11.09.01

Ereignisverzerrter Tag

„Als es passierte“ – dieser elegante Schlager des Popduos Paula geht mir durch den Kopf. Ja, wo war ich, als es geschah, wo war ich, als ich’s erfuhr?

Als es passierte, schrieb ich eine E-Mail an Kurt Scheel, den Herausgeber der Kulturzeitschrift Merkur. Ich schrieb ihm, dass sein Auftrag, mich in seiner Zeitschrift 16000bis 20000 Zeichen lang über Musik zu äußern, über den Sommer von mir vergessen worden und nun auch nicht mehr auf die Schnelle auszuführen sei, da morgen ein lang vereinbartes viertägiges Herumgondeln durchs Fränkische mit einem Freund aus Frankfurt und dessen Bekannten aus New York angetreten werden müsse. Er solle aber bloß nicht denken, dass ich den Merkur gering schätzte, ich hätte bloß keine Routine darin, Schreibaufträge anzunehmen. Ja gewiss, zwar hätte ich noch nie einen Merkur gelesen, doch sei mir bekannt, dass es eine Ehre ist, von ihm zur Mitarbeit aufgerufen zu werden. Mit dem Hinweis, dass ich auf möglichst geringe Zerknirschung hoffte und freundlichen Grüßen schloss ich die E-Mail und ging zum Zweck der Zubereitung eines Gemüsesalates in die Küche, wo ich es beim Schneiden von Zucchini aus dem „Info-Radio Berlin- Brandenburg“, das ich bei Haushaltstätigkeiten gerne höre, erfuhr.

Ein aufgeregter Radiomann telefonierte mit einer aufgeregten Korrespondentin. Nein, kein Unfall, es scheine ganz so, als ob das Flugzeug, übrigens ein großes und kein kleines, da absichtlich hineingeflogen sei. Ich ging rüber ins Wohnzimmer und stellte den Fernseher an. Auf den ersten drei Programmplätzen, ARD, ZDF und dem Berliner Dritten, gab es noch den normalen Programmablauf. Auf Programmplatz vier, belegt mit BBC, gab es schon die entsprechenden Bilder. Keine Minute dauerte es, bis ich wusste, dass ich mit diesen Bildern nicht allein sein konnte, und rief Freund Stephan an. Er solle sofort BBC oder CNN oder sowas anmachen, keine Zeit für Erklärungen, mach das Ding an, und dann siehst du’s ja.

Zwei Stunden glotzte ich auf den Bildschirm. Ich war unglaublich durstig, sah mich aber außer Stande, in die Küche zu gehen, um mir etwas zu Trinken zu holen. Immerhin war ich in der Lage, einen nicht sehr guten Satz in mein Notizbuch zu schreiben: „Weltgeschichte kotzt mich gerade an wie eine unangeleinte Kampfqualle.“ Eine erste Ernüchterung trat ein, als Angela Merkel im Studio erschien. Mein Gott, warum interviewen sie die denn jetzt? Angela Merkel sagte das, was Angela Merkel halt zu sagen pflegt, wenn Terroristen in Hochhäuser hineinfliegen, und dann kam auch noch Edmund Stoiber, und ich glaube, er war es, von dem ich zuerst den Satz hörte, nun sei nichts mehr wie zuvor.

Nach Edmund Stoiber stellte ich den Fernseher aus. Leicht weggetreten wanderte ich, dem Panther von Rilke recht ähnlich, eine nicht gemessene Zeit lang durch die Wohnung, öffnete sinnlos Schubladen und schob sie wieder zu, betätigte sinnlos Lichtschalter und trat sinnlos auf den Treter vom Trittmüll eimer. Ich rief Oliver, den Frankfurter Freund, an, und fragte ihn, ob Adrian, sein Besuch, denn nun noch Interesse habe, einen viertägigen Ausflug durchs Fränkische zu unternehmen, als New Yorker. Oliver sagte, Adrian säße seit drei Stunden erstarrt vor dem Fernseher, habe aber gerade eben die Absicht geäußert, diesen Zustand nicht auf vier Tage auszudehnen. Der Ausflug finde also statt.

