Frankfurter Allgemeine Zeitung -- Feuilleton Samstag, 10. Juni 2000, Nr. 134 / Seite 41


picture of Big Brother Orwell Film 1984
„Unwissenheit ist Stärke“, predigt der Große Bruder in George Orwells Roman 1984
Wenn der Sender RTL 2 stark ist, ist er stark auch durch Verträge.
Nicht „Neusprech“, sondern Juristendeutsch ist dabei seine Sprache. Foto Cinetext

Der Große Bruder
Erstmals dokumentiert: Aus dem Geheimen Regelbuch für die Mitwirkenden der Endemol-Produktion „Big Brother“

Dies sind die wesentlichen Punkte der „allgemeinen Regeln“ für das „Big Brother“-Haus, die die Endemol-Produzenten den Mitwirkenden unter strengen Geheimhaltungsvorschriften ausgehändigt haben. Alle Exemplare, die rechtsverbindlichen Charakter hatten, mussten Endemol zurückgegeben werden. Kopien waren nicht erlaubt. F.A.Z.

„Big Brother“ begrüßt Sie herzlich als zukünftigen Bewohner des „Big-Brother“-Hauses. 100 Tage lang werden Sie mit 9 anderen Teilnehmern die Chance haben, „back to basic“ zu leben und in einem Haus zusammen zu wohnen, in dem überall Kameras und Mikrofone hängen. Sie werden der Mittelpunkt eines einmaligen Fernsehprojektes sein, das schon jetzt ein Medienereignis ist. Big Bröther hängt von Ihnen und Ihrer Einstellung ab ... Sie und Ihre Mitbewohner tragen entscheidend zum Erfolg der Sendung bei.

In diesem Buch sind die Big-Brother-Regeln festgelegt: Verhaltensregeln und Informationen darüber, was erlaubt und was verboten ist. Diese Regeln sind nicht festgelegt worden, um Ihnen das Leben schwer zu machen, sondern sie sind ein Teil der Big-Brother-Philosophie. Sie sollen Ihnen helfen, die Herausforderungen der vor Ihnen liegenden Tage und Wochen annehmen und bewältigen zu können. Big Brother hat das Recht, die Regeln jederzeit zu ändern, um redaktionellen und technischen Erfordernissen Rechnung tragen zu können. So wie sich Big Brother an die Regeln hält und Ihre Rechte achten wird, bitte halten auch Sie sich strikt an diese Regeln. Big Brother behält sich zu jedem Zeitpunkt das Recht vor, Bewohner, die sich nicht an diese Regeln halten, aufzufordern, das Haus zu verlassen. BITTE NEHMEN SIE DIESES REGELBUCH MIT INS HAUS!!! Sobald Sie das Haus verlassen haben, muss das Regelbuch einem Mitglied der Redaktion ausgehändigt werden. Es darf nicht kopiert, in irgendeiner Form vervielfältigt oder weitergegeben werden.

Am 28. Februar betreten Sie und Ihre 9 Mitbewohner zum ersten Mal das Big-Brother-Haus ... Der Einzug ... ist ein Ereignis, das wir mit Familienmitgliedern und Freunden als großes Fest gestalten werden. Eingeleitet wird dieser wichtige Moment in Ihrem Leben bereits am Abend zuvor: Big Brother möchte Sie einladen, den letzten Abend „in Freiheit“ und die letzte Nacht ... mit Ihrem Partner oder jemandem, der Ihnen sehr nahe steht, in einem Luxushotel in Köln zu verbringen ... Wir behalten lihs vor, den letzten Abend mit der Kameta zu begleiten und Auszüge des Materials zu verwenden ...

Durch den Eingang und einen kleinen Flur gelangen Sie in den Innenbereich des Big-Brother-Hauses. Ob sich die Tür erst nach 100 Tagen oder bereits nach 14 Tagen für Sie wieder öffnet, liegt größtenteils in Ihrer Hand. Das Haus besteht aus einem Wohnmodul-Komplex, der für 10 Personen vollständig eingerichtet ist. Diese Wohnmodule befinden sich rund um einen „Kamerakreuzgang“, in dem drei Kameras stehen, die von Kameraleuten bedient werden. Dieser Gang ist von den Zimmern aus nicht einsehbar ... Für das gesamte Big-Brother-Haus gilt: Die Möbel dürfen nicht verrückt werden. Die Möbel dürfen nicht beschädigt werden. Beim Einzug finden Sie Kopfkissen und Decken vor. Die Kopfkissen liegen jeweils am Kopfende der Betten. Die Platzierung der Kopfkissen auf den Kopfenden darf nicht verändert werden. Es ist also nicht gestattet, die Kopfkissen ans Fußende zu verlegen.

