen, als er für seine Importe auszugeben gezwungen ist, wächst der Schuldenberg langsam an.*

* Ein Land, das weniger Devisen einnimmt (exportiert), als es ausgibt (importiert), schafft ein Handelsbilanzdefizit. Ein Land, das mehr Devisen einnimmt, als es ausgibt, hat einen Handelsbilanzüberschuss. Da die Weltwirtschaft ein geschlossenes System ist (wir treiben ja nicht mit anderen Planeten Handel), muss die Summe der Handelsbilanzüberschüssc immer gleich der Summe der Handelsbilanzdefizite sein.
Je mehr Schulden das Land anhäuft, desto mehr Devisen muss es einnehmen, um allein die Zinsen zu bezahlen. Kann es also seinen Export nicht steigern, muss es mehr Geld aus-leihen, wodurch die Schulden weiter wachsen. Je mehr Kapital das Land aber für den Schuldendienst aufzuwenden hat, desto weniger bleibt ihm übrig, um es in die Wirtschaft seines Landes zu investieren und so die Exporte zu steigern. Das ist die einfache Mechanik hinter dem Teufelskreis, aus dem die meisten armen Ländern heute nicht mehr herausfinden.

Die beiden internationalen Institutionen, die den sich entwickelnden Wirtschaften helfen sollen, Schulden zu vermeiden bzw. abzubauen, sind der Internationale Währungsfonds (IWF) und die Weltbank. Dass beide bei dieser Aufgabe versagt haben, ist ein offenes Geheimnis. Sogar nach dem berühmten Schuldenerlass des Jahres 2000 liegen in einigen armen Ländern die Aufwendungen für Zinszahlungen immer noch über den Bildungsausgaben.*

* Den aktuellen Rekord hält Sierra Leone. Das Und gibt 6,7-mal mehr für den Schuldendienst aus als für primäre Bildungsausgaben. Das Resultat ist, dass dort nur 24 Prozent der Kinder zur Schule gehen. Die Zinszahlungen nehmen in Sierra Leone fast 90 Prozent der staatlichen Einkünfte in Anspruch. xx64
Tatsächlich waren die meisten Länder nach der Intervention der genannten Einrichtungen höher verschuldet als vorher. Zweifellos haben einige nationale Regierungen durch Korruption und Misswirtschaft den Schuldenberg zusätzlich vergrößert, doch fest steht, dass jene Länder, die exakt die Vorgaben von IWF und Weltbank befolgen, nicht weniger verschuldet sind als die Länder, die von den beiden Organisationen als »unzuverlässig« eingestuft wurden. Nachweislich haben die Länder, welche die Vorgaben am genaues-ten befolgten, die schlimmsten Wirtschaftskrisen erlitten.

Ebenso wie die Siegermächte des Zweiten Weltkriegs das internationale Sicherheitssystem so gestalteten, dass es den eigenen Zwecken am besten diente, strukturierten auch die Gewinner des zeitgleich stattfindenden Handelskrieges das internationale Bankensystem so, dass erstens sein Bestand in der gewünschten Form gesichert war und dass es zweitens seinen Machtbereich ständig erweitern konnte. Je höher ein Land verschuldet ist, desto schutzloser ist es den Zwängen dieses Systems preisgegeben. Der Schuldenberg macht das Land also nicht nur wirtschaftlich handlungsunfähig, sondern auch politisch.

Wie dieses Kapitel zeigen wird, sind sowohl der IWF als auch die Weltbank letztlich nicht reformierbar und daher zum Scheitern verurteilt. Dass dies einmal der Fall sein würde, haben die führenden Ökonomen der Welt bereits bei Gründung der beiden Einrichtungen vorhergesagt. Zudem gab es schon vor der Gründung von IWF und Weltbank fertige Pläne für ein System, das weit besser funktioniert hätte und zudem gerechter gewesen wäre. Nur extremer politischer Druck konnte seine Einführung verhindern. Stattdessen sehen wir uns nun mit diesen beiden internationalen Institutionen konfrontiert. Es existiert also bereits ein taugliches Instrument zum Ausgleich der Handelsbilanzen und zum dauerhaften Schuldenabbau -zumindest auf dem Papier. Und wie ich zeigen werde, halten wir etwas noch weit Wertvolleres in Händen: die Waffe, mit der wir das gegenwärtige System abschaffen und das ursprünglich vorgesehene einfuhren können. Meiner Ansicht nach macht uns diese Waffe unbesiegbar. Sobald wir gelernt haben, sie einzusetzen, wird keine Regierung der Welt uns mehr Widerstand leisten können.

Sein Buch war von so gewaltiger Durchschlagskraft, dass ich der Meinung bin, man kann das Bild der Globalisierungskritiker in der Öffentlichkeit in eine Zeit »vor und nach Stiglitz« einteilen. Bevor der Nobelpreisträger Joseph Stiglitz, einst Chefökonom der Weltbank und Leiter des wirtschaftlichen Beraterstabes des US-Präsidenten, ein Buch darüber schrieb, was er während der Amtszeit hinter den Kulissen der Weltbank erlebt hatte, xx64 wurde die Kritik der Globalisierungsgegner regelmäßig von den Wirtschaftsweisen und Politikern der reichen Welt als Unsinn abgetan. Nach Stiglitz sahen sich sogar einige der Fundamentalisten des freien Marktes gezwungen, die grundlegende Richtigkeit unserer Thesen einzugestehen.

Ziel des Internationalen Währungsfonds ist es, die Stabilität der Weltwirtschaft sicherzustellen. Zu diesem Zweck soll er Ländern Unterstützung gewähren, die in Zahlungsschwierigkeiten geraten sind, Wechselkurse festlegen und in diesen Ländern Wirtschaftswachstum, Beschäftigung und das Einkommen der Beschäftigten fördern. Auf diese Weise würden, so hofften die Gründer des IWF, die ökonomischen Schwierigkeiten eines Staates nicht auf die anderen Länder übergreifen und so zu einer weltweiten Wirtschaftskrise führen. Man wollte verhindern, dass ähnliche Bedingungen, wie sie vor dem Zweiten Weltkrieg herrschten, noch einmal eintraten. Stiglitz zeigte, dass der IWF in den vergangenen Jahren genau das Gegenteil getan hatte. Indem er eine Politik verfolgte, die den Privatbanken der reichen Welt und deren Finanzakteuren dienlich war, brachte er Wechselkurse zum Abstürzen, verschärfte die Handelsbilanzprobleme der betroffenen Staaten, zwang Länder in die Schuldenfalle bzw. in die Rezession und vernichtete Arbeitsplätze und Einkommen von Millionen Arbeitnehmern.

Die Programme des IWF, bewies Stiglitz, vertreten »die Interessen und die Ideologie derwestlichen Finanzwelt«.xx65 Diese werden den schwächeren Nationen einfach aufgedrängt ohne Beachtung der tatsächlichen Erfordernisse und Gegebenheiten. Jedes Land, das der IWF berät, muss die Kontrolle der Inflation über alle anderen wirtschaftlichen Ziele stellen Es hat sofort sämtliche Schranken für den Handel und den Kapitalfluss abzubauen und sein Bankensystem zu liberalisieren. Darüber hinaus werden die Staatsausgaben beschränkt, so-dass mehr Geld in den Schuldendienst fließen kann, und viele staatliche Dienste privatisiert, damit man diese Firmen an ausländische Kapitalgeber verkaufen kann. Dies sind ebenjene Maßnahmen, die den Spekulanten der reichen Welt am meisten nützen. »In gewisser Hinsicht«, schreibt Stiglitz, »macht erst der IWF die Devisenspekulation zu einem lukrativen Geschäft.« Die schwächeren Nationen, die sehr wohl wissen, dass der IWF nicht nur von ihm vergebene Kredite kürzen kann, sondern auch Privatbanken empfiehlt, ein Gleiches zu tun, wagen nicht, »offen zu widersprechen«. Und weiter: »Indem der IWF die Bedingungen der Vereinbarungen diktiert, unterdrückt er jede Diskussion mit den Regierungen eines Klientenlandes - ganz zu schweigen von der breiten Öffentlichkeit - über alternative wirtschaftspolitische Strategien... Der Arbeits- und Entscheidungsstil des IWF schließt die Bürger ... nicht nur aus den Beratungen über ein Abkommen aus, sondern die Bürger erfahren nicht einmal den Inhalt der Abkommen.« xx66

