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Man muss sich fragen, warum
Amerika Feinde hat

Der Westen denkt in den Kategorien eines Krieges der Kulturen und versäumt
es, nach den Ursachen von Terror und Gewaltbereitschaft zu fragen / Von
Ahdaf Soueif


Tausende von Menschen sind in Washington und New
York ermordet worden. Amerika trauert und die Welt trauert mit. Was
geschehen ist, war vollkommen pervers, und die amerikanische Regierung
bereitet sich – und die Welt – auf einen Gegenschlag vor. Einen
Gegenschlag, der von der Schule eines „Clash of Civilisations“ geprägt
zu sein scheint. Der Schule, der auch die islamistischen Extremisten
folgen; diese sehen Amerika – vielleicht sogar die gesamte westliche
Zivilisation – als hegemonialen Monolithen und als Feind, der wenn möglich
zu vernichten ist. Eben jenes Denken müssen denkende Menschen um jeden
Preis vermeiden. Und doch wird es vom Westen aufrecht erhalten. Im
vergangenen Jahrzehnt nahm die Tendenz zu, die Begriffe „Araber“,
„fanatisch“, „Moslem“ und vielleicht sogar „terroristisch“
als austauschbar anzusehen.
Als der Egypt Air Flug 990 am 31.Oktober 1999 in
den Atlantik stürzte und 217 Menschen in den Tod riss, erklärten die
Vereinigten Staaten innerhalb von Minuten, dass der ägyptische Pilot
ein islamistischer Fanatiker war, der Selbstmord begehen wollte. Selbst
nachdem ägyptische Zeitungen ein Foto veröffentlicht hatten, auf dem
er mit seiner Tochter zu sehen war, die einen Weihnachtsmann im Arm
hielt, beharrten die Amerikaner darauf: Der Mann war ein islamistischer
Fanatiker. Es ist, als ob die amerikanischen Verantwortlichen und ihre
Medien sich diesen Albtraum wahr träumten. Nun haben
Durchschnittsamerikaner den Preis dafür bezahlt.
Der Hauptverdächtige, so wurde uns am Donnerstag
gesagt, ist Bin Laden. Er könnte es in der Tat gewesen sein. Aber er
kann nicht wirklich davon ausgegangen sein, dass ihm dieses riesige
Verbrechen etwas nutzen würde. Und es hat alles zunichte gemacht, was
wir über seine Gründe zu wissen glaubten. Warum hat er es getan? Nur,
weil er Amerika hasst und es beschädigen will? Oder weil er seinen Hass
aus tiefstem Herzen genießt? Warum äußert er sich dann nicht hämisch?
Warum hat er die Verantwortung für die Tat im Gegenteil bestritten? Was
die Einordnung fanatischer Attentäter so gefährlich leicht macht, ist,
dass wir meinen, jede logische Frage nach Motivationen oder Zielen außer
Acht lassen zu können. Was, wenn er es nun gar nicht war? Was, wenn die
Männer, die verantwortlich waren, selbst der Überzeugung waren, für
ein arabisches oder muslimisches Ziel zu arbeiten und es eigentlich doch
nicht taten?
Am Dienstag zeigten die Nachrichten Bilder von
tanzenden Palästinensern. Die Bilder waren beschämend. Aber es waren
die gleichen drei Sequenzen, die man wieder und wieder sah, und
Korrespondenten auf arabischen Nachrichtensendern gaben zu bedenken,
dass dies nur vereinzelte Vorfälle waren und das Ausmaß der Anschläge
dort noch nicht ins Bewusstsein gedrungen war. Am nächsten Tag tanzte
niemand mehr. Der amerikanische Generalkonsul in Jerusalem erklärte
gegenüber einer Missionarin der Methodisten, dass er mehrere Stapel von
Kondolenz-Faxen von Palästinensern und palästinensischen
Organisationen erhalten habe. Der Korrespondent der Sendung Today
stellte in Jerusalem fest, dass die Menschen durchaus in der Lage seien,
zu unterscheiden zwischen dem amerikanischen Volk, das einen
schrecklichen Anschlag erlitten hätte, und dem amerikanischen Staat,
der einen „verdienten“ Schuss vor den Bug erhalten habe. Die
Unterscheidung zwischen Staat und Volk wird im Mittleren Osten als ganz
natürlich empfunden.
