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Anarchismus, [von "Anarchie"], eine politische Ideologie, die darauf zielt, jede Herrschaft von Menschen über Menschen, jede gesetzliche Zwangsordnung, besonders den Staat, zu beseitigen und ein autoritäts- und herrschaftsloses Zusammenleben herbeizuführen. Ursprünglich von rein individualistischen Prinzipien bestimmt, hat sich der A. später mit kollektivistisch-kommunistischen Ideen verbunden. Während er anfänglich die extreme Gewaltlosigkeit lehrte, hat er sich vielfach zu einem System der Gewaltanwendung, insbes. des individuellen und kollektiven Terrors, im Dienst revolutionärer Umsturzbewegungen entwickelt.

Der individualistische A. fordert schrankenlose Freiheit für den Einzelnen, absolute Vereinigungsfreiheit und unbeschränktes Privateigentum. Die Hauptvertreter sind: W. GODWIN (Enquiry concerning political justice and its influence on morals and happiness, 1793), M. STIRNER (Der Einzige und sein Eigentum, 1845), P.J. PROUDHON (Qu'est ce que la propriété? 1840; Les confessions d`un révolutionaire, 1849; Idée générale de la revolution au XIX. siècle, 1851). Trotz seiner bekannten Formel "Eigentum ist Diebstahl" ("La  propriété c'est le vol") war Proudhon kein Kommunist, sondern ein entschiedener Gegner sozialistisch-kommunistischer Theorien. Sein Ziel war es, in einem System der Herrschaftslosigkeit alle Menschen zu freien Privateigentümern zu machen. Durch die Kraft seiner Agitation gewann er starken Einfluß auf die in seiner Zeit aufkommenden anarchist. Bewegungen.
Diese verfochten freilich überwiegend einen kollektivistische-kommunist. A. Dessen Vorkämpfer waren M. BAKUNIN (Dieu et l’Etat, 1871) und Fürst PETER KROPOTKIN, ferner NETSCHAJEW, BROUSSE, TEILHADE. Der kollektivistisch-kommunist. A. erwartet, daß die Einzelnen sich bei Fortfall der staatl. Zwangs- und Klassenordnung von selbst in überindividuellen Gruppen zusammenfinden; er zielt auf eine Staaten- und klassenlose Kollektivordnung und auf Kollektiveigentum, sei es nur an den Produktionsmitteln (Bakunin), sei es auch an den Konsumgütern (Kropotkin). Vorläufer dieses A. war die Philosophie ZENONs, des Gründers der stoischen Schule. Gegenüber der Gütergemeinschaft und der Staats-Allmacht zum Zwecke eines moralischen Gemeinschaftslebens, wie Platon sie gepredigt hat, wurde von Zenon die freie staatslose Gemeinschaft gefordert. Im Mittelalter haben einzelne religiöse Reformbewegungen (um 1200 und 1400), insbes. in Paris, ähnliche Forderungen erhoben.

Die anarchistischen Bewegungen d. 19.Jahrh. waren zunächst vornehmlich von PROUDHON, dann entscheidend von BAKUNIN bestimmt, der auch die erste internationale revolutionär-anarchist. Organisation schuf. Ihr Ziel war nicht die Eroberung, sondern Zerstörung der polit. Macht. Die Teilnahme an der politisch-parlamentar. Arbeit sowie die Gründung polit. Parteien wurde verworfen; statt dessen wurden kleine und geheime anarchist. Kader in internationalem Zusammenhang geschaffen. Die Propaganda der Tat (NETSCHAJEW) löste eine große Zahl von Verschwörungen, polit. Attentaten auf Staatsoberhäupter und hohe Staatsbeamte, von Sabotage- und sonstigen Gewaltakten aus. Im Rahmen der proletar. Internationale kam es zu heftigen Gegensätzen zwischen den sozialist. und den anarchist. Gruppen, schließlich (1872) zum Ausschluß der Anhänger Bakunins. Der anarchist. Flügel, bereits vorher als Juraföderation organisiert, siedelte mit seinem Generalrat nach New York über, wo 1877 der letzte Kongreß der Internationale des A. stattfand. Die 1907 gegründete anarchist. Internationale hat nur noch geringen Einfluß ausgeübt. Wachsende Bedeutung gewann dagegen der Anarcho-Syndikalismus, der, bes. in den roman. Ländern, eine staaten- und klassenlose Kollektivordnung auf der Grundlage gewerkschaftl. (syndikalistischer) Berufsverbände zu verwirklichen suchte. In Dtl. hatte er niemals Bedeutung.