In den achtziger Jahren destabilisierte der IWF einige der erfolgreichsten Volkswirtschaften der Entwicklungsländer. Thailand, Südkorea, die Philippinen und Indonesien sowie andere Länder Südostasiens fingen an, reich zu werden, indem sie eben das taten, wovon der IWF ihnen abgeraten hatte. Sie hatten massiv in den Bildungssektor investiert und bestimmte Industriezweige durch Subventionen gefördert. Sie hatten die Schutzmaßnahmen beibehalten, die ihren Unternehmen erlaubten, erst eine gewisse kritische Stärke zu erreichen, bevor sie sich dem Wettbewerb mit größeren Firmen aus dem Ausland öffneten. Und sie hatten die Kontrolle über den Fluss von ausländischem Spekulativkapital in und aus dem Land in der Hand behalten. All diese Volkswirtschaften hatten enorme Wachstumsraten zu verzeichnen, was in Ländern wie Thailand oder Südkorea effektiv zur Armutsbekämpfung beitrug.

Dem IWF gelang es, zusammen mit dem US-Finanzministerium und den Bankern der Wall Street, diese Nationen zu zwingen, ihre Märkte für fremdes Kapital zu öffnen. Dabei war einmal mehr die Mechanik der sich selbst erfüllenden Prophezeiung am Werk: Eine Warnung an die Finanzmärkte, dass diese Länder die vom IWF festgelegten Kriterien nicht einhielten und ihre Wirtschaft daher Probleme bekommen würde, sorgte für schnelles Einlenken. »Doch obgleich die ostasiatischen Länder angesichts ihrer hohen Sparquote kein zusätzliches Kapital brauchten, wurden sie Ende der achtziger, Anfang der neunziger Jahre zu einer Liberalisierung des Kapitalverkehrs gedrängt. Meines Erachtens war die Liberalisierung des Kapitalverkehrs der wichtigste Einzelfaktor, der zu der Krise führte... Gerügt wird nicht bloß, dass er auf wirtschaftspolitische Maßnahmen drängte, die die Krise herbeiführten, sondern dass er dies tat, obgleich es kaum empirische Belege dafür gab, dass diese Maßnahmen das Wachstum ankurbeln würden, und obwohl eine Menge dafür sprach, dass sie den Entwicklungsländern enorme Risiken auferlegten.« xx67

Das Ergebnis war von vielen Menschen in den betroffenen


Seite 160 bis Seite 169 fehlen


wirtschaftliche (und damit ebenso die politische) Dominanz der Vereinigten Staaten unangefochten bleibt.

In den letzten sechzig Jahren gab es Unmengen von Reformvorschlägen, um den Schaden zu begrenzen, den diese beiden Organisationen in konzertierter Aktion regelmäßig anrichten. Man wollte die Stimmen gerechter verteilen und die Satzungen verbessern. Doch das hat in etwa so viel Aussicht auf Erfolg, als würden wir die Umlaufbahn der Erde verändern wollen. Denn diese Vorschläge übersehen mit heiterer Gelassenheit, die mitunter schon an Absicht gemahnt, immer ein bestimmtes Faktum: Das Vetorecht der USA erstreckt sich ebenfalls auf Satzungsänderungen. Nichts und niemand kann die Satzung von IWF und Weltbank ohne die Zustimmung der Vereinigten Staaten ändern. IWF und Weltbank stehen genauso unter der strengen Kontrolle Amerikas wie der Weltsicherheitsrat.

Doch auch wenn die Nationen, die in diesen Organisationen das Sagen haben, in gutem Glauben handelten, wären sie doch nicht in der Lage, das Leben des armen Teils der Weltbevölkerung zu verbessern. IWF und Weltbank sind aufgrund ihrer Satzung zum Scheitern verurteilt, da sie die Last, die internationalen Handelsbilanzen im Gleichgewicht zu halten, ausgerechnet jenen aufbürden, die am wenigsten dazu beitragen können, nämlich den Schuldnernationen. Diese Länder müssen ihre Schulden »abarbeiten«, indem sie mehr exportieren als importieren, doch mit ihren schwachen Währungen, ihrer mangelhaften Infrastruktur, dem schlecht entwickelten öffentlichen Sektor und dem chronischen Mangel an Investitionskapital wird ihnen das kaum gelingen. So richtet sich die von den reichen Industrienationen kontrollierte Weltwirtschaft gegen die armen Länder. Daher haben diejenigen welche Weltbank und IWF lenken, es längst aufgegeben, gebetsmühlenartig zu wiederholen, dass sie den armen Ländern helfen, ihre Schulden abzubauen. Heute heißt es nur noch es werde Hilfe zum Schuldendienst geleistet. Und auch diese Hilfe besteht lediglich darin, dass man ihre Ressourcen abbaut und in die Industrieländer abtransportiert. IWF und Weltbank sind die Gerichtsvollzieher der Weltwirtschaft, die auf globaler Ebene dasselbe tun wie jene Leute, die Ihnen Ihren Fernsehapparat wegnehmen, wenn Sie die Raten nicht bezahlen können.

Und natürlich haben diese Institutionen keinerlei Anreiz, ihre Politik zu ändern. Wie sagte doch der Weltbank-Delegierte Steen Jorgensen bei einem Treffen von Nichtregierungsor-ganisationen auf dem Weltbankgipfel in Prag: »Wenn wir alle Schulden erlassen, gibt es keine Weltbank mehr. Die Weltbank bezahlt aber mein Gehalt.«xx85

Es besteht keine Aussicht, dass die verarmten Nationen der Welt ihre Schulden je werden begleichen können. Der Schuldenberg beläuft sich mittlerweile auf 2,5 Billionen Dollar. Die wichtigsten Gläubiger sind kommerzielle Banken, die Weltbank und der IWF. Zwischen 1980 und 1996 bezahlten die Länder des subsaharischen Afrika das Zweifache ihrer ursprünglichen Schuld nur als Zinszahlung. Trotzdem hatten sie im Jahr 1996 dreimal so viel Schulden wie 1980.xx86 Die Kreditvergabepolitik der Weltbank, die eigentlich darauf ausgerichtet war, einzelnen Staaten aus der Schuldenfalle zu helfen, ist mittlerweile selbst zur Ursache der Verschuldung geworden, weil sie ihr Geld in Projekte steckt, die sich per se niemals selbst finanzieren, geschweige denn mehr Einkommen schaffen können. Sogar jene verschuldeten Länder, die über mehrere Jahre hinweg einen Handelsüberschuss erwirtschaften konnten, mussten feststellen, dass dieses Geld kaum ausreichte, um die Zinszahlungen zu leisten. Von einer Tilgung konnte keine Rede sein.*

*Von Tilgung spricht man, wenn die ursprüngliche Schuld abbezahlt wird.
Wie die Regierungen der reichen Länder mittlerweile zu begreifen gewillt scheinen, sind diese Lasten unbezahlbar geworden.