Rechts vom Eingang befindet sich das Badezimmer mit Dusche, Waschbecken, abgetrennter Toilette und einer Möglichkeit, Kleidung zu waschen. Ein ebenfalls dort befindlicher Boiler enthält 80 Liter warmes Wasser, genug, damit 10 Menschen je anderthalb Minuten warm duschen können... Auch in Dusche und Toilette befinden sich Kameras. Die Kamera auf der Toilette ist aus Sicherheitsgründen installiert. Bilder von den Toilettengängen werden weder in den Sendungen noch im Internet gezeigt. Gegenüber dem Eingang befindet sich das erste Zimmer mit 5 Schlafplätzen und Bettzeug für 5 Bewohner ... Neben zwei normalen Kameras sind auch 2 Infrarot-Kameras installiert, und bei jeden Bett befindet sich ein Mikrofon. ... Neben der Schleuse liegt das „Sprechzimmer“. Ein bequemer Sessel und ein Tisch wartet neben einer Kamera auf diejenigen von Ihnen, die ihrem Herzen einmal Luft machen müssen. Darüber hinaus ist es auch der Ort der Nominierungen und des täglichen, zweiminütigen Erfahrungsberichts, beides wichtige Elemente der Sendung und damit für alle Teilnehmer verpflichtend. Eine brennende Lampe zeigt an, wenn das Zimmer besetzt ist ... Verpflichtend (ist ein) zweiminütiger täglicher Erfahrungsbericht (die Redaktion wird allen 10 Bewohnern die Gelegenheit dazu geben). Wenn Sie in das Sprechzimmer gerufen werden, nehmen Sie bitte im Sessel Platz und fangen Sie einfach an zu erzählen, was Ihnen durch den Kopf geht. Big Brother wird während dieser zwei Minuten nicht mit Ihnen in Dialog treten. Wenn die zwei Minuten vorbei sind, wird Big Brother Sie auffordern, das Sprechzimmer zu verlassen. Gehen Sie dann bitte umgehend hinaus. Big Brother behält sich das Recht vor, Sie zu einem persönlichen Gespräch in den Raum zu rufen.

Big Brother behält sich vor, einmal im Monat jeden Bewohner auf den „Stuhl der Wahrheit“ zu bitten. Wenn ein Bewohner auf dem Stuhl Platz genommen hat, dürfen die anderen Bewohner ihm ihre ... Eindrücke, die sie von ihm gewonnen haben, schildern. Es darf erst geantwortet werden, wenn alle Bewohner ihre Eindrücke geschildert haben. Der „Stuhl der Wahrheit“ und die genauen Spielregeln sind im Sprechzimmer zu den jeweiligen Terminen deponiert. Außerdem kann im Wechsel mit dem „Stuhl der Wahrheit“ ein Gefühlsbarometer eingesetzt werden. In diesem Fall stellen sich die Bewohner abwechselnd den Fragen ihrer Mitbewohner ...

Big Brother behält sich vor, Ihnen ein Haustier zu schenken. Alle Bewohner sind verpflichtet, an der artgerechten Pflege und Haltung mitzuwirken oder sie zu unterstützen ... Für das Haustier gilt die gleiche Sorgfaltspflicht wie für jeden Ihrer Bewohner.

Vor dem Haus liegt ein großer Garten, der in Nutz- und Freizeitgarten unterteilt ist. Im Nutzteil finden Sie einen Hühnerstall mit 7 Hühnern und l Hahn für den täglichen Bedarf an frischen Eiern und einen Gemüsegarten, in dem verschiedene Gemüsesorten angebaut sind ... Alle Bewohner verpflichten sich, für den Unterhalt der Tiere und des Gemüsegartens (u. a. Unkraut jäten) zu sorgen ...

Alle Räume und der Garten werden von insgesamt 28 Kameras 24 Stunden täglich beobachtet, darunter je zwei Infrarotkameras in jedem Schlafzimmer ... Die Kameras verfolgen Tag und Nacht alles, was sich im Haus abspielt. Im Haus sind 47 Mikrofone installiert. Zusätzlich tragen alle Bewohner ein Mikrofon, das sie jeden Morgen selbst anlegen müssen ... Diese Mikrofone sind das „Ohr“ von Big Brother. Sie sind sehr empfindlich und müssen täglich ununterbrochen getragen werden. Abgelegt werden sie abends vor dem Schlafengehen, wenn Sie sich im Sprechzimmer befinden, wenn Sie sich mit dem Psychologen unterhalten oder beim Duschen ...

