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Vom Steppenwolf (Erzählung von Hermann Hesse, 1927)


Dem rührigen Besitzer einer kleinen Menagerie war es gelungen, für kurze Zeit den bekannten Steppenwolf Harry zu engagieren. Er kündigte dies in der ganzen Stadt durch Plakate an und versprach sich davon einen vermehrten Besuch seiner Schaubude, und in dieser Hoffnung wurde er auch nicht enttäuscht. Überall hatten die Leute vom Steppenwolf sprechen hören, die Sage von dieser Bestie war ein beliebter Gesprächsstoff in den gebildeteten Kreisen geworden, jeder wollte dies oder jenes über dies Tier wissen, und die Meinungen darüber waren sehr geteilt. Einige waren der Ansicht, ein Vieh wie der Steppenwolf sei unter allen Umständen eine bedenkliche, gefährliche und ungesunde Erscheinung, es treibe seinen Hohn mit der Bürgerschaft, reiße die Ritterbilder von den Wänden der Bildungstempel, mache sich sogar über Johann Wolfgang von Goethe lustig, und da diesem Steppenvieh nichts heilig sei und es auf einen Teil der Jugend ansteckend und aufreizend wirke, sollte man sich endlich zusammentun und diesen Steppenwolf zur Strecke bringen; ehe er totgeschlagen und verscharrt sei, werde man keine Ruhe vor ihm haben. Diese einfache, biedere und wahrscheinlich richtige Ansicht wurde aber keineswegs von allen geteilt. Es gab eine zweite Partei, welche einer ganz anderen Auffassung huldigte; diese Partei war der Ansicht, daß der Steppenwolf zwar kein ungefährliches Tier sei, daß er aber nicht nur seine Daseinsberechtigung, sondern sogar eine moralische und soziale Mission habe. Jeder von uns, so behaupteten die meist hochgebildeten Anhänger dieser Partei, jeder von uns trage ja heimlich und uneingestanden so einen Steppenwolf im Busen. Die Busen, auf welche bei diesen Worten die Sprecher zu deuten pflegten, waren hochachtbare Busen von Damen der Gesellschaft, von Rechtsanwälten und Industriellen, und diese Busen waren von seidenen Hemden und modern geschnittenen Gilets bedeckt. Jedem von uns, so sagten diese liberal denkenden Leute, seien im Innersten die Gefühle, Triebe und Leiden des Steppenwolfes recht wohl bekannt, jeder von uns habe mit ihnen zu kämpfen und jeder von uns sei eigentlich im Grunde auch so ein armer, heulender, hungriger Steppenwolf. So sagten sie, wenn sie sich, von den seidenen Hemden bedeckt, über den Steppenwolf unterhielten, und auch viele öffentliche Kritiker sagten so, und dann setzten sie ihre schönen

Filzhüte auf, zogen ihre schönen Pelzmäntel an, stiegen in ihre schönen Automobile und fuhren zurück an ihre Arbeit, in ihre Bureaus und Redaktionen, Sprechzimmer und Fabriken. Einer von ihnen machte sogar eines Abends beim Whisky den Vorschlag, einen Verein der Steppenwölfe zu gründen.


Am Tage, an dem die Menagerie ihr neues Programm eröffnete, kamen denn auch viele Neugierige, um das berüchtigte Tier zu sehen, dessen Käfig nur gegen einen Extragroschen gezeigt wurde. Einen kleinen Käfig, den vormals ein Unternehmer nach Möglichkeit dem Anlaß entsprechend ausgestattet. Der rührige Mann war dabei ein wenig in Verlegenheit gewesen, denn immerhin war dieser Steppenwolf ein etwas ungewohntes Tier. So wie jene Herren Anwälte und Fabrikanten hinter Hemd und Frack angeblich einen Wolf in der Brust verborgen trugen, so trug angeblich dieser Wolf hier in seiner festen haarigen Brus heimlich eien Menschen verborgen, differenzierte Gefühle, Mozartmelodien und dergleichen. Um den ungewöhnlichen Umständen und den Erwartungen des Publikums möglichst Rechnung zu tragen, hatte der kluge Unternehmer (welcher seit Jahren wußte, daß auch die wildesten Tiere nicht so launisch, gefährlich und unberechenbar sind wie das Publikum) dem Käfig eine etwas sonderbare Ausstattung gegeben, indem er einige Embleme des Wolfsmenschen darin anbrachte. Es war ein Käfig wie alle anderen, Eisengitter und etwas Stroh am Boden, aber an einer der Wände hing ein hübscher Empirespiegel, und mitten im Käfig war ein kleines Klavier aufgestellt, ein Pianino, mit offener Tastatur, und oben auf dem etwas wackligen Möbel stand eine Gipsbüste des Dichterfürsten Goethe.