Die Aufhäufung des Schuldenbergs war begleitet von einem massiven Transfer natürlicher Ressourcen von der armen in die reiche Welt. Würde man diese Ressourcen mit ihrem wahren Wert anrechnen, wären die armen Länder ganz sicher die Gläubiger und wir die Schuldner. Der Führer der amerikanischen Ureinwohner Guaicaipuro Cuautemoc meint, dass zwischen 1503 und 1660 insgesamt 185000 Kilogramm Gold und 16 Millionen Kilogramm Silber von Lateinamerika nach Europa gebracht wurden. Cuautemoc schlägt vor, man solle diesen widerrechtlichen Transfer nicht als Kriegsverbrechen betrachten, sondern als »das erste mehrerer freiwilliger Entwicklungshilfedarlehen an Europa«. Würde die indigene Bevölkerung Lateinamerikas nur 10 Prozent Zinsen auf dieses Darlehen nehmen, schuldeten die Europäer ihnen Gold- und Silber-rückzahlungen, die mehr wögen als unser ganzer Planet.xx87

Dass die kolonisierte Welt, deren Reichtümer wir über 500 Jahre lang schamlos ausgebeutet haben, nun der reichen Welt Geld schulden soll, und zwar so viel, dass jedes Jahr 382 Milliarden Dollar für den Schuldendienst aufgewendet werden müssen,xx88 ist eine Obszönität, die jeden entwürdigt, der davon profitiert. Mit diesem Geld könnten Hungrige ernährt, Obdachlose untergebracht, Gesundheitsvorsorge, Bildung, sauberes Wasser, öffentliche Verkehrsmittel und Renten für all jene bezahlt werden, die auf diese Annehmlichkeiten bislang verzichten müssen. Und diese perverse Situation wird von ebenjenen Institutionen aufrechterhalten, die ins Leben gerufen wurden, um ihr ein Ende zu setzen.

Während ich für dieses Buch recherchierte, fiel mir vor allem eines auf: die nahezu vollständige Abwesenheit eines Geschichtsbewusstseins in beiden Lagern. Nur wenige ihrer Kritiker und ebenso wenige ihrer Angestellten wissen, wie es zur Gründung der meisten internationalen Institutionen kam bzw. weshalb ihre Strukturen in der gegenwärtigen Form geschaffen wurden. Aus diesem Grund mangelt es der Diskussion auch an Visionen von Alternativen.

Das beste Beispiel dafür ist die weit verbreitete Unwissenheit über die Ursprünge von Weltbank und IWF. Fast jeder scheint anzunehmen, dass der brillante Ökonom John Maynard Keynes dafür verantwortlich zeichnet. Der Journalist John Lloyd beispielsweise schreibt in seinem Pamphlet gegen die Globalisierungskritiker, Keynes sei »der wichtigste Theoretiker bei der Schaffung der internationalen Institutionen« gewesen, womit er IWF und Weltbank meint.xx89 Sogar der große Joseph Stiglitz bezeichnet Keynes als den »geistigen Paten des IWF« und meint, dass er sich im Grab umdrehen würde, wenn er heute sähe, was aus seiner Schöpfung geworden ist. Doch Lord Keynes würde sich vor allem deshalb im Grab umdrehen, weil er so gründlich missverstanden wird und wurde.xx90

Die Vereinbarung, die zur Gründung von IWF und Weltbank führte, wurde 1944 in einem Hotel neben einem verlassenen Bahnhof in Bretton Woods, einem kleinen Ort in New Hampshire, USA, getroffen. Das Abkommen von Bretton Woods wird häufig als die von den reichen Ländern ersonnene Lösung für die Probleme der armen Nationen betrachtet. In Wirklichkeit ging es um den Wiederaufbau Europas nach dem Krieg. Und die Schuldnernation, die am meisten Probleme mit der Zahlungsbilanz hatte, war nicht Mosambik oder Tansania oder Indonesien (alle zusammen europäische Kolonien), sondern Großbritannien.

Die Konferenz von Bretton Woods war im Wesentlichen eine Schlacht zwischen zwei bemerkenswerten Männern. Einer von ihnen war Harry Dexter White, der Verhandlungsfiihrer der US-Delegierten, ein kluger Stratege und äußerst geschickter Unterhändler, der einen wesentlichen Einfluss auf die Vorstellungen des US-Finanzministeriums hatte. Der andere war der Kopf der britischen Delegation, John Maynard Keynes, der auf der ganzen Welt als größter Ökonom seiner Zeit galt. Damals wie heute waren die USA die dominierende Wirtschaftsmacht. Großbritannien war aufgrund des Krieges hoch verschuldet, hatte aber dieses ökonomische Genie auf seiner Seite, das den Auftrag hatte, die Wirtschaft seines Landes zu retten. Was John Maynard Keynes vorschlug, wäre heute noch geeignet, die mittlerweile weit gravierenderen Probleme der armen Länder zu beseitigen, auch wenn wir dies bisher nicht erkannt haben.

Keynes wusste, dass die Schuldnernationen wenig tun konnten, um ihre Handelsbilanz auszugleichen. Sie konnten ihre Währungen abwerten in der Hoffnung, damit die Exporte anzukurbeln. Doch das würde letztlich nur dazu führen, dass die Exporte zwar an Zahl zunähmen, ihr Wert jedoch gleichzeitig fiele. Dieses Problem zog, wie Keynes bemerkte, zwei andere nach sich. Zum einen musste eine hoch verschuldete Nation einen großen Teil des erwirtschafteten Geldes für den Schuldendienst ausgeben. Es ist also weniger Kapital im Umlauf das man in neue Unternehmen investieren könnte. Daher können auch keine neuen Exporte getätigt werden, was wiederum zur Folge hat, dass das Handelsdefizit umso stärker anwächst, je höher der Schuldenberg wird. Zum anderen verlässt das Kapital, das von den Spekulanten rund um die Welt investiert wird, gewöhnlich Länder in finanziellen Schwierigkeiten und strömt in solche, die sich eines gesunden Wirtschaftswachstums erfreuen. Damit aber bleiben den verschuldeten Nationen noch weniger Investitionsmittel. Es können noch weniger Waren für den Export hergestellt werden, und das Kapital strömt weiter in die Gläubiger nationen. Damit aber werden die wirtschaftlichen Positionen beider Seiten mehr oder weniger »eingefroren«: Die Schuldner werden immer ärmer, ihr Schuldenberg wächst. Die Gläubigernationen hingegen sammeln immer mehr vom weltweiten Reichtum an.

Keynes kam zu dem nahe liegenden Schluss, dass die Handelsbeziehungen zwischen zwei Ländern nur dann verändert werden können, wenn beide - Schuldner und Gläubiger - gezwungen sind, in dieser Richtung tätig zu werden. Und so kam er auf die geniale Idee, dass die Gläubigernationen das Geld, das sie übrig hatten, in den Wirtschaftskreislauf der Schuldnernationen zurückführen sollten.

Er schlug vor, eine globale Bank zu gründen, die er »International Clearing Union« (Organisation für internationalen Zahlungsbilanzausgleich) nannte. Diese Bank würde eine eigene Währung herausgeben, den Bancor. Der Bancor, der durch feste Wechselkurse an die Landeswährungen gebunden ist, sollte die Verrechnungseinheit für den Ausgleich der Zahlungsbilanzen zwischen den Ländern sein. Er sollte eingesetzt werden, um das Handelsdefizit bzw. den Handelsüberschuss eines Landes zu bemessen.*

* An dieser Stelle möchte ich Michael Rowbotham danken, dessen Buch Goodbye America! Globalisation, Debt and the Dollar Empirexx91 mich überhaupt erst auf diese Idee brachte.
Jedes Land darf sein Bancor-Konto bei der Internationalen Clearing-Union um die Hälfte des Durchschnittsbetrages aus seinem Außenhandelsvolumen der letzten fünf Jahre überziehen. Da alle Defizite und Überschüsse im weltweiten Handel sich logischerweise gegenseitig ausgleichen müssen, muss den Überziehungen ein entsprechender Überschuss gegenüberstehen.

Und alle Mitglieder der Union hätten einen starken Anreiz, am Ende des Jahres ihr Bancor-Konto auszugleichen, es also auf null zu bringen. Das aber würde bedeuten, dass sich weder Defizit noch Überschuss ansammeln. Dieser Anreiz ist ein ganz simpler Trick. Jede Zentralbank, die mehr als die Hälfte ihres Überziehungskredits nutzt (die also ein zu großes Handelsdefizit zuließ), soll darauf Zinsen zahlen. Der Prozentsatz steigt mit der Höhe der Überziehung an. Außerdem soll sie ihre Währung um bis zu 5 Prozent abwerten (und dadurch ihre Exporte verbilligen) und den Abfluss von Kapital verhindern. Dies sind die konventionellen Mittel, mit denen man drohender Überschuldung begegnet.