Alle Bewohner des Big-Brother-Haus dürfen zwei Koffer packen - einen normalen und den „Big-Brother-Koffer“. In den großen Koffer packen Sie bitte Kleidung, Schuhe, Handtücher und ggf. erlaubte Toilettenartikel, in den kleineren Big-Brother-Koffer persönliche Dinge wie Zigaretten, Süßigkeiten, Familienfotos, Buch/Zeitschrift etc. Dieser Koffer wird vor laufender Kamera gepackt ... Die Koffer ... werden vor Betreten des Hauses kontrolliert, der Inhalt wird inventarisiert und muss bei Verlassen des Hauses wieder mitgenommen werden ...

Einschränkungen: nicht mehr als 10 Schachteln Zigaretten oder 5 Päckchen Tabak, nicht mehr als ein Buch oder eine Zeitschrift, CDs dürfen mitgenommen werden, müssen jedoch in der Redaktion abgegeben werden (die Redaktion entscheidet ob, wann, wie lange die CDs den Bewohnern zur Verfügung stehen), nicht mehr als 6 Flaschen/Dosen Bier oder 2 Flaschen Wein, hochprozentiger Alkohol nur in Rücksprache mit Big Brother. Folgende Artikel sind mit einem Stück/Flasche/Tube pro Artikel erlaubt: Tag/Nachtcreme, Haarspray/Haargel/Festiger, Bodylotion ... Selbstverständlich sind bestimmte Dinge ... im Big-Brother-Haus streng verboten: Handy, Radio, Walkman/Discman,Computer/Laptop/Palmtop/Notebook, elektronischer Terminkalender, Uhr/Wecker, Papier, Stifte/Füller/Kugelschreiber, Make-up in Stiftform, Betäubungsmittel/Drogen, Waffen, Tagebücher, elektronische/batteriebetriebene Geräte, Medikamente (auch Schlafmittel) nur in Rücksprache mit der Redaktion. Big Brother behält sich vor, weitere Gegenstände abzulehnen ...

Big Brother sorgt dafür, dass alle lebensnotwendigen Basisartikel vorhanden sind. Luxusgüter wie Alkohol, Süßigkeiten oder Zigaretten müssen mitgebracht oder in Rücksprache mit den anderen Bewohnern vom (knapp bemessenen) Haushaltsgeld gekauft werden. Das beinhaltet allerdings, dass dieses Geld an anderer Stelle fehlt!... Folgende Dinge gehören zur Standardversorgung und müssen nicht vom Haushaltsgeld bestellt werden ...: Bohnen, Erbsen, Linsen, Mehl, Hefe, Kartoffeln, Nudeln, Reis, Endivien, Blumenkohl, Salat, Weißkohl/Rotkohl, Sauerkraut, Obst, Fleisch/Fisch/Geflügel, Milchprodukte ... Achten Sie ... sorgfältig auf die Vorräte und kalkulieren Sie den Verbrauch ... Die Hühner liefern Ihnen Eier. (Eine Anleitung zur Fütterung und Pflege der Hühner finden Sie im Haus). Die Tiere dürfen nicht getötet oder geschlachtet werden ... Fleisch, Fisch und Geflügel wird alle zwei Wochen im Tiefkühler nachgefüllt... Big Brother behält sich auch die Auswahl vor ... Das Budget der ersten 14 Tage beträgt 560 DM für 10 Personen. Also 4 DM pro Person täglich, wovon alle Einkäufe/Bestellungen für diese Zeit gemacht werden müssen... Das Haushaltsgeld ist absichtlich knapp bemessen, damit Sie und Ihre Mitbewohner nicht nur so bewusst wie möglich mit dem Geld umgehen lernen, sondern auch so bewusst wie möglich leben -dies ist eines der Anliegen von Big Brother. Im Big-Brother-Haus leben Sie so, wie Millionen von Menschen: ohne Luxus.