Amerika kommt nicht umhin, seine Außenpolitik gründlich
zu überdenken, seine Haltung zum Internationalen Strafgerichtshof
ebenso wie zum Kyoto- Protokoll, seinen Beitrag zu Hunger und Leiden der
irakischen Bevölkerung, seine Bombardements von Libyen und Sudan und
natürlich seine Position im israelisch-arabischen Dauerkonflikt. Es
muss sich die Frage stellen, was jene Leute jenseits krimineller Motive
dazu treibt, den Tod so vieler Menschenleben in Kauf zu nehmen, um die
Symbole der amerikanischen Macht anzugreifen.
Kein Lohn der Welt kann das Leid ausgleichen, der
über all die Opfer des Terrorakts gekommen ist. Wie kann vermieden
werden, dass sich eine solche Ungeheuerlichkeit je wiederholt? In einem
Leserbrief aus Kanada heißt es: „Nichts, aber auch gar nichts kann
rechtfertigen, was am Dienstag geschah. Trotzdem müssen wir uns fragen,
was wir dazu beigetragen haben, dass diese Leute einen derartigen Hass
gegen uns empfinden. Und dann müssen wir daran gehen, jene Ursachen und
Ungerechtigkeiten aus der Welt zu schaffen.“
Immer wieder hat die Welt die Erfahrung machen müssen,
dass sich Terroraktionen nicht allein mit Sicherheitsmaßnahmen bekämpfen
lassen. Man muss die Ursachen selbst – das Warum? – angehen. Und
wenn ich den offiziellen Antworten auf die entsetzlichen Ereignisse
lausche, überkommt mich Angst.
Fachleute haben die Ansicht geäußert, dass die
USA innerhalb von zehn Tagen gegen „irgendwen“ losschlagen müssen,
und dass cruise missiles auf ein Ziel im Nahen Osten das einzig
angemessene Vorgehen seien. Der stellvertretende Außenminister Paul
Wolfowitz erklärte, „die gesamte zivilisierte Welt“ sei durch die
Ereignisse schockiert worden. Und er fuhr fort: „Und sogar Teile der
unzivilisierten Welt haben begonnen sich zu fragen, ob sie auf der
falschen Seite stehen.“ Soll das die offizielle amerikanische Sicht
des Planeten sein? Die Rede ist von einer 20-Milliarden-Dollar-
Kriegskasse, von „sämtlichen Mitteln“ der Regierung, von militärischer
Überwachung von Washington und anderen großen Städten. Das wird nicht
ausreichen. Amerika wird nur sicher sein, wenn die Drahtzieher nicht länger
Leute finden, die bereit sind, ihr Leben hinzugeben, um Amerika zu
schaden. Die Nation, die einst sagte: Give me your poor, your weak, your
hungry, muss sich selbst durch die Augen der Elenden dieser Welt
betrachten.
Im Lauf des vergangenen Jahres und bis zur
Katastrophe vom Dienstag hatte Amerika damit begonnen. Es schien, als
wollten die Menschen des mächtigsten Landes der Welt sich die Freiheit
nehmen, genauer auf die Welt um sich herum zu schauen. Es erschienen
mehr Artikel, und immer mehr Leute stellten kritische Fragen. Teile der
Regierung rückten sogar ab von der ewigen, bedingungslosen Unterstützung
des Staates Israel, die man von ihnen erwartete. Auch diese Leute haben
sich jetzt – wieder – unter die Klagenden eingereiht. Das hätte
nicht eintreten dürfen. Und es sollte nicht wieder eintreten.
Vielleicht wird es das auch nicht wieder – wenn die Amerikaner in
ihrem Leid gemeinsame Sache mit anderen leidtragenden Menschen machen.
Es gibt Anzeichen dafür, dass viele von ihnen genau dies tun. Und ihre
Führer sollten auf ihre Stimmen hören.
Die in Ägypten geborene Schriftstellerin ist in
Deutschland mit ihrem Roman „Die Landkarte der Liebe“ (Goldmann
2001) bekannt geworden.
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