Doch - und dies war Keynes' geniale Idee - auch die Nationen mit einem Handelsüberschuss sollen sich bestimmten Maßnahmen zum Ausgleich der Zahlungsbilanz unterwerfen. jede Nation, die auf ihrem Bancor-Konto mehr als die Hälfte der Verrechnungseinheiten ansammelt, die ihr zur Überziehung gewährt werden, soll darauf 10 Prozent Zinsen bezahlen.*

* Der korrekte Begriff für diese Art »negativer Zinsen« ist »Demurrage«.
Außerdem soll ein solches Land aufwerten und den Abfluss von Kapital ermutigen. Übersteigt am Ende des Jahres das Plus auf dem Bancor-Konto die Gesamtsumme der zugestandenen Überziehungseinheiten, wird das Geld konfisziert. Die Zinszahlungen und konfiszierten Handelsüberschüsse würden am Ende in den Reservefonds der Clearing-Union eingezahlt.»xx92

Diese Vorschriften würden die Art, in der Nationen mit einem Handelsüberschuss operieren, künftig entscheidend beeinflussen. Zum einen würden ihre Exporte weniger nachgefragt, weil ihre Währung aufwerten müsste, sobald der Handelsbilanzüberschuss ein bestimmtes Niveau erreicht hat. Und das Kapital hätte nicht mehr die Möglichkeit, vermehrt in Länder mit Exportüberschüssen zu fließen. Am wichtigsten aber wäre, dass solche Nationen versuchen müssten, ihre Überschüsse mit einer Haushaltspolitik auszugleichen, welche die Bürger und Unternehmen dazu anregt, mehr zu importieren. Auch die Regierungen selbst könnten den Überschuss auf ihrem Bancor-Konto dazu benutzen, Güter aus jenen Ländern zu erwerben, die mit einem Handelsbilanzdefizit zu kämpfen haben. Auf diese Weise flösse das angesammelte Kapital in die ärmeren Länder zurück.

Keynes hatte also ein System entworfen, das den Teufelskreis erst gar nicht aktiviert hätte. Sowohl Defizit- als auch Überschussländer müssten am Jahresende für einen Ausgleich ihrer Konten sorgen. Dann würden kurzfristige Schulden sich nicht in langfristige verwandeln, kleine Summen nicht in große. Guthaben und Kredite würden am Ende jedes Jahres auf ein erträgliches Maß begrenzt. Damit könnten die mächtigen Wirtschaftsnationen nicht weiterhin ökonomische und politische Macht anhäufen, und die aktuelle Schwäche der Defizitländer würde sie nicht in dauerhafte Abhängigkeit treiben.

Keynes hatte schon 1931 begonnen, über ein solches Gefüge nachzudenken, doch erst 1941 hatte er es zu einem funktionierenden System entwickelt. Während er 1942 und 1943 noch weiter an seiner Verbesserung arbeitete, brachte er sein Vorhaben in verschiedenen Thesenpapieren in Umlauf, was eine mittlere Sensation verursachte. Der britische Wirtschaftswissenschaftler Lionel Robbins erinnert sich: »Man kann den Schockeffekt, den Keynes' Arbeitspapiere auf das Denken des gesamten Regierungsapparats ausübten, schwerlich übertreiben ... Noch nie war ein so einfallsreiches und ehrgeiziges Projekt als Politik einer verantwortungsvollen Regierung formuliert worden... Es war für uns wie ein HofFnungsbanner, die Inspiration unseres grauen Kriegsalltags.«xx93

Die europäischen Verbündeten Großbritanniens waren begeistert. Wirtschaftswissenschaftler in allen Ländern erkannten, dass Keynes das Problem an der Wurzel gepackt hatte. Er hatte - zum ersten Mal in der Geschichte der Menschheit - ein System erdacht, das den Wohlstand aller forderte, gleichzeitig jedoch die Macht einzelner Länder begrenzte. Damitaber würden nicht nur die Handelsbilanzen ausgeglichen. Mindestens ebenso bedeutsam wäre sein Beitrag zur Aufrechterhaltung des Friedens und zur gleichmäßigen Verteilung der Macht ausgefallen. Als die Alliierten sich auf die Konferenz in Bretton Woods vorbereiteten, übernahm Großbritannien Keynes' Idee als offizielle Regierungsstrategie. Keynes wurde zum Leiter der britischen Delegation ernannt.

Doch es gab eine Nation, in der der keynesianische Vorschlag auf weniger Begeisterung stieß. Die Vereinigten Staaten waren damals der größte Kreditgeber der ganzen Welt und wünschten natürlich, dass dies so bleiben sollte. Der Krieg hatte die Exportmaschinerie in den USA auf Hochtouren gebracht, deshalb machten die Amerikaner sich Sorgen, dass ihr Land ohne aggressive Handelspolitik in die Rezession abgleiten würde. Daher schloss Harry Dexter White jedes System, das die Überschussnationen zwingen sollte, ihr Verhältnis zu den Defizitstaaten zu verändern, von vornherein aus. »In dieser Hinsicht machten wir unseren Standpunkt unmissver-ständlich deutlich. Es war ein klares Nein.«xx94 Doch auch die anderen Nationen ließen keinen Zweifel daran, wo ihre Interessen lagen. Keynes notierte damals, dass die europäischen Verbündeten, Südamerika und der britische Commonwealth »stark an der Einführung der Clearing-Union interessiert sind. Andererseits haben viele der Betroffenen Angst, sich gegen die USA zu stellen, seit sie erkannt haben, dass die Amerikaner ganz bestimmte - sagen wir mal - >Erwartungen< hegen.«xx95 Und auch die Beziehung der Briten zu den Amerikanern war damals nicht gerade von Gleichheit geprägt. Großbritannien war von der weitaus größeren Wirtschaftsnation abhängig, weil es Hilfe brauchte, um die nötigen Ressourcen für den Krieg aufbringen zu können. Bereits im Sommer 1943 war klar, dass Keynes' Lösung sich nicht durchsetzen würde.

Harry Dexter White hatte nämlich einen Alternativplan vorgelegt. Er schlug die Schaffung eines Internationalen Stabilisierungsfonds und einer Internationalen Bank für Wiederaufbau und Entwicklung vor. Der Fonds sollte für gleich bleibende Wechselkurse sorgen, Devisenverkehrsbeschränkungen abbauen und den Defizitländern Geld leihen. Die Bank hingegen würde das nötige Kapital zur Verfügung stellen, das die Alliierten nach dem Krieg zum Wiederaufbau brauchten.

Der von Harry Dexter White ersonnene Fonds lud die ganze Last des Ausgleichs der Zahlungsbilanz den Defizitländern auf. Je mehr Geld sie sich vom Internationalen Stabilisierungsfonds ausliehen, desto höhere Zinssätze hatten sie zu bezahlen. Für die Ansammlung von Zahlungsbilanzüberschüssen bei den erfolgreichen Exportnationen gab es keinerlei Begrenzung. Der Internationale Stabilisierungsfonds war die Blaupause des Internationalen Währungsfonds. Die Internationale Bank für Wiederaufbau und Entwicklung (IBRD) ist heute noch der Hauptkreditgeber innerhalb der vier zur Weltbank gehörigen Gruppierungen.

White bestand außerdem darauf, dass der Stimmenanteil nach Einlagenhöhe vergeben werden sollte - mit dem Ergebnis, dass jede bei der Konferenz anwesende Nation darum bat, höhere Einlagen in IWF und Weltbank erbringen zu dürfen.xx96 Doch Whites Team hatte hier schon eine fertige Lösung parat: »Die USA«, entschied er, »würden so viele Stimmen haben, dass sie damit jede Entscheidung blockieren könnten.«xx97

Harry Dexter White verlangte, dass die Staaten ihre Schulden in Gold oder (zu einem festgelegten Preis von 35 Dollar pro Unze) in Dollar als Reserve hielten. Außerdem wurden die Wechselkurse aller anderen Währungen gegenüber dem Dollar fixiert. Dies stabilisierte die Stellung des Dollars als internationale Leitwährung für den Güteraustausch zwischen Staaten, und zwar nicht zuletzt, weil die Amerikaner die Vereinbarung 27 Jahre später brachen und den Umtausch von Gold in Dollar nicht mehr weiter garantierten. Obwohl die anderen Nationen dagegen heftigen Einsprach erhoben, entschied White, dass beide Organisationen ihren Sitz in Washington haben würden.