Jede Form von Luxus hat ihren Preis und der liegt höher, als Sie es vielleicht gewöhnt sind. Sie haben jedoch die Möglichkeit, sich .. . Luxus „zu verdienen“. Wenn Sie Ihr Brot beispielsweise selber backen. bleibt Ihnen beim Haushaltsgeld mehr Spielraum. Darüber hinaus dienen die Wochenaufträge ... dazu, Ihre Haushaltskasse aufzubessern. Sie sehen: Sie haben Ihren Lebensstandard weitgehend selbst in der Hand!

Am Anfang beziehen 10 Personen aus freien Stücken das Big-Brother-Haus. Ende der zweiten Woche verlässt bereits der erste Teilnehmer nach einem Nominie-rungsverfahren und einer Zuschauerabstimmung das Haus ... Ihnen steht zu jedem Zeitpunkt ... frei, das Haus zu verlassen. Wenn Sie sich entscheiden sollten, das Projekt ... vorzeitig abzubrechen, bittet Big Brother Sie, Ihren Entschluss im Sprechzimmer bekannt zu geben .,. Bitte denken Sie gut über Ihren Entschluss nach, denn ein freiwilliges Ausscheiden aus dem Big-Brother-Haus ist endgültig. Sie bekommen keine zweite Chance ...

Alle 10 Teilnehmer sind grundsätzlich dazu verpflichtet, auch nach ihrem Wegstimmen auf Wunsch von Big Brother wieder in das Haus zu ziehen. Wenn Sie diese Chance nicht nutzen wollen, akzeptieren wir selbstverständlich Ihre Entscheidung endgültig aus dem Projekt auszuscheiden. Wenn ein neuer Bewohner ... in das Big-Brother-Haus zieht, gelten folgende Regeln: Die übrigen Bewohner sollten keine Fragen über die „Außenwelt“ stellen, denn dadurch machen Sie sieh das Leben im Haus selbst schwerer. Außerdem ist der neue Bewohner zu Stillschweigen über die Situation außerhalb des Hauses verpflichtet ... Die übrigen Bewohner müssen den neuen Teilnehmer in den Big-Brother-Lebensstil einführen (kein Luxus etc.). Der neue Bewohner hat keinen Anspruch auf den gesamten Gewinn. Der Geldgewinn hängt ab von der Anzahl der im Haus zugebrachten Tage des Teilnehmers ... Zu Ende des Projektes bleibt ein Teilnehmer übrig, der, wenn er von Anfang an dabei war, 250 000 DM gewinnt...

Alle Bewohner müssen alle 14 Tage samstags oder sonntags je zwei ihrer Mitbewohner, die sie gerne aus dem Haus hätten, nominieren ... Dies geschieht anonym im Sprechzimmer, also ohne dass die Teilnehmer voneinander wissen, wer wen nominiert ... Die Bewohner dürfen untereinander keine Absprachen treffen; Big Brother behält sich vor, eine Nomimerungsrunde zu annullieren. Aus den Nominierungen ergeben sich mindestens zwei Namen mit den meisten Negativstimmen, die den Bewohnern noch am selben Abend mitgeteilt werden. Die Zuschauer treffen im Laufe der nächsten Woche dann telefonisch oder über Internet die Entscheidung, welcher Teilnehmer schließlich das Haus verlassen muss ... Diese Prozedur findet im Laufe der 100 Tage insgesamt 7-mal statt... Am Ende bleiben folglich drei Bewohner übrig, die sich am 9. 6. 2000 noch im Big-Brother-Haus befinden. Die endgültige Entscheidung darüber, wer der Gewinner ist und damit das Geld erhält, liegt also bei den Zuschauern.

Sie und Ihre Mitbewohner bekommen einmal voraussichtlich wöchentlich, jeden Sonntagabend während der Big-Brother-Talkshow einen so genannten Wochenauftrag ... Ziel dieser Aufträge ist es auf der einen Seite, das Gruppengefühl zu stärken, auf der anderen Seite kann so das Wochenbudget erhöht werden ... Big Brother behält sich vor, über das so erhöhte Haushaltsgeld hinaus, noch kleine, individuelle Belohnungen vorzunehmen ... Bei erfolgreicher Erledigung der Aufgabe winkt dann eine Belohnung. Jeden Abend wird von Big Brother ein Umschlag im Sprechzimmer deponiert. In diesem Umschlag befindet sich ein Zettel, auf dem ein Diskussionsthema genannt wird. Nachdem ein Bewohner den Umschlag abgeholt hat und den Inhalt der Gruppe vorgelesen hat, sollen die Bewohner das Thema diskutieren ...