Ich stellte noch einmal das Radio an, ob da vielleicht was anderes zu erfahren sei als aus dem Fernseher. Bei Info-Radio war man bereits bei der Befindlichkeit der Berliner Bevölkerung angelangt. Eine merkwürdige Stille würde über der Stadt liegen.

Da ich eh vorhatte, mir auf Grund der septemberuntypischen Kühle für die Frankenfahrt eine Übergangsjacke zu kaufen, beschloss ich, runterzugehen und mir die merkwürdige Stille genauer zu Gemüte zu führen. Autos donnerten umher, Menschen saßen in Cafes, quakten munter in ihre Telefone und erledigten ihre Einkäufe. Von Stille keine Spur, schon gar nicht von einer merkwürdigen. Ich aber lief nun durch die Stadt so ziellos wie zuvor durch meine Wohnung, kam an manchem Bekleidungsgeschäft vorbei, war aber zu unruhig, hineinzugehen und dachte an das Wort Übergangsjacke, dass das ja an diesem Wendepunkt, zu einer Zeit, in der nichts wie zuvor sein würde, eine ganz neue Bedeutung erlangte, und beschloss, eine alte Strickjacke mit auf die Reise zu nehmen.

Ich kaufte mir eine Flasche Wein und kehrte heim. Ins Wohnzimmer mochte ich nicht mehr gehen, denn da stand ja der Fernseher, und den erbarmungslosen schwarzen Kasten wollte ich nicht mehr sehen. Selbst wenn ich ihn nicht anstelle: Die bösen Sachen sind ja trotzdem in ihm drin. Den ganzen Abend saß ich ohne Info in der Küche, erledigte debilen Steuerkram, schrieb auf dreißig Restaurantquittungen irgendwelche Namen und Berufe und Anlass der Bewirtung: Projektbesprechung. Ich war ganz ruhig und sachlich, der Wein schmeckte, aber dennoch: Von der Lebensfreude war mir die Schaumkrone heruntergeblasen worden.

12.09.01

Zugfahrt

Die Zeitungen von heute erspare ich mir lieber. Man kann sie sich ja denken. Der Kenntnisstand des Fernsehens von gestern Abend, garniert mit reichlich Kommentaren von Schriftstellern und Schauspielern, die sich nach irgendwelchen Ereignissen immer gleich einen Zettel mit Formulierungen schreiben und den neben das Telefon legen in der Hoffnung, sie werden von Medien angerufen.

Wem gilt heute unser Mitgefühl? Den Opfern? Klar, in erster Linie denen. Aber unser Mitgefühl gilt auch jenen eitlen Kommentarwichsmaschinen des öffentlichen Lebens, die gestern vergeblich den ganzen Abend neben dem Telefon standen. Wie muss sich so einer heute fühlen? Das World Trade Center stürzt ein, und niemand bittet ihn um eine Stellungnahme.