Keynes wusste, dass sein Vorschlag auf dieser Konferenz nicht zum Tragen kommen würde. Daher versuchte er zu retten, was noch zu retten war, und bemühte sich um eine Abänderung der amerikanischen Pläne. Er schaffte es, zum Leiter der Konferenz gewählt zu werden. Aus diesem Grund wird er vermutlich so häufig und so fälschlich mit der Schaffung von IWF und Weltbank in Verbindung gebracht. Die Aufzeichnungen der amerikanischen Delegation aber zeigen deutlich, dass die Vereinigten Staaten damals über eine überwältigende Machtfülle verfügten und dass sie, indem sie die Regeln der Konferenz festlegten, auch dafür sorgten, dass ihre Vorschläge nahezu unverändert angenommen wurden. Der Historiker Armand van Dormael untersuchte die Protokolle der konzeptuellen Treffen der US-Delegation. Er fand heraus, dass die amerikanischen Teilnehmer den Ablauf der Konferenz genau geplant hatten. Jeder, so hieß es, könne »reden, solange er will, vorausgesetzt, er sagt nichts Wichtiges. Die Entscheidungen des Komitees sind streng von den Debatten zu trennen.«xx98 Außerdem hatten sie sich vorgenommen, »wirklich so zu tun, als würden sie sich mit den Alternatiworschlägen auseinander setzen«.xx99 White selbst brüstete sich, er habe seine Position so zusammengefasst, dass sie sich las, als wolle er genau das Gegenteil erreichen. Kurz gesagt: Die Amerikaner spielten gekonnt auf der diplomatischen Klaviatur der Ausflüchte und Umwege. Die anderen Nationen konnten ihrerseits ja nicht mit demselben Instrumentarium dagegenhalten.

Keynes wehrte sich bis zum Schluss gegen bestimmte Punkte in Whites Plan und beharrte auf seinem Standpunkt, dass es früher oder später einmal einen Mechanismus geben müsse, um Exporte und Importe auszugleichen. Er holte für Großbritannien ein paar zeitlich befristete Sonderrechte heraus, so zum Beispiel das Recht auf Maßnahmen gegen Devisenspekulation. Doch am Ende unterzeichnete er das Abkommen, das seiner Ansicht nach die angesprochenen Probleme nicht lösen konnte, weil er meinte, ein unzulänglicher Kegelungsmechanismus sei immer noch besser als gar keiner. Sein Biograph Robert Skidelsky halt fest: »Keynes' Name wird zwar für immer mit dem Bretton-Woods-Abkommen verbunden werden, mit dessen Inhalt aber hatte er wenig zu tun. Die Vereinbarung spiegelte ausschließlich die Vorstellungen des amerikanischen, nicht des britischen Finanzministeriums wider. Es geht auf White zurück, nicht auf Keynes. Der britische Beitrag beschränkte sich schließlich darauf, ein paar Ausnahmen, Terminverschiebungen und Abschwächungen ausgehandelt zu haben.«xx100 Die Amerikaner hatten sich durchgesetzt und eine Zauberformel gefunden, nach der die amerikanische Wirtschaft weiterhin dominant und die armen Nationen verschuldet bleiben würden. Ironie des Schicksals: Harry Dexter White wurde vier Jahre später wegen »unamerikanischer Umtriebe« angeklagt.*

* Am 31. Juli und am 3. August 1948 wurde White vor dem Ausschuss für unamerikanische Umtriebe angeklagt, im Auftrag der Sowjetunion die USA zu "unterwandern" und als kommunistischer Agent tätig zu sein. Er wurde am 13. August vor den Ausschuss zitiert und starb drei Tage später.
Zurück in Großbritannien, versuchte -- wieM ichael Rowbotham sich erinnerte -- Keynes sein Bestes, um dem britischen Volk die Ergebnisse der Konferenz schmackhaft zu machen. Trotzdem musste er zugeben (in einem Brief an die Times), daß einige der Beschlüsse von Bretton Woods »geradezu närrisch« wären und »dem internationalen Handel schaden«xx101 könnten. Gleichzeitig erging jedoch die Botschaft der USA an das britische Parlament: Wenn es das Abkommen nicht billige, würden die USA die nächste Tranche der Kriegsdarlehen zurückhalten. Die meisten Wirtschaftswissenschaftler waren sich im Klaren, was dieses Abkommen bedeutete. Sir Edward Holloway zum Beispiel sagte vorher, dass das amerikanische System letztlich zu einer »unbezahlbaren Schuldknechtschaft zwischen den Staaten« führen würde.xx102 Geoffrey Crowther, der Herausgeber des Economist, in dem heute IWF und Weltbank leidenschaftlich verteidigt werden, warnte damals: »Lord Keynes hatte Recht... und die Welt wird es bitter bereuen, seine Vorschläge nicht angenommen zu haben.«xx103 Ich denke, man kann durchaus sagen, dass diese Befürchtungen sich als begründet erwiesen haben.

Sechzig Jahre später sind die Gründe, eine Internationale Clearing-Union oder eine vergleichbare Organisation ins Leben zu rufen, drängender denn je. Die Voraussagen von John Maynard Keynes und anderer Ökonomen haben sich bewahrheitet. Die Tatsache, dass das System von IWF und Weltbank nicht funktioniert, kann niemand ignorieren, sofern er nicht bewusst den Kopf in den Stand steckt. In gewisser Hinsicht müssen Keynes' Ideen natürlich revidiert und den aktuellen Verhältnissen angepasst werden. Entsprechende Vorschlage existieren bereits. Doch die Grundidee ist gut und stammt von einem Wirtschaftswissenschaftler, der vermutlich brillanter war als all jene, die heute über diesen Planeten wandeln. Wir müssen das Rad ja nicht neu erfinden.

Einige der erforderlichen Modernisierungen des keynesia-nischen Modells liegen auf der Hand. So meinte er beispielsweise, die Clearing-Union solle von acht Direktoren aus den wichtigsten Handelsblöcken geleitet werden. Die USA, Großbritannien, das britische Empire, die Sowjetunion und Lateinamerika würden je einen stellen, der Rest Europas zwei, während es für die Vergabe des achten Sitzes keine konkreten Vorschläge gab. Heute sollte die Sitzverteilung vielleicht doch etwas gerechter erfolgen.

Außerdem weiß man heute, dass - wie Michael Rowbotham ausführt - die Summe der Bancors auf den Konten der Clearing-Union immer geringer als null sein wird, weil ja zu jeder Zeit Geld in Transaktionen gebunden ist. Wenn wir also der Gefahr der Verschuldung aus dem Weg gehen wollen, müssen wir dafür sorgen, dass genügend Bancors als freie Währung umlaufen, damit es eine tatsächlich ausgeglichene Bilanz gibt. Das mag vielleicht auf den ersten Blick nicht so wichtig erscheinen, doch wie ich weiter unten zeigen werde, hat diese Praxis ein paar interessante Konsequenzen.

Da es heute Hedgefonds (das sind die Finanzmarktakteure, die auf Kreditbasis verwundbare Währungen aufkaufen und sie dann in Grund und Boden spekulieren) und andere moderne Formen der Spekulation gibt, sollten wir stärkere Kapitalverkehrskontrollen einführen, als Keynes sie vorsah. Der globale Fluss »heißen Geldes« zerstört nicht nur Volkswirtschaften, sondern schadet auch dem demokratischen Prozess. Die Regierungen jener Staaten, deren Kapitalmärkte liberalisiert wurden, müssen nämlich bald feststellen, dass sie nur solche politischen Maßnahmen durchsetzen können, die »keine Unruhe an den Märkten« verursachen. Und tatsächlich sind die Forderungen der Finanzmarktakteure meist noch härter als die des IWF.