Das Big-Brother-Projekt ist ein Medienereignis, von daher recherchieren diverse Medien hartnäckig, um an Informationen über die Sendung zu kommen. Big Brother lebt von der Spannung und der Unvorhersehbarkeit der Sendung. Von daher ist es von außerordentlicher Wichtigkeit, dass die Identität der Teilnehmer bis zur ersten Sendung geheim bleibt. Das beinhaltet auch, dass sich die Teilnehmer erst bei Betreten des Hauses kennen lernen.

Sollten Sie Kontakt mit der Presse aufnehmen, und es wird bekannt, dass Sie einer der Teilnehmer sind, werden Sie umgehend von der Teilnahme an Big Brother ausgeschlossen. Wenn sich ein Journalist mit Ihnen in Verbindung setzt, antworten Sie nicht (kein Kommentar) und benachrichtigen Sie bitte umgehend Ihren Betreuer unter den Ihnen bekannten Telefonnummern.

Wer im Big-Brother-Haus ist, weiß, dass er jeden Tag 24 Stunden mit Kameras und Mikrofonen lebt. Dies ist ein wichtiger Bestandteil des Big-Brother-Konzepts. Sie wissen, dass sich überall, also AUCH in der Dusche und auf der Toilette Kameras befinden. Bilder von den Toilettengängen werden jedoch nicht gezeigt. Die Infrarot-Kameras in den Schlafzimmern übertragen Bilder im Dunkeln und die Mikrofone registrieren auch die leisesten Geräusche. Im Prinzip behält sich Big Brother vor, alles zu senden, allerdings schließt der Zeitpunkt der Sendung im Abendprogramm bestimmte Bilder natürlich aus ... Der einzige Ort, an dem Sie alleine sind und dessen Tür Sie abschließen können, ist das Sprechzimmer. Allerdings auch hier steht eine Kamera. Die Gespräche mit dem Psychologen werden nicht aufgezeichnet... Big Brother hat eine eigene Webseite, die 24 Stunden lang Bilder der Kameras zeigt. Für diese Bilder gelten die gleichen Regeln wie in den Sendungen. Bilder der Duschenkamera und der Toilettengänge werden nicht gezeigt.

Bitte folgen Sie zu Ihrer eigenen Sicherheit unter allen Umständen den Anweisungen von Big Brother!... Im Falle eines Unfalls steht unter dem Tisch im Wohnzimmer ein Erste-Hilfe-Koffer. Selbstverständlich steht für den Ernstfall ein Arzt bereit ... Bitte schließen Sie langfristige Zahnbehandlungen vor Ihrer Teilnahme am Big-Brother-Projekt ab...

Big Brother achtet rund um die Uhr auf Ihr Wohlergehen und Ihre Sicherheit. Trotzdem könnte es vielleicht vorkommen, dass jemand versucht, von außen in den Komplex einzudringen oder Kontakt aufzunehmen. Achten Sie immer darauf, dass Ihre Mikrofone funktionieren, damit Big Brother zumindest hören kann, ob so etwas passiert. Big Brother selbst kommt nie unangemeldet.

Das Big-Brother-Haus ist Ihr Zuhause auf Zeit. Bitte verhalten Sie sich auch so und schließen Sie die Außentüren ab, bevor Sie schlafen gehen. Sollte es dennoch passieren, dass jemand eindringt, begeben Sie sich bitte umgehend ins Sprechzimmer oder in die Schleuse, die dann elektrisch geöffnet wird, und warten Sie auf Anweisungen von Big Brother. Sollten Fallschirmspringer in den Garten gelangen, gehen Sie ins Haus, verschließen Sie die Tür zum Garten und befolgen Sie die Anweisungen von Big Brother. Sollten Gegenstände in den Garten geworfen werden, geben Sie diese Gegenstände umgehend im Sprechzimmer ab (ggf. nicht essen, lesen etc.) Big Brother ist Ihr einziger Kontakt zur Außenwelt!... Viel Glück und viel Spaß bei diesem einmaligen Projekt!