Ich verzichte also auf eine Zeitung. Habe auch anderes zu lesen. Mein neuer Verleger hat mich gebeten, ein Romanmanuskript zu lesen, damit er ein lobendes Zitat von mir auf den Buchrücken drucken kann. Da ich den Verleger nett finde und mit dem Autor befreundet bin, kann ich diesen Dienst nicht verweigern, der in der Branche wohl als Gefälligkeit gilt, in Wirklichkeit aber eine ziemlich Belastung ist. In dem Buch geht es um Berliner Polizeialltag und Jugendstrafvollzug. Die seitenlange, sich aufs Anatomische konzentrierende Beschreibung einer verwesenden Leiche in einer Sozialwohnung erinnert mich merkwürdigerweise an die Beschreibung eines Rosenstocks in Adalbert Stifters „Nachsommer“, d.h. sie ist wirklich gut und interessant. Ich würde darüber lieber in einem handlichen kleinen Buch lesen statt in einem versandhauskatalogartigem Manuskript mit ekligem Plastikeinband. Halte ich es in der Hand, wird es mir bald zu schwer, lege ich es auf den Knien ab, sind mir die Buchstaben zu weit entfernt. Ich überlege kurz, ob ich das Manuskript nicht einfach im Zug liegen lasse und dem Verleger irgendeinen üblichen Pressetextschmodder abliefere wie: „Der direkte, unsentimentale Tonfall macht dieses mutige, ehrliche Buch zu einem schmerzhaften, aber reinigenden Erlebnis“ oder „Eine Lektüre, die gleichzeitig stumm und süchtig macht“ oder „Ein lebenspralles Epos, eine Geschichte voller Sprachmagie, dieses Buch hat die Kraft des Flüsterns und die Macht des Schreiens“ – das ist zwar superkackeklig – die Frau, die auf „Info-Radio Berlin-Brandenburg“ Literatur rezensiert, kann sich z.B. ausschließlich in diesem Handarbeitszeitschriften- Jargon ausdrücken –, aber ich wäre durchaus in der Lage, diesen Tonfall zu imitieren. Aber nee, denke ich, das mach ich lieber nicht, irgendwo hat man ja schließlich noch sowas wie einen Funken von Restanstand, und deswegen plage ich mich weiter mit dem Trumm herum. Leicht ist’s nicht, zumal ich inmitten einer Schülergruppe sitze, deren männliche Mitglieder öde Witze über die gestrigen Ereignisse machen, so etwa in der Art: Schade, dass unser Klassenlehrer nicht in dem Hochhaus war, worauf die weiblichen sagen: Oh Daniel, du bist voll krank, da sind Menschen gestorben, verstehst du: Menschen. Als ich in mir den Wunsch entstehen fühle, den Schülern mit dem dicken Manuskript auf den Kopf zu hauen, wechsele ich in die erste Klasse. Ob ich eher den Knaben oder den Mädchen auf den Kopf hauen wollte, verschweige ich hier, denn sonst kommen eines Tages noch Menschen in Kitteln an und sagen: Soso. Das erklärt manches.

Abgesehen von der meist geringeren Auslastung ist die größte Besonderheit der ersten Klasse gegenüber der zweiten, dass die Leute in der ersten einander wissend und belustigt anschauen, wenn der Zugbegleiter englische Durchsagen macht. Heute allerdings wird nicht über unvollkommenes Englisch geschmunzelt, heute wird ein Manuskript durchgeackert. Ich bin sehr gnädig mit dem Buch. Mir fallen zwar Stilblüten und falsche Konjunktive auf, aber die sind auch nicht schlimmer als die Konjunktive, die vor Lektorat in meinen Texten enthalten sind.

Der Autor schreibt die Texte, dann kommt der Lektor und fügt mit würzender Absicht und Handbewegung Kommas sowie Konjunktive hinzu. So ist die Arbeitsteilung seit Snorri Sturluson. Ich bin jedoch kein Lektor, sondern nur freundschaftlicher Berater, deswegen setze ich den Korrekturstift sparsam ein. Einmal aber sehr energisch. Die Sätze „Dunkelbraune, etwas hochstehende Augen gucken Nicole mit zurückgehaltener Ungeduld an, das Weiß schimmert wie eben gespültes Porzellan. Auf den sonst frischen rötlichen Wangen steht noch die Blässe aus dem Halbschlaf“ streiche ich mit autoritärer Frische durch und schreibe an den Rand „Triviale Beschreibungsroutine! Marlitt!“, und da ich nicht sicher bin, ob mein Freund die talentvolle Autorin zaghaft frauenemanzipatorischer Gesellschaftsromane überhaupt kennt, schreibe ich noch dazu: Guck im Lexikon nach, wer das ist.

In Würzburg empfangen mich Oliver und Adrian mit dem Mietwagen. In unserem Begrüßungshändedruck mitinbegriffen scheint ein unausgesprochenes Abkommen zu sein, dass wir einander nicht erzählen, wie furchtbar das alles ist in Amerika und ob jetzt wohl der dritte Weltkrieg kommt. Adrian sagt nur kurz, dass er niemanden kenne, der im World Trade Center arbeitet, und dass alle, die ihm nahe stehen, am Leben sind, das habe er telefonisch in Erfahrung gebracht. Und ich dachte, telefonieren geht gar nicht. Geht aber wohl doch.