Im Jahr 2002 machte der IWF ein paar Monate vor Ignacio da Lulas Wahl zum Präsidenten Brasiliens einen Haushalts-überschuss von 3,75 Prozent zur Auflage. Mit anderen Worten: Der IWF gestattete keinem der Präsidentschaftskandidaten, viel Geld für Sozialausgaben aufzuwenden, obwohl die Armen des Landes gerade dies dringend brauchten. Die Märkte aber forderten einen Oberschuss von 4 bis 5 Prozent. Alle Kandidaten wussten, was dies bedeutete. Gäben sie mehr aus, als der Markt zuließ, würden die Spekulanten ein solches Chaos an den Märkten veranstalten, dass ihre Regierung mit Sicherheit destabilisiert würde. Wenn es heute möglich ist, dass ein Konsortium von Dieben aus den besten Kreisen sich an der Wall Street, in den Geschäftsbezirken Tokios und Londons zusammenfindet, um einer Nation die Wirtschaftspolitik vorzuschreiben, die sicher ihren Interessen dient, aber nicht denen des Volkes, das sie ausplündern, dann ist Demokratie nicht mehr als eine Farce. Eine moderne Clearing-Union würde den Staaten erlauben (sie vielleicht sogar dazu ermutigen), den Kapitalverkehr so zu kontrollieren, dass die Banken nicht mehr die Welt beherrschen können.

Das Geschenk, das Keynes uns machte und das wir bisher nicht annehmen wollten, ist eine Welt, in der arme Länder nicht tun müssen, was die reichen ihnen vorschreiben, ja, in der sie nicht einmal arm bleiben müssen. Die Clearing-Union würde die wirtschaftlich schwächeren Nationen aus dem Würgegriffbefreien, der sie dazu zwingt, im verzweifelten Kampf um einen Leistungsbilanzüberschuss immer mehr für den Export zu produzieren und damit in Konkurrenz zu den viel reicheren Ländern zu treten. Sie würde sicherstellen, dass es einen Bedarf für die Exporte der armen Länder gibt, wenn dies am nötigsten ist, und ein forderliches Zusammenspiel der Nationen gewährleisten. Statt sich gegenseitig beim Kampf um einen Exportüberschuss an den Bettelstab zu bringen, würden - falls der Ausgleich funktioniert- die Nationen, die bereits einen Überschuss haben, freiwillig ein Defizit akzeptieren, während es den Defizitnationen erleichtert wird, ihre Handelsbilanz ins Positive zu wenden. Statt wie IWF und Weltbank eine unmögliche Weltordnung anzustreben, eine Escher-Treppe, auf der jedes Land das andere ständig aussticht, setzt das Modell der Clearing-Union auf die anerkannte Tatsache, dass es nur dann zu ausgeglichenen Leistungsbilanzen kommt, wenn die Exporte der einen Nation steigen, während die der anderen fallen.

Dies bedeutet aber auch, dass die Nationen generell weniger Handel treiben müssen, um liquide zu bleiben. Ein internationales Handelssystem, das nach Ausgleich strebt, würde der verzweifelten Überproduktion aufseiten der Armen und der von den billigen Rohstoffen verursachten Konsumwut der Reichen endgültig ein Ende setzen. Es würde also auch der Umweltkrise entgegenwirken, die vom aktuellen Handelssystem noch gefördert wird: Die sich immer weiter ausdehnende Rohstoffförderung zerstört die Böden, die Grundwasservorräte und die Lebensräume von Tieren und Menschen. Der Verbrauch dieser Rohstoffe sowie der Transport von Unmengen von Guetern um die halbe Welt haben die Krise zu einer drohender globalen Klimakatastrophe verschärft. Interessanterweise trägt eine solche Handelspolitik zu einer Lösung der

Probleme bei ohne dass wir uns dabei auf den Rückzug ins "Lokale" verlassen müssen.

Doch Keynes nimmt den reichen Nationen auch das Instrument aus der Hand, mit dem sie den armen Ländern ihre Wirtschaftspolitik diktieren. Wir sind ja mittlerweile so davon überzeugt, dass die armen Länder besser tun, was ihnen der Washingtoner Konsens« (die von den in Washington ansässigen Institutionen vorangetriebenen Strukturanpassungsprogramme) vorschreibt, dass wir uns ein System, welches den Ländern die Freiheit lässt, den Interessen ihrer Bevölkerung entsprechend zu handeln, gar nicht mehr vorstellen können.

Aber die Clearing-Union oder eine modernere, verbesserte Form zwingt die Menschen nicht zu ungewollter Liberalisierung der Märkte oder zur Erfüllung »ökonomischer Voraussetzungen«. Sie schafft keine Einfallschneisen für räuberische Banken und Konzerne. Sie setzt sich nicht über den politischen Willen der Wähler hinweg. Dieses System beruht auf der Vorstellung von der Gleichheit zwischen Handelspartnern. Anders als die existierenden Institutionen, welche nur die tyrannische Herrschaft ihrer Gründer durchsetzen.

Außerdem verschafft uns die Union etwas, was für einige unserer anderen Projekte von entscheidender Bedeutung ist: Geld. Wie wir bereits gesehen haben, muss eine bestimmte Menge »freien Geldes« in Form von Bancor-Einheiten vorhanden sein, damit der Ausgleich problemlos vonstatten gehen kann. Dieses Geld wird aber erst dann etwas wert, wenn es ausgegeben wird. So können durchaus ein paar Milliarden Dollar zusammenkommen, die sich zu einem von den Direktoren der Clearing-Union festgesetzten Satz in lokale Wähningen tauschen lassen.*

* Wenn die Clearing-Union dies für sinnvoller hält, kann sie die Wechselkursraten auch dem Markt überlassen, der wieder von der Politik der Einzelstaaten bestimmt wird.
Da diese Gelder mit Sicherheit Interessenten anziehen (so könnten beispielsweise die Regierungen einzelner Staaten ihren Anteil haben wollen), sollte besser von vornherein klar sein, dass sie für ein Projekt ausgegeben werden, das der Bevölkerung der ganzen Welt zugute kommt. Ein solches Projekt wäre zum Beispiel die erste globale Wahl.

Keynes' System sieht außerdem einen »Reservefonds« vor, in den die Zins- und Demurragezahlungen der Länder sowie die nicht abgebauten und daher konfiszierten Überschüsse einfließen. Keynes erkannte natürlich, welches Potenzial in solch einem Fonds steckte. Er selbst schlug vor, man möge dieses Kapital zur Einfuhrung einer Weltpolizei verwenden.

Außerdem könne man damit effektiv Katastrophenhilfe leisten und in einzelnen Ländern Wiederaufbau betreiben. Wir nehmen an, dass solch ein Fonds enorme Summen sammeln würde, die die gegenwärtigen Entwicklungshilfen bei weitem überstiegen. So könnten wir unser Parlament finanzieren, die Wahlen und all jene Projekte der UNO, die bisher aus Geldmangel nie umgesetzt wurden. Die Globalisierungskritiker haben schon mehrere Finanzierungsvorschläge für globale Projekte ausgearbeitet: eine Steuer auf Finanztransaktionen, die Einziehung der Sonderziehungsrechte des IWF oder die globale Lotterie. Doch nichts ist so verlässlich und wirft so viel ab wie Keynes' »Reservefonds«.

An dieser Stelle sollten sich bei Ihnen - wie ich hoffe - Kopfschütteln und Nicken die Waage halten. Ja, das System könnte funktionieren, aber wie zum Teufel sollen wir es einführen, wo das bestehende System doch 1943 von der mächtigsten Regierung der Welt festgezurrt wurde, die heute wie damals kein Interesse daran hat, den Status quo zu verändern? Da IWF und Weltbank, wie wir gesehen haben, letztlich unreformierbar sind, wie könnten wir dieses System, das nur für die Reichen arbeitet, umstürzen und eines einfuhren, das die Interessen der Schwachen berücksichtigt? Ich glaube, ich habe darauf eine Antwort gefunden. Denn das, was dieses System so ungerecht macht, ist gleichzeitig eine mächüge Waffe in den Händen der armen Länder - ihre Schulden.

