Reichgeissesbeuren
Nun, Sie werden mir sicher verzeihen, wenn ich mich Ihnen nicht unmittelbar vorstellen
möchte. Ich möchte im Verborgenen bleiben, solange dies notwendig ist.
Auch, wenn Sie jetzt nicht mir mir einverstanden sein sollten, möchte ich Sie
bitten, mir ein paar Zeilen zu erlauben, die den unendlichen Meeren, die darauf folgen,
vorausgestellt werden müssen.
Leben, Liebe, nicht zuletzt auch das Laster gleichen grossen Feldern. Es gibt Äcker,
die bearbeitet werden, die fruchtbar sind, die das Leben im Kleinen hervorbringen
und sich unaufhörlich vermehren. Aber es gibt auch liegengelassene Landschaften,
Brachen.
So in der Liebe: nicht immer nur reife Früchte, die wie goldene reife Äpfel
auf den Erdboden fallen, sondern auch welche, die hängen bleiben, faulen, von
Schimmeln befallen, von Maden zerfressen werden. Niemand pflückt eine solche
Frucht, niemand nimmt sich ihrer an. Erst die ersten Winterfröste scheinen sie
begierlich in sich zu saugen.
Solche Regionen sind geprägt von einfachen Menschen, die täglich hinaus
in die Städte eilen, um dort ebenso einfache Arbeiten zu verrichten, oder sie
gehen ihren bäuerlichen Tätigkeiten nach. Der Ernte zum Beispiel, der Aussaat,
dem Studium der landwirtschaftlichen Fachmagazine oder der
amtlichen Mitteilungsblätter für Angehörige der Landwirtschaftlichen
Genossenschaftsvereinigungen (MfAdLGV).
Ganz wenige (tatsächlich ein verschwindend geringer Anteil), die sich - aus
welchem Grund auch immer - der Mehrheit der Bevölkerung beigemischt haben,
stammen nicht aus diesen Landstrichen.
Manch einer floh aus den Betonschluchten der Städte, andere hatten ihren Traum
von einem Häuschen im Grünen verwirklichen wollen.
Unser Held, Faustus Nitzky, liebte das Gebirge. Er konnte sich kein Leben ohne irgendwelche
Hügel am Horizont vorstellen. Er liebte aber auch Gewitter, Blitz und Donner.
Er liebte das einfache Leben wie das jener einfachen Bauern des Odenwaldes.
So beschloss er denn also eines Tages mit Sack und Pack in jener Gegend heimisch
zu werden.
Er fand ein kleines Häuschen im Grünen in einem sagenreichen Ort namens
Reichgeissesbeuren und ließ sich dort - nicht unbemerkt von seinen neuen Nachbarn
- nieder.
Freilich bedrängten unseren Helden Faustus schon nach einigen Tagen dessen Nachbarsleute
nach seinem Woher. Wie er denn nun wohl heisse und woher er denn schlussendlich stamme,
wer oder was ihn denn geheissen habe, in diese gottverlassene Gegend zu ziehen und:
ob er sich dies wohl alles auch leisten könne? All diese und noch einige mehr
dieser Fragen versuchte Nietzky so gut es ging zu beantworten.
Ferner erfuhr er bei dieser Gelegenheiten auch bereits einige Details über alle
seine neuen Nachbarn. Selbstverständlich von jenem Nachbarn nur die Dinge, die
über den jeweils anderen Nachbarn zu sagen waren. So gehörte die Alte,
die zusammen mit ihrem bösdreinblickenden Sohn an sein ermietetes Grundstück
nördlich grenzte, einer urchristlichen Sekte an. Ebenso deren beiden Schwestern,
die ein paar Strassen weiter im Ort ein Häuschen bewohnten und trotz ihres fortgeschrittenen
Alters, des buckligen Ganges und der scharfen Mundwerkzeuge noch jeweils Jungfern
waren.
Die Alte selbst hatte den Hund des Nachbarn, der südlich an Nietzkysche Grundstück
heranreichte vergiftet und schien auch sonst nicht gerade zart besaitet zu sein.
Wenn sie in ihrem Garten, zwischen den Salatpflanzen Vertreter der Gattung der Nacktschnecken
ausfindig machte, stach sie entweder unerbittlich mit dem Gärtnerspaten zu,
oder beförderte die armen Tiere in einen eigens zu diesem Zwecke bereitgestellten
Behälter, in dem sich eine scharfe Haushaltssäure befand. Da die Alte täglich
im Garten stand, beschloss Faustus Nietzky, ihr dann und wann einen kurzen Besuch
abzustatten.
Zunächst einigte man sich - ohne dass dies einer Erörterung bedurft hätte
- auf die Gesprächsthemen Nacktschnecken, Kartoffelanbau sowie geeignete Bewässerungsverfahren.
Scheinbar beiläufig kam die Alte immer wieder von den Themen ab und erläuterte,
daß ihr Mann bereits schon vor 20 Jahren verstorben sei, Holzfäller seines
Zeichens war und dass sie selbst beim Hitler keiner Jugendorganisation angehört
hätte. Nietzky beeilte sich schnell, ihr seinerseits sein Bedauern über
das frühe Hinscheiden des Gatten zum Ausdruck zu bringen und andererseits
schwor er, nicht im geringsten den Verdacht gehabt zu haben, seine neue Nachbarin
hätte eine hell- oder dunkelbraune Vergangenheit aufzuweisen gehabt (...)
(Fragment - aufgefunden zwischen Kröckelbach und Gumpener Kreuz)