Hiervon abgesehen reden wir nicht groß über das Thema, während wir durch Landschaften und Kleinstädte fahren, um schließlich im berühmten Dinkelsbühl abzusteigen, in einem Hotel von 1480, in dem schon Queen Victoria nächtigte und dessen Portier vor einer ausladenden Franz-Josef-Strauß- Fotografie amtiert. Abends essen wir im Restaurant „Deutsches Haus“, wo viele Menschen sitzen, die offenbar guter Laune sind, denn donnernde Lachsalven erfüllen regelmäßig den Raum.

Vorm Zubettgehen noch kurz TV; es wird der Eindruck erweckt, unser Land sei vollkommen in Pietät erstarrt. Die Diskrepanz zwischen diesem Bild und der Realität erinnert mich an das Fernsehen der DDR, das sich ja auch immer ganz dem Wunschdenken verpflichtet fühlte.

13.09.01

Schweigen und Schreien

Um 10 Uhr ist staatlich verordnete Schweigeminute. Ich schweige auch wirklich, in erster Linie aber, weil keiner da ist, mit dem ich mich unterhalten könnte. Die Kollegen, auf die ich in der Hotelhalle warte, sind nämlich unpünktlich. Adrian erzählt, dass sein Lebensgefährte ihn am Telefon angeschrien habe, dass er ihn in dieser schwierigen Situation alleine lasse und sinnlose Ausflüge durch Deutschland unternehme. Er solle sofort zurückfliegen. Der Einwand Adrians, dass das mit dem Fliegen zur Zeit nicht einfach sei, habe seinen Freund überhaupt nicht beeindruckt.

15.09.01

Adjektive und Eklats

Nach drei Tagen weitgehender Medienabstinenz kaufe ich mir doch mal eine Zeitung. Susan Sontag kritisiert neben manch anderem, dass sämtliche Kommentatoren die Anschläge als „feige“ bezeichnen. Da hat sie natürlich Recht. Schon Ladendiebstahl erfordert Mut. Wie viel Mut braucht es da erst, ein Flugzeug zu entführen und es gegen ein Gebäude zu steuern. Man kann froh sein, dass die meisten Menschen zu feige sind, um so etwas zu tun. Sicherlich gibt es für die Attentate bessere Dekorationsadjektive, wie zum Beispiel ruchlos oder schändlich, sogar anmaßend wäre treffender als feige.

Es geht den Kommentatoren aber nicht um passende Adjektive, sondern um die Souveränität und Flüssigkeit ihres Vortrags. Um diese zu erlangen, sind in der Mediensprache viele Haupt- und Zeitwörter untrennbar an bestimmte Eigenschafts- und Umstandswörter gekettet. So wie Anschläge immer feige sind, werden Unfälle grundsätzlich als tragisch bezeichnet, obwohl es mit Tragik, also einer Verwicklung ins Schicksal oder in gegensätzliche Wertesysteme, überhaupt nichts zu tun hat, wenn jemand gegen einen Baum fährt. Ein solcher Vorgang ist banal – mithin ganz und gar untragisch. Vielleicht werden die Unfälle deshalb als tragisch bezeichnet, weil das Wort so ähnlich wie traurig klingt, und traurig ist ein Unfall immerhin für die Freunde und Angehörigen des zu Schaden Gekommenen. „Traurig“ ist den Medienleuten aber zu lasch, für sie ist Tragik wohl eine zackigere und grellere Form von Traurigkeit.

Genauso unpassend ist das Adjektiv, welches unvermeidbar auftaucht, wenn nach einem Erdbeben oder einem ähnlichen Unglück nach Überlebenden gesucht wird. Wie geht die Suche vor sich? Natürlich „fieberhaft“. Dabei will man doch stark hoffen, dass es Fachleute und besonnene Helfer sind, die einigermaßen kühlen Kopfes und in Kenntnis der bergungslogistischen Notwendigkeiten die Menschen suchen, und nicht, dass da irgendwelche emotional aufgeweichten Gestalten wie im Fieberwahn in den Trümmern herumwühlen. Verzichten können die Medienleute auf Adjektive nicht, denn sie sind zur Erzielung eines vollmundigen Verlautbarungssingsangs notwendig. Könnte man aber nicht mal einen angemessenen Ausdruck benutzen? Ich glaube nicht. Wir werden niemals folgenden Satz im Radio hören: „Nach Überlebenden wird fleißig gesucht.“ Dabei wäre „fleißig“ inhaltlich wie stilistisch ideal. Es ist weder abgedroschen floskelhaft noch zu auserlesen und hat daher nicht den geringsten ironischen Beiklang. Schriebe jedoch ein Journalist diesen Satz, so wäre es vollkommen sicher, dass sein Redakteur das passende Wort „fleißig“ streichen und durch das vollkommen unpassende „fieberhaft“ ersetzen würde.