Es würde zu Fehlschlüssen führen, wollte man den Schuldenberg der armen Länder (zirka 2,5 Billionen Dollar) mit den Reserven sämtlicher Zentralbanken der Welt (etwa 1,3 Billionen Dollar) verrechnen. Der größte Teil davon wurde nämlich bereits »wertberichtigt«: Der Realwert, der bei den Banken oder auf dem »Zweitmarkt« (bei den Schuldtitelhändlern, die solche Schulden von den Banken für ein Butterbrot kaufen, um darauf zu lauern, ob nicht doch noch etwas eintreibbar ist) zu Buche steht, ist gleich null. Da die meisten Schuldverhältnisse ja nicht zwischen Regierungen bestehen, sondern zwischen den Regierungen der betroffenen Länder und den kommerziellen Banken, dem IWF und der Weltbank, und da es verschiedene Zwischenstationen gibt, kann man die Lasten der Banken nicht einfach gegen die nationalen Zahlungsreserven in Gold oder Dollar aufrechnen. Trotzdem gibt uns dieser Vergleich eine ungefähre Ahnung von der Sprengkraft unserer Waffe, welche die Gier der reichen Länder den armen in die Hand gedrückt hat. Er macht auch deutlich, dass keine Regierung der Welt ihr Widerstand leisten könnte. Die Banken der reichen Welt sind in den Haenden der Armen.

In den letzten sechzig Jahren haben die Einwohner der armen Welt ihre Regierungen mehrfach gedrängt, sozusagen konkurs anzumelden. Anders gesagt: sich für zahlungsunfähig zu erklären. Andere Aktivisten, die sehr wohl erkennen, dass eine einzige Bankrotterklärung den Westen nicht in die Kniw zwingen wird (wie man an Mexiko sehen konnte, das für seine 1982 erfolgte Unbotmaessigkeit schwer bestraft wurde), schlugen vor, dass man die Zahlungsunfähigkeit gemeinsam erklären solle: dass also alle armen nationen sich gleichzeitig weigern sollten, ihre Auslandschulden weiter zu bedienen. In diesem Fall allerdings hätten die armen Nationen ihre einzig wirksame Waffe weggeworfen, ohne daraus auch nur einen Schuss abgefeuert zu haben.Sie wären zwar ihre Schulden los, hätten aber nichts getan, um das System zu ändern, das sofort zu neuen Schuldenbergen führen würde. Nein, die arme Welt würde weiterhin tun müssen, was ihr der IWF und die Weltbank vorschrieben. Sie würde weiterhin mit "Strukturanpassungen" als Bedingung für ihr Schuldenmanagement konfrontiert werden. Doch die arme Welt sollte lernen, den finanziellen Weltfrieden zu bedrohen, wenn ihre Forderungen nicht erfüllt werden, so wie der IWF den ökonomischen Frieden der Länder bedroht, die seine Reformen ablehnen.

Das Schöne an einer wirklich schrecklichen Waffe ist ja, dass man sie nicht einzusetzen braucht. Allein die Angst vor ihr bringt andere schon dazu, unsere Forderungen zu erfüllen. Und nirgendwo wirkt Angst schneller und grenzenloser als an den Finanzmärkten, die ja schon beim Anblick ihres eigenen Schattens erschrecken.

Das Finanzsystem beruht im Grunde auf einer Fiktion: dass nämlichdie Schulden, auf welchen die Industrienationen ihren Reichtum aufbauen, irgendwann einmal zurückgezahlt werden. Sogar die Möglichkeit, diese Annahme könne sich als falsch erweisen und die Banken müssten die Schulden, auf denen das ganze System beruht, ein für alle Mal abschreiben, würde eine Panik auslösen, die stracks zum Zusammenbruch der Finanzmärkte führte. Dann würden die Feinde der Armen sich gegenseitig zerfleischen. Die Banken und Spekulanten der reichen Welt, welche durch die Liberalisierung der Märkte Macht über die eigenen Regierungen gewonnen haben, würden diese zwingen, die Forderungen der armen Welt zu akzeptieren, sobald sie erkannt hätten, dass den armen Ländern nicht zum Scherzen zumute ist. Nur so wäre zu verhindern, dass die ganze Struktur in sich zusammenbricht. Dann würde das Waffenarsenal, das die Reichen gegen die Armen zusammengetragen haben, beschlagnahmt und der Spieß umgedreht.

Natürlich müsste die Drohung real im Raum stehen, damit unsere Waffe wirken kann. Die Schuldnernationen müssten bereit sein, sie wirklich einzusetzen, wenn die Märkte auf die Drohung allein nicht reagieren. Wenn sie die Kanone abfeuern, ist ihre eigene Wirtschaft davon genauso betroffen wie die der reichen Länder. Ihre chronische Wirtschaftskrise wird sich zur akuten verschärfen. Doch über den meisten verarmten Nationen hängt dieses Damoklesschwert sowieso, und die Forderungen von IWF und Spekulanten tun ein Übriges dazu, um diese Bürde langsam unerträglich zu machen. Und es gibt in Lateinamerika, Afrika und Asien einige Länder, die lieber springen, als in den Abgrund gedrängt zu werden. Natürlich werden die reichen Länder zur Vergeltung aufrufen, doch sie werden solche Maßnahmen nur dann durchsetzen können wenn die arme Welt sich auseinander dividieren lässt. Halten die Schuldnerstaaten zusammen, kann die reiche Welt nichts tun, ohne selbst in den Hexenkessel hineingezogen zu werden.

Am besten setzen wir diese Waffe ein, um das System zu zerstören, das sie geschmiedet hat. Schaffen die Schuldnerstaaten es, auf diese Art die Welt unter Druck zu setzen, dann können IWF und Weltbank durch ein System ersetzt werden, das automatisch zu ausgeglichenen Handelsbilanzen fuhrt. Natürlich ist das Erpressung, aber keine schlimmere Methode als die, welche die wirtschaftlich stärkeren Staaten in den letzten sechzig Jahren eingesetzt haben. Die armen Länder lassen der Welt sogar die Wahl: soft landing -- und damit ein langsamer Übergang vom aktuellen System zu einem neuen, verbunden mit einem allmählichen Erlass der Schulden, die durch das Missmanagement des IWF aufgelaufen sind - oder Crash. Die Märkte wollen natürlich die sanfte Lösung. Letztlich führen beide zum Schuldenerlass. Der Crash dehnt die Finanzkrise einiger Länder auf die ganze Welt aus. Die andere Strategie fuhrt zu einem System, das den G8-Nationen die Kontrolle über den Rest der Welt verwehrt, eine stabile, crashresistente Weltwirtschaft fordert und allen Menschen eine akzeptable Lebensqualität garantiert. Auf diese Weise sind die armen Nationen nicht auf den guten Willen der reichen Länder angewiesen, wenn sie eine Internationale Clearing-Union schaffen wollen. Sie können sie selbst gründen, den Kurs ihrer Währungen gegenüber dem Bancor festlegen (oder welche Recheneinheit sie auch immer wählen werden) und dann mit der Waffe in der Hand die reichen Länder freundlich bitten, sich doch anzuschließen.

Natürlich werden die Regierungen der Schuldnerstaaten nicht tätig werden ohne Druck vonseiten der Bevölkerung, da viele von ihnen mithilfe des IWF und der Spekulanten gewählt wurden, die keine politischen Alternativen zuließen. Daher werden sie den hier vorgestellten Strategien wohl nicht gerade offen gegenüberstehen. Manche der Regierungen müssten abgesetzt und durch eine andere restituiert werden, der die Interessen ihres Volkes mehr am Herzen liegt. Doch auch die radikalen Regierungen werden nur reagieren, wenn das Volk mindestens ebenso viel Druck auf sie ausübt wie IWF und Industrieländer. In einigen armen Ländern werden die jüngsten Entscheidungen des IWF täglich in den Medien kommentiert. Dort weiß jeder Mensch, was man unter »Strukturanpassun-gen« versteht und wie sich diese auf sein Leben auswirken. Man kann sich leicht vorstellen, wie die Frage, ob die Regierung sich endlich zur Wehr setzt, und die Hoffnung, die eine gangbare Alternative zu wecken vermag, zum Zündstoff wird, mit dessen Hilfe Wahlen gewonnen oder verloren werden.