Für Jürgen und John
Medienspiel: Nur wenige wissen, was „Big Brother“ anrichtet

Wenn man die Regeln kennt, dann findet man „Big Brother“ nur noch halb so witzig. Wenn man die Spielregeln zu dieser „Real Life Soap“ und die Vereinbarungen nimmt, die jeder Teilnehmer unterschrieben hat, weiß man, warum im Container alle immerfort von ihrem „Projekt“ reden. Von wegen Achtundsechziger-Jargon. Als „Projekt“ bezeichnen die Veranstalter selbst ihre „Big Brother“-Versuchsanordnung bereits in der Präambel. Dass sich eine einfache Unterhaltungsfirma namens „Endemol“ solche Regeln und ein solches „Projekt“ ausdenkt, hält man für kaum möglieh. Das Vertragswerk klingt vielmehr, als stamme es aus dem Hause Scientology. Es riecht nach brainwash und nach der Aufgabe seiner selbst, was die zehn Probanden unterzeichnet haben, bevor sie in ihre Hunderttageklausur gingen. Bis ins Kleinste auf geradezu aberwitzige Weise reglementiert, jede Regung vorherbestimmt, ist den Probanden vor allem der Kontakt zur Außenwelt genommen. Reden Sie vor allem nicht mit Journalisten!, werden die Teilnehmer ermahnt:
Big Brother ist Ihr einziger Kontakt zur Außenwelt!“ Der Große Bruder liebt Sie. Der Große Bruder liebt uns.

Wolfgang Thaenert und Annette Schriefers haben recht viel Kontakt zur Außenwelt, in der letzten Zeit vielleicht mehr, als ihnen lieb ist. Denn „Big Brother“ hat auch ihnen fünfzehn Minuten Weltruhm beschert, und ihre Behörde mit den dreizehn Mitarbeitern, die in einem Einkaufszentrum am Bahnhof Kassel-Wilhelmshöhe untergebracht ist, ins nationale Rampenlicht gerückt. Im Parterre gibt es Terrakotta-Übertöpfe im Ausverkauf und Cappuccino vom Italiener, im ersten Stock laufen die Aufzeichnungsgeräte für RTL 2.

Wolfgang Thaenert, der Chef der Hessischen Landesmedienanstalt, die diesen Sender rechtlich beaufsichtigt, und die Bereichsleiterin Programm, Annette Schriefers, kennen die Regeln. Für sie war „Big Brother“ eine noch größere Qual als für alle anderen. Hundert Tage haben sie in den Abgrund gesehen und sind Zeuge geworden, wie das Fernsehen dem „Millionenspiel“ von Wolfgang Menge ein Stück näher gerückt ist. So hat es Dieter Ring, der Chef der bayerischen Landesmedienanstalt, gerade auf dem Kölner Medienforum gesagt. Zu Beginn der „multimedialen Inszenierung“, von der Thaenert spricht, war Ring noch derjenige gewesen, der seinem Kollegen aus Kassel und dessen Kompagnon Norbert Schneider aus Düsseldorf am wenigsten folgen und am deutlichsten dabei bleiben wollte, dass man sich bei der Frage, ob das Container-Colosseum zu Hürth einen Verstoß gegen die Menschenwürde darstelle, an die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu halten habe. Und diese ist über das Urteil zum „Zwergenweitwurf“ bisher nicht hinausgekommen und würde im Zweifel auch nicht, wie gleich vier Gutachten aus der jüngsten Zeit darlegen, bei „Big Brother“ genügend Anhaltspunkte für einen Verstoß gegen das Grundgesetz finden. Doch die amtlich bestallten Programmgutachter machen sich keine Illusionen: Wir stehen erst am Anfang. „Big Brother“ ist ein ..Türöffner“, sagt Thaenert.

Wenn er und seinesgleich sonst zusammenstehen und einem Jounalisten zum Gefallen Anekdoten über ihr Sehen und Wirken zum Besten geben, geht es stets um Dinge, von denen man froh ist, sie im Fernsehen verpasst zu haben. Erinnern Sie sich an die „Wurmwanne“? Oder das „Branding“? Jetzt reden die Landesmedienaufseher von Jägern und Gejagten, wo das einfache Publikum, das ja die Regeln nicht, sondern nur das mediale Feuerwerk kennt, sich amüsiert oder langweilt. Doch wer ist der Jäger, und wer ist der Gejagte, dem bei Wolfgang Menges böser Zukunftsvision aus dem Jahre 1970 jeweils eine Million Mark in Aussicht stand, wenn er den Kontrahenten in der Fernsehshow vor laufender Kamera buchstäblich zur Strecke brachte?