Auf der gleichen Zeitungsseite, auf welcher der Artikel von Susan Sontag steht, wird von einem angeblichen Eklat berichtet, den der Komponist Karlheinz Stockhausen in Hamburg auslöste.

Er hatte während einer Pressekonferenz die Anschläge auf das World Trade Center als ein großes Kunstwerk bezeichnet, bei dem fünftausend Menschen in die Auferstehung gejagt worden seien, und hinzugefügt, dass er als Komponist Derartiges nicht vollbringen könne. Die Kulturverwaltung reagierte darauf fantasielos verkrampft und sagte vier für Hamburg geplante Konzerte ab. Muss man bei einem Künstler, in dessen Schädel bekannterweise ein Hirn glüht aus der Kategorie „Das etwas andere Gehirn“ und in dessen Werk das Feuer, ja sogar der Weltenbrand eine zentrale Rolle spielt, nun dermaßen bleiern geschockt tun, wenn er eine Sichtweise kundtut, die sich von derjenigen von Otto und Frieda Normalwurst ein bisschen unterscheidet? Wenn man es nicht aushält, dass Künstler eigene Meinungen vertreten, dann soll man ihnen eben keine Mikrofone unter die Nase halten, sondern sie in Ruhe ihre Arbeit machen lassen. Doch nichts bestraft das Establishment härter als ausbleibendes Gesülze.

Wenn ich Hamburger Kultursenator wäre, hätte ich Herrn Stockhausen zu einem kleinen Spaziergang eingeladen und ihm dabei folgendes gesagt:

„Ja, lieber Herr Stockhausen, Sie sind ja von einer Zeit geprägt worden, in der erweiterte Begriffe modisch waren, da wurden gern so Sachen gesagt wie „das Private ist politisch“ oder „Jeder Mensch ist ein Künstler“, und insofern ist mir Ihr erweiterter Kunstbegriff durchaus verständlich, wenngleich ich selbst ein Anhänger der Einengung von Begriffen bin, denn wenn man sie zu sehr erweitert, verlieren sie ihre Bedeutung. Insgesamt war Ihre Einlassung aber ganz originell, obwohl: So originell war sie eigentlich doch nicht. Hat nicht schon Ernst Jünger 1944 in seinem Kriegstagebuch „Strahlungen“ über die Bombardements in Paris geschrieben, die Stadt mit ihren roten Türmen und Kuppeln habe in gewaltiger Schönheit gelegen, gleich einem Blütenkelche, der zu tödlicher Befruchtung überflogen werde, und dass er, während er dies betrachtete, ein Glas Burgunder, in dem Erdbeeren schwammen, in der Hand hielt? Da regen sich die Leute jetzt noch drüber auf. Aber ich finde, alle 57 Jahre kann die Zivilisation eine Äußerung dieser Art verkraften, und wir werden Ihre vier Konzerte wie geplant zu Ihrer Zufriedenheit ausrichten. Wir werden die tollsten Säle der Stadt ausfegen und bohnern, und wir werden Ihnen hinter der Bühne ein abschließbares Künstlerklo installieren, denn es ist ja mit das Furchtbarste, was es überhaupt gibt, wenn der Künstler in der Pause zusammen mit dem Publikum in der Pissoirschlange stehen muss. Ich bitte Sie jedoch zu bedenken, dass jemand Ihres Ranges durch sein Werk leuchten sollte und nicht durch aufregende Interviewaussagen, und möchte Sie daher des weiteren ersuchen, wenn Ihnen das nächste Mal Mikrofone ins Gesicht ragen, zu prüfen, ob Sie dann nicht, statt zu sprechen, etwas singen oder besser noch summen könnten, Sie sind doch schließlich Musiker. So – jetzt muss ich zu meinem nächsten Termin. Auf Wiedersehen, Herr Stockhausen.“