In vielen Ländern ist es bereits so weit. »IWF-Unruhen« haben die meisten Länder erschüttert, die der Fonds mit seiner Hilfestellung beglückte. Und viele Regierungen sind bereits über die Auflagen gestolpert, die der Fonds ihnen aufzwang. Fast jeder Regierungsbeamte in den betroffenen Ländern, mit dem ich gesprochen habe, sagt, dass es so nicht weitergehen kann: Die Zinslasten sind untragbar geworden, die Forderungen der Gläubiger zu zermürbend, die Leidensfähigkeit des Volkes ist bis an die Grenzen ausgeschöpft. Das Maß ist voll. Der einzige Grund, weshalb die Regierungen dieser Länder ihre internen Probleme nicht zum Ausgangspunkt einer politischen Kampagne machten, ist die Tatsache, dass bisher keine praktikable Alternativlösung zur Verfügung stand. Keynes' Modell war in Vergessenheit geraten.

Sobald einige der verschuldeten Länder sich bereit fanden, ihre Bankrotterklärung als Waffe einzusetzen, könnte das Virus sich blitzartig ausbreiten. Von diesem Moment an wäre die Entscheidung, sich dem konzertierten Bankrott anzuschließen, vergleichsweise ungefährlich. Wenn die reiche Welt dann versucht, die Koalition der Schuldnerstaaten zu sprengen, indem einzelne Mitglieder gekauft oder gezwungen werden, müssen die Bürger dieser Länder dauerhaft und einfallsreich Widerstand leisten. Der Kampf ist gefährlich und der Ausgang ungewiss. Doch wenn die Bewohner der armen Länder sich nicht gegen die Herrschaft der Industriestaaten auflehnen, steht jetzt schon fest, was passieren wird. Die meisten haben die ganz klare Alternative: Kampf oder Hunger.

Da gerade die Bürger der verschuldeten Nationen erkennen, dass das aktuelle System ihnen keine Entwicklungsmöglichkeiten lässt, werden sie kämpfen. Auf Dauer wird ihre Regierung sich ihren Forderungen beugen, da auch sie keine Wahl hat. Diese Vision mag sich zunächst unwahrscheinlich anhören. Wenn man jedoch darüber nachdenkt, kommt man zu dem Schluss, dass mehr für sie spricht als für die bestehende Ordnung.

KAPITEL 6

Der Ausgleich - Die Organisation für Fairen Handel

DIESES MANIFEST IST von der tiefen Überzeugung geprägt, dass man ein befriedigendes Leben fuhren kann, ohne dabei andere Menschen zu ruinieren. Die Welt besitzt genug natürliche Ressourcen, um die Bedürfnisse aller Menschen zu erfüllen, und zwar so lange, wie die menschliche Rasse existiert - wenn wir alles richtig verwalten und verteilen. Nur weil wir genau das nicht tun, müssen so viele Menschen auf das Wenige verzichten, was sie zum Überleben brauchen. Und weil dieser Verteilungsvorgang zutiefst ungerecht ist, entsteht zu Recht ein dauerhafter tödlicher Kampf zwischen den verschiedenen Menschengruppen.

In den vorhergehenden Kapiteln haben wir festgestellt, dass Chancengleichheit gewöhnlich zu einer gleichmäßigeren Verteilung des Wohlstands führt. In diesem Kapitel werden wir sehen, dass es nicht immer die Gleichheit ist, die mehr Gerechtigkeit schafft. In einigen Bereichen der globalen Steuerung der Welt kann Gleichheit im Ergebnis nur dann entstehen, wenn wir uns für eine ungleiche Verteilung der Chancen entscheiden.

Dies hat einen ganz simplen Grund: Die einzelnen Staaten bringen in unser neues System ganz unterschiedliche Voraussetzungen mit. So liegt das jährliche Durchschnittseinkommen in Japan bei 38000 Dollar pro Kopf, das in Äthiopien oder Burundi bei 100 Dollar. xx104 Würden wir für die globale Verteilung von Gütern und Dienstleistungen ein System konzipieren, das allen gleichen Zugang erlaubt (Chancengleichheit) dann hieße dies, dass die Einwohner Japans 380-mal mehr davon profitieren würden als die Bürger von Äthiopien.*

* Dabei gehen wir von der Annahme aus, dass auf dem globalen Markt (im Gegensatz zum nationalen) der Dollar dieselbe Kaufkraft besitzt, gleichgültig, ob er nun in Japan ausgegeben wird oder in Äthiopien. Doch darüber gibt es eine heftige Auseinandersetzung zwischen den Wirtschaftstheoretikern: Einige meinen, dass in diesem Beispiel der Äthiopier mehr relative Kaufkraft auf sich vereinen würde, andere hingegen vertreten die gegenteilige Ansicht. An den grundlegenden Fakten ändert dies aber nichts: Im Augenblick haben die Menschen der reichen Welt weit mehr Möglichkeiten, durch den Welthandel reich zu werden, als die Völker armer Nationen.
Damit aber flösse der materielle Reichtum der Welt weiterhin von den armen zu den reichen Ländern und würde deren Teilhabe am Wirtschafts geschehen weiter zementieren. Unser System der »Gleichheit« fuhrt also nur dazu, dass die Ungleichheit weiter wächst. Soll Handel wirklich fair sein, dann müssten die Industrieländer ein Handicap bekommen - wie die schnellsten Rennpferde. Dieses Kapitel versucht, für dieses Rennen neue Regeln zu erfinden.

Der Handel ist das Thema, das die Globalisierungskritiker in den Industrienationen am meisten bewegt. Während die Auswirkungen der Leistungsbilanz auf die Verteilung von Armut und Reichtum zwischen den Nationen bislang eher vernachlässigt wurden, weil nur wenige Menschen wissen, wie diese Thematik mit dem Schuldenberg bzw. dem verheerenden Einfluss von Weltbank und IWF zusammenhängt, bringen die internationalen Handelsabkommen immer mehr Menschen auf die Straße. Ich habe dort Menschen getroffen, die den Namen ihres Außenministers nicht kennen, doch wenn man sie fragt, wie das GATS-Abkommen (General Agreement on Trade in Services) der Welthandelsorganisation (WTO) ihr Leben beeinflusst, antworten sie, ohne auch nur mit der Wimper zu zucken. Für die von der Enttäuschung über ihren geringen Einfluss auf die nationale Politik entpolitisierten Menschen wurde das Thema »Welthandel« zum roten Tuch, das sie zurück an die Wahlurnen brachte.

Dahinter steckt mehr, als man auf den ersten Blick annehmen möchte. Da ist zunächst einmal der begründete Eindruck einer tiefen Ungerechtigkeit, der entsteht, sobald wir erkennen, dass die weltweiten Handelsabkommen vorhandene Ungleichheiten noch verstärken. Dazu gesellt sich das Unbehagen über den Verlust der demokratischen Kontrolle über Umwelt, Arbeitsbedingungen und Konsumverhalten an die großen Konzerne. Auch dieses Unbehagen ist nur zu begründet: Viele der Abkommen werden von Funktionären getroffen, die dem Volk keine Rechenschaft schuldig sind, sich aber mit ihren engen Verbindungen zur Führungsgarde der transnationalen Unternehmen brüsten. Hinzu kommt die Furcht vor dem Verlust unserer kulturellen und regionalen Identität. Nicht zu vergessen die Angst, den eigenen Arbeitsplatz an die Billiglohnkräfte in Übersee zu verlieren, Der Protest der reichen Welt gegen die aktuelle Handelspolitik speist sich also aus einer merkwürdigen Mischung aus Altruismus und Eigeninteresse. Meist verschmelzen die verschiedenen Interessenlagen in der Hitze des Gefechts zu einer einzigen Aktion. Einer der berühmtesten Aktivisten der europäischen Globalisierungsgegner, der französische Bauer José Bové, wurde häufig als Leitfigur des Widerstands gegen den Welthandel bezeichnet. Ursprünglich allerdings wollte er mit seiner Aktion, bei der ein

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