Wolfgang Thaenert ist der Überzeugung, dass „Schicksalsspiele“ im Fernsehen wie „Big Brother“ die Aufgabe der Intimsphäre gesellschaftsfähig machen. In diesem Medienspiel konnte der zurückhaltende Jurist, der vorsichtig formuliert, leise auftritt und der zu Beginn der hundert Tage von Hürth ein Beanstandungsverfahren ins Rollen brachte, nur verlieren wie Don Quichotte im Kampf gegen die Windmühlen. Die Politik in Person von Kurt Beck, dem rheinland-pfälzischen Ministerpräsidenten und Vorsitzenden der Rundfunkkommission der Länder, hatte noch vor Beginn der Ausstrahlung von „Big Brother“ nach der Zensur gerufen und die Erwartung geschürt, dass die Medienaufsicht es schon richten werde. Sie hat es nicht getan, nicht tun können, wie Beck wissen musste. Doch sie hat es auf ehrenwerte Weise trotzdem versucht, ihre Grenzen kennen gelernt und Schlüsse gezogen. Für die Marketingstrategen von Endemol aber lief von Beginn an alles nach Plan.

Und Endemol hatte sich einen feinen Plan gemacht, einen, in dem vom Theaterwissenschaftler Josef Andorfer, der den Chef von RTL 2 gibt, bis zum letzten Agenturfotografen jeder seinen Platz und seine Rolle hat. „Eigentlich ist es ein Happening“, sinniert Landesmedienchef Thaenert, den ärgert, dass alle auf das Fernsehen starren und niemand ans Internet denkt, wo „Big Brother“ doch vierund-zwanzig Stunden nonstop übertragen wird. Dafür aber sind nicht die Landesmedienanstalten, sondern allerhand andere staatliche Einrichtungen zuständig, in Hessen die Bezirksregierung von Darmstadt.

Einen größeren Zuständigkeitsbereich kann sich Thaenert, dessen kleine Truppe mit einem Jahresetat von drei Millionen Mark unter anderem auch das weit weniger beanstandungswürdige Programm von BIoomberg TV überwacht, sehr wohl vorstellen, neue Gesetze nicht. Es sei verfassungsrechtlich vorgegeben, dass im Rundfunkstaatsvertrag Sendungen wie „Big Brother“ nicht untersagt werden dürfen. Normen allein machten es auch nicht. Wohl aber sei eine stärkere Selbstbindung der Privatsender angezeigt, womit er eine andere meint als jenes Lippenbekenntnis, dass die Sender anlässlich der Auswüchse in ihren Talkshows vor vier Jahren mit einem „Verhaltenskodex“ abgegeben haben, der frömmer daherkommt als die Zehn Gebote, aber von niemandem beachtet wird. Die kritische öffentliche Debatte werde man befördern und sich unter der Rubrik Jugendschutz über den viel be-schworenen Begriff „Medienkompetenz“ in der denkbar elementarsten Weise kümmern müssen. Denn angesichts des großen Zuspruchs gerade bei jungen Zuschauern, die ein demokratisches Verfahren vermuten, wo nichts als unkontrollierbare Manipulation möglich ist, stelle sich die Frage: „Was ist das wirkliche Leben?“

Dass es jenes Vegetieren im Container nicht ist, wissen die Kandidaten, deren Leiden nicht wir, wohl aber die Programmbeobachter aus Kassel noch an kleinsten Regungen erkennen und nicht erst an der fassungslosen Manuela, die, zur „Schlampe“ der Nation erkoren, sich mit Rotwein betrinkt und im Garten erbricht. Doch ob die Zuschauer es noch wissen, die dreitausend, die am Wochenende den Container belagern, oder die drei Millionen, die jedes Brusthaar zählen, dass sich Zlatko von der Brust pflückt? Sie erlebe das Ende von „Big Brother“ als persönliche Befreiung, sagt Annette Schriefers. Hundert Abende lang hat sie die Zeichen der Zeit gesehen. Für sie wären jene 250 000 Mark, die dem Gewinner von „Big Brother“ winken, „lange nicht genug“, um ihre Privatsphäre zu verkaufen. Für John oder Jürgen, die beiden Spielarten des neuen Mannes, den das in der Telefonabstimmung vor allem von Frauen betriebene „Schicksalsspiel“ von „Big Brother“ bei RTL2 hervorgebracht hat, heißt es heute: „Das war ihr Leben.“ Für uns Übrige geht das wahre Leben weiter. Und im Herbst kommt „Big Brother 2“. Doch diesmal kennen wir die Regeln.

