Basler Zeitung, Dienstag
27. Oktober 1998
Einzelansicht

Ist eine Gefahr für die Gesellschaft, wer Normen missachtet?

Die Nordtangente bildet eine riesige Baustelle an der Flughafenstrasse. Eine Bretterwand davor dient Patienten der Psychiatrischen Universitätsklinik als «Klagemauer».



Abschrankungen, Strassensperren, Verbotstafeln, Gitter. Dahinter, darunter, dort, wo einst das Ghetto der Notsiedlung «In der Rosenau» stand, dehnt sich in der Tiefe die Schneise aus Rheinkiesbergen und -tälern. Bagger klettern am Werktag, ein Hin und Her von Lastern. Neben der Baustelle für das Nordtangenten-Jahrhundertwerk noch das ewige Hin und Her des Pendlerverkehrs von Frankreich und am Feierabend dorthin zurück, des Schwerverkehrs vom und zum Terminal, Frigo St. Johann, Schlachthof, EuroAirport.

Spaziergänger, Velofahrer dürfen weiterhin unter dem alten Kastanienbaumbestand promenieren, sich zwischen Hägen und Absperrungen durchschlängeln auf dem stehengelassenen Trottoir oben auf der Krete der Flughafenstrasse, am Park seitlich neben der Psychiatrischen Uni-Klinik (PUK) vorbei Richtung Zentralwäscherei.

«Neuroleptikakabinett»

Eines blau, eines weiss, schön abwechslungsweise: Freundlich zeigt sich die Bretterwand vor dem Park der PUK, wenn man daran vorbeigeht. Und sieht man näher hin, bleibt ein wenig stehen, kann man einiges erfahren: Fangen wir neben dem schmalen. offenen Törchen an: Da klebt, an einem himmelblauen Brett ein schon leise verwittertes Plakätchen gleich zweimal: «Besuchen Sie Caligaris nettes und liebes Neuroleptikakabinett. Erleben Sie Freiträume unter allen Grenzen. Hinterlassen Sie Ihre Grüsse & Küsse.» Auf dem weissen Brett daneben steht rot geschrieben: «Und dem Tod soll keine Ruhe bleiben.»
Schwarz hat jemand - Patient, Besucher, Passant? - darüber notiert: «Die da liegen in Wassergewinden liegen sollen nicht sterben windig + leer» (oder heisst es: «widrig»?). «Nicht brechen die, die am Rand/ob der Glaube auch splittert in ihrer Hand./Und dem Tod soll kein Reich bleiben./ Auf den Müllhaufen mit der Psychiatrie!» Daneben sind ein offener Thorax, Lungenflügel, Herz, Leber, Eingeweide, abgebildet, wie aus dem Anatomieatlas, aber mit einem lebenden Gesicht darauf, von dem die Haut nicht abgezogen wurde.

«Weg von Fachidioten»

«Weg von den Fachidioten» steht auf einem anderen Brett, und eine Adresse: «Psychiatria democratica, Therwilerstrasse 7, Mo-Fr, 10-21 Uhr.»
Ein Kreis mit zwei parallelen Pfeilen, die schräg nach oben rechts weisen, eine Fluchtmöglichkeit? «Abhauen mit dem Velo.» Ein langer Pfeil darunter nach links zurück: «Weg von den Fachidioten.» Ein Velo hat jemand gleich dazugemalt, grün. Schwarz auf weiss liest es sich wie eine Parole an einer der Demos, die den Leuten vergangen sind: «PUK-Pflegerinnen: Sagt nein zur Gewalt!»
Weniger kämpferisch, mehr kindlich-ironisch: «Pipi Langstrumpf war mit ihren Freunden wieder da.» Und auf einem blauen Brett weiter daneben steht gleich siebenmal «Nein!» Nein zu Psychopharmaka. Jemand, der sich offensichtlich auskennt, formulierte es darunter trocken, fast wissenschaftlich: «(Psychopharmaka) blockieren die Nervenrezeptoren, entkoppeln Emotion + Intellekt, greifen die Frontallappen an, zerstören Gehirn selber, schädigen den Körper.»
Da kommt ein Herr mit seinem Hund spazieren; er ist Medizinprofessor, sein Fach aber die Chirurgie. Er hat uns auf die Bretterwand aufmerksam gemacht. Und andere kommen vorbei zu Fuss oder auf dem Velo. Und dann und wann tritt jemand aus dem Nebentörchen der «Friedmatt», grüsst, redet ein paar Worte, macht auf einen anderen Satz am fröhlich blau-weissen Brett aufmerksam. Eine Gruppe von jüngeren Frauen und Männern, ein Kind haben sie auch dabei, einen grossen, treuen Hund: «Medis no!» «Das Leben ist kein Ravensburger Spiel... Die Regeln bestimmen wir selber.» Dann biegen sie ab durch das offene Hintertörchen in die Psychiatrie.

Selbstbestimmung beginnt mit...

Während weiter vorne geschrieben steht: «Wenn Psychiater denken könnten, würden sie keine Psychoknäste bauen.» Nun, sie sind es ja nicht, die sie bauen. «Selbstbestimmung beginnt mit...»: Ein riesenrotgemaltes Herz steht da, mit Pfeilen, die aus dem Inneren des Herzens nach allen Seiten ausstrahlen. Und das Gesicht, eines «Verrückten»? Pfeile, die auf den Kopf einschiessen oder -blitzen: «Ist, wer Normen missachtet, eine Gefahr für die Gesellschaft?»
Das R am Ende des Wortes «Willkür» ist grossgeschrieben, noch viel grösser als das W am Anfang: «Willkür, wenn ich in eurer Welt nicht tanzen darf, will ich nicht mitmachen.» Über zwei Bretter, also ein weisses und ein blaues, hinweggeschrieben. Auch das: «Der Mensch ist kein Programm.»

Viele Botschaften auf 50 Metern

An einer Stelle sind rote Spuren von einzelnen Buchstaben die Wand heruntergeflossen, aufgeweicht vom Regen, eingetrocknet. Noch so vieles fällt auf, was da steht auf einer Bretterlänge von mindestens 50 Metern, das meiste ist kleingeschrieben, nicht schreiend, gemalt wie gekritzelt, nicht schnell im Vorbeigehen. So kann es auch nicht schnell gelesen und vergessen werden. «Nur tote Fische schwimmen im Strom. Aber auch die lebenden sind stumm. Sei kein Fisch!»
«Tote Zeit rattert, der Psychogott.» «Diejenigen, die an der generellen Gefühlsarmut litten.» Verziert mit Ornamenten. «Soziale Geborgenheit.» «An den Ufern der Zärtlichkeit und des Traums.» «Wer waren sie denn gewesen?» «Schluss mit der medizinischen Gewalt in der Basler Psychiatrie! Engagement statt Leponex + Haldol!» «Freiheit für Myriam und alle im R.» «Medis machen hässlich. Selbstbefreiung macht gesund.» «Sinn macht Sinn. Organisiert den Widerstand!»
Zehn Bretter breit ist die Wand noch frei. «Weitermalen, freies Atelier!» Eine Aufforderung. Bis jetzt hat noch kein besorgter Bürger dagegen protestiert. Die Putzequipen kommen nicht bis hierher.

Christoph Mangold


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