Starke anarchist. Strömungen fanden sich vor allem in Frankreich, wo zahlreiche Anhänger Bakunins an dem Kommune-Aufstand von 1871 teilnahmen und wo Kropotkin Ende der 70er Jahre eine anarchist. Gruppe schuf; von dieser ging eine Reihe von Attentaten aus, bes. die Ermordung des Präs. Carnot (1894). Nicht minder stark war der A. in Italien, wo Bakunin 1864 eine anarchist. Organisation ins Leben rief (Allianz der sozialen Demokratie, später Allianz der sozialen Revolution). Ihr Werk war u. a. die Ermordung König Humberts (1900). Noch nach dem 1. Weltkrieg gab es in Italien eine starke anarchist. Gruppe (Anarchistische Union Italiens), die erst vom Faschismus unterdrückt wurde. In Spanien bestanden seit den 1870er Jahren viele anarchist. Organisationen (zuletzt die Federación Anarquista), die erst nach dem Ende des Bürgerkrieges (1939) unterdrückt werden konnten. In Deutschland dagegen gab es nur kleine anarchist. Kreise, ursprünglich organisiert von J. MOST, der 1880 aus der Sozialdemokratie ausgeschlossen wurde. Auf sie geht eine Reihe von Attentaten zurück (Plan zur Ermordung der dt. Fürsten am Niederwalddenkmal; Attentate gegen Kaiser Wilhelm 1. von Hödel und Nobiling 1878). Später bestanden die Anarchistische Föderation Deutschlands und die anarcho-syndikalist. Freie Arbeiterunion (seit 1912). In den Verein. Staaten wurde der in den 80er Jahren um sich greifende A., als dessen Organisator der Deutsche J. Most auftrat, mit entschiedenen Maßnahmen unterdrückt; alle anarchist. Vereinigungen wurden 1886 aufgelöst. In Rußland gab es schon seit den 60er Jahren eine von BAKUNIN und NETSCHAJEW gegründete anarchistische Bewegung, die zahlreiche Gewalttaten ausführte und wesentlich zu dem Erfolg der bolschewist. Revolution beitrug, dann aber vom Bolschewismus vollständig ausgemerzt wurde. Hier wie auch sonst erwies sich der revolutionäre A. als eine Taktik des Umsturzes im Kampf um die Macht. Schlossen sich 1920 in Dtl. noch Anarchisten zu einer Gruppe zusammen, so kam es nach dem 2. Weltkrieg zu keiner größeren Organisation des A. mehr, und anarchist. Bestrebungen fanden kaum mehr Anklang.

Allgem. Werke. J. H MACKAY: Die Anarchisten (1893); P. ELTZBACHER: Der A. (1900); E. RECLUS: L´evolution, la révolution et l'idéal anarchique (Paris 1902); W.BORGIUS: Die Ideenwelt des A. (1904); H. ZOCCOLI: Die Anarchie (a.d.Italien, 1909, vollständigstes Werk über den A.) K. Diehl: ÜberSozialismus, Kommunismus und Anarchismus (1923; A. MÜLLER-LEHNING: Anarcho-syndicalism  (Amsterdam 1928); RUDOLF ROCKER: Anarcho-syndicalism (London 1938); P. HEINTZ: A. und Gegenwart (1951); G.D.H. COLE: A history of socialist thought (London 1954).
A. und Marxismus.
G. PLECHANOW: A. und Sozialismus (1894); G.  LANDAUER: Aufruf zum Sozialismus (1919 u.ö.); P. RAMUS [d.i. Rudolf Grossmann]: Die Irrlehre des Marxismus (1926).
Geschichte des A.
J. LANGHARD: Die anarchist. Bewegung in der Schweiz (1909); A. KRCAL {Ccaron}: Blätter aus der Geschichte der  der Arbeiterbewegung Österreichs1867-94 (1913); M.  NETTLAU: Der Vorfrühling der Anarchie (1925);  ders.: Der A. v. Proudhon zu Kropotkin (1927)
 


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