MICHAEL HANFELD



Gespräch mit Luc Bondy

Vielleicht ist Schlingensief ein Romantiker

Am Pfingstsonntag beginnt in Wien ein spektakuläres Theaterexperiment: Christoph Schlingensief hat auf Einladung Luc Bondys und der Festwochen einen Container vor die Staatsoper gestellt, in den bis zum 17. Juni zwölf Asylbewerber gesteckt werden, die nach dem Big-Brother-Prinzip aus dem Haus rausgewählt werden. Rund um die Uhr übertragen acht Kameras das Geschehen im Container über das Internet fernsehen „web-freetv.com“. Schlingensief will damit „dem Europa der Gutmenschen das Österreich der Bösmenschen vorführen“. Die Aktion „Bitte liebt Österreich“ hat bereits vor Beginn Wien erregt (F.A.Z. vom 7. Juni). Wir fragten Luc Bondy, warum er Schlingensief eingeladen hat.

Wie ist es Ihnen in Wien bekommen, dass Sie Christoph Schlingensief eingeladen haben?

Es ist alles sehr interessant. Die Sonne schien heftig auf den Besichtigungsplatz vor der Staatsoper, und plötzlich standen wir mit vielen Beamten, die sich vorstellten: Herr Soundso MA 35, Gruppe G mit Planskizzen B, Bundespolizeidirektion Wien AB mit Planskizzen C, MA 28 mit Planskizzen E, MA 35 Gruppe K, MA Gruppe 46 ... und so weiter, also Spezialisten, die ich sonst in meinem Leben nie getroffen hätte, in hellen Anzügen und Krawatten. Sie (wir auch) waren schon ein ganzes Theater ... Morgens, also bei dieser Begehung, dachte ich: Hier dürfte Christo keinen Steinpilz im Wienerwald einpacken ... aber nachmittags, als wir im großen Salon von dem Herrn Bezirksvorsteher des I. Bezirks, Herrn Magister Schmilz (auch heller Anzug), in tiefen Lederfauteuils saßen und dieser sehr bedächtige und abwägende Mann eigentlich ein wenig gegen seine innere Überzeugung dies Projekt doch auf dem exponierten Opernplatz erlaubte, entdeckte ich wieder einmal, dass in Österreich letztlich vieles möglich ist... trotz Maulen und Widerstand (was ich in Ordnung finde).

Ist Schlingensiefs Aktion noch Theater oder bereits direkte politische Auseinandersetzung mit der FPÖ?

Schon politische Auseinandersetzung, aber nicht nur gegen die FPÖ. Jedes Land in Europa hat die gleichen Probleme: Sie erinnern sich vielleicht, wie vor zwei Jahren in Paris die Film- und Theaterschauspielerin Emmanuelle Béart in einer Kirche mit Afrikanern, die abgeschoben werden sollten (sans-papiers), ein paar Tage und Nächte protestierend verbrachte, bis die Polizei in die Kirche einbrach, alle evakuierte. Und jetzt noch läuft ein Verfahren, um die Papiere dieser Menschen zu regulieren. Doch einige wurden schon abgeschoben. Das, was ich in Österreich geradezu unerträglich finde, ist, dass die inzwischen mitregierende FPÖ dieses Problem agressiv und deutlich rassistisch behandelt. Der Skandal ist nicht die Schlingensief-Aktion, nicht sein „stehendes Bild“ vor dem Opernplatz (ein Bild der Desolation, eine Art Realität, die man sonst nur in U-Bahnschächten sieht oder übersieht), der Skandal sind die Plakate, die unzulässige Plakate der Blauen, die die Menschen täglich angucken dürfen, ohne auf die sprachliche Gewalt und Vulgarität mehr wirklich empfindlich reagieren zu können oder wollen.

Man wirft erwartungsgemäß Schlingensief Zynismus vor. Ist er für Sie ein Zyniker?

Finde ich nicht, er ist eher ein Idealist, vielleicht ein Romantiker.

Wann wäre für Sie Schlingensiefs Projekt erfolgreich?

Es geht nicht um Erfolg oder nicht Erfolg. Das ist eine Diskussion und Diskussion, macht in diesem Fall wach.

Haben Sie auch Angst vor dem Container?

Neulich stand ein kleiner Container am Lusthaus, mit drin ein Bob-Wilson-Video, und die High-Society von Wien lugte begeistert in diese Leere hinein („Art“ von Yasima Rezza) . . . das fand ich jetzt gerade so im sommerlichen Prater seltsam unangenehm.

Die Fragen stellte Florian Illies.


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