Bedauerlicherweise hat sich Stockhausen für seine Äußerungen entschuldigt. Man entschuldigt sich, wenn man jemanden auf der Straße anrempelt oder im Zorn ungerechtfertigte Vorwürfe macht. Sagt man aber im Sonnenschein seiner persönlichen Autarkie etwas Freches oder Nonkonformistisches, das vielleicht mancherorts für Kopfschütteln sorgt, indessen niemandem schadet, dann ist es unangebracht, kleinlaute Zurechtrückungen nachzuschicken, nur weil man merkt, dass das, was man gesagt hat, das Auftragsbuch schmälert. Beispielhaft war hier das Verhalten von Fürstin Gloria von Thurn und Taxis.

In einer Talkshow sagte sie vor einigen Monaten, die weite Verbreitung von Aids in Afrika läge daran, dass die Afrikaner so gern schnackselten. Am nächsten Tag war in den Trash-Medien von einer „ungeheuerlichen Entgleisung“ die Rede, für die sich die Fürstin entschuldigen müsse. Sie tat es nicht,und das war richtig. Bei wem hätte sie sich denn entschuldigen sollen? Etwa bei den Afrikanern? Mitternächtliche Interviewaussagen deutscher Adeliger sorgen in Afrika traditionell für so wenig Wirbel, dass man nicht falsch liegt, wenn man sagt, sie würden überhaupt nicht wahrgenommen. Afrikaexperten, seriöse zumindest, würden dies ohne viel Blättern in Nachschlagewerken bestätigen. Mit Zustimmung sparen würden die Experten hingegen, wenn man behauptet, Afrikaner würden überhaupt nicht gern schnackseln. Hätte die vermeintlich ungeheuerliche Entgleiserin sich dann eben bei den hierzulande lebenden Schwarzen entschuldigen sollen? Ebenso lächerlich. Als dunkelhäutiger Mensch in Deutschland wird man genügend ernsthafte Probleme haben und nicht in ein Schock-Trauma verfallen, wenn eine Fürstin im Fernsehen ihre ironischen fünf Minuten bekommt. Die Fürstin hat sich vielleicht in der Gemütlichkeit einer entspannten Rederunde zu einem etwas zu familiären Ton hinreißen lassen. Man könnte von Flapsigkeit sprechen oder einer gelinden Frivolität, keineswegs jedoch von einer Entgleisung, gar einer ungeheuerlichen. Eine Entgleisung läge vielleicht vor, wenn der deutsche Außenminister die Queen mit „Na, du alte Zonenbraut?“ ansprechen würde. Um sich aber eine Entgleisung auszumalen, für die das Wort ungeheuerlich nicht zu hoch gegriffen ist, muss man schon mehr seinen Kopf anstrengen. Wenn also der Außenminister in London landet und die Queen ihn komischerweise persönlich am Flughafen abholt und der Außenminister auf halber Höhe der Gangway seine Hose öffnete und der ihm entgegeneilenden Queen ins Gesicht urinierte – dann wäre das Wort ungeheuerlich angemessen. Dann wäre in der Tat auch eine Bitte um Entschuldigung sinnvoll.

Seit der Papst sich bei der Menschheit für irgendwas von vor tausend Jahren entschuldigt hat, ist ein regelrechter historischer Entschuldigungswahn ausgebrochen. Man sieht dreißigjährige PDS-Damen, die sich stellvertretend für Leute, die sie a) nie kennen gelernt haben, die b) schon tot sind und die sich c) nie selbst entschuldigt hätten, bei Leuten, die auch schon tot sind, für den Mauerbau entschuldigen. Anderen PDS-Leuten erscheint dies zu Recht bizarr. Sie beschränken sich auf die Aussage, dass der Mauerbau eine widerwärtige Schandtat gewesen sei. CDU-Typen schreien dann: Wir wollen aber eine richtige Entschuldigung! Mit gleicher Logik könnte man von mir verlangen, dass ich mich im Namen der Menschheit bei der Tierwelt für die Ausrottung der Dronte (des Dodo) entschuldige.