An dem Tier selbst, das so viel Neugierde erregte, war durchaus nichts Auffallendes wahrzunehmen. Es sah genau so aus wie eben der Steppenwolf, lupus campestris, aussehen muß. Er lag meistens regungslos in einer Ecke, möglichst weit von den Zuschauern enfernt, kaute an seinen Vorderpfoten und starrte vor sich hin, als wäre da statt der Gitterstäbe die ganze unendliche Steppe. Zuweilen stand er auf und ging einige Male im Käfig auf und ab, dann wackelte auf dem unebenen Boden das Pianino, und oben wackelte der gipserne Dichterfürst bedenklich mit. Um die Besucher kümmerte sich das Tier wenig, und die meisten waren eigentlich von seinem Anblick eher enttäuscht. Aber auch über diesen Anblick gab es verschiedene Meinungen. Viele sagten, das Tier sei eine ganz gewöhnliche Bestie, ohne Ausdruck, ein stumpfsinniger ordinärer Wolf und damit basta, und «Steppenwolf» sei überhaupt kein zoologischer Begriff. Dagegen behaupteten andere, das Tier habe schöne Augen und sein ganzes Wesen drücke eine ergreifende Beseeltheit aus, daß es einem vor Mitgefühl das Herz umdrehe. Den paar Klugen blieb indes nicht verborgen, daß diese Äußerungen über den Anblick des Steppenwolfes ebensogut auf jedes andere Tier in der Menagerie gepaßt hätten.


Gegen Nachmittag wurde der abgesonderte Raum der Schaubude, der den Wolfskäfig enthielt, von einer kleinen Gruppe besucht, die sich lange bei seinem Anblick auffhielt. Es waren drei Menschen, zwei Kinder und eine Erzieherin. Von den Kindern war das eine ein hübsches, ziemlich schweigsames Mädchen von acht Jahren, das andre ein etwa zwölfjähriger kräftiger Knabe. Beide gefielen dem Steppenwolf gut, ihre Haut roch jung und gesund, nach den schönen straffen Beinen des Mädchens äugte er häufig hinüber. Die Gouvernante, nun ja, das war etwas anderes, es schien ihm besser, sie möglichst wenig zu beachten.

Um der hübschen Kleinen näher zu sein und sie besser zu riechen, hatte der Wolf Harry sich dicht an das Gitter der Schauseite gelagert. Während er mit Vergnügen die WItterung der beiden Kinder einsog, hörte er etwas gelangweilt den Äußerungen der drei zu, die sich sehr für Harry zu interessieren schienen und sich höchst lebhaft über ihn unterhielten. Ihr Verhalten war dabei sehr verschieden. Der Knabe, ein schneidiger und gesunder Kerl, teilte durchaus die Ansicht, welche er zu Hause seinen Vater hatte äußern hören. Solch ein Wolfsvieh, meinte er, sei hinterm Gitter einer Menagerie gerade am richtigen Ort, ihn dagegen frei herumlaufen zu lassen, wäre eine unverantwortliche Torheit. Eventuell könne man ja den Versuch machen, ob das Tier sich dressieren lasse, etwa zum Schlittenziehen wie ein Polarhund, aber es werde schwerlich gelingen. Nein, er, der Knabe Gustav, würde diesen Wolf, wo immer er ihm begegnen würde, ohne weiteres niederknallen.


Der Steppenwolf hörte zu und leckte sich freundlich das Maul. Der Knabe gefiel ihm. »Hoffentlich«, dachte er, »wirst du, falls wir uns einmal plötzlich begegnen, auch eine Flinte zur Hand haben. Und hoffentlich begegne ich dir draußen in der Steppe und trete dir nicht etwa einmal unvermutet aus deinem eigenen Spiegel entgegen.« Der Jungewar ihm sympathisch. Er würde ein schneidiger Kerl werden, ein tüchtiger und erfolgreicher Ingenieur oder Fabrikant oder Offizier, und Harry würde nichts dagegen haben, sich gelegentlich mit ihm zu messen und nötigenfalls von ihm niedergeschossen zu werden.


Wie das hübsche kleine Mädchen sich zum Steppenwolf stellte, war nicht so leicht zu erkennen. Es schaute ihn sich zunächst einmal an und tat das viel neugieriger und gründlicher, als die beiden andern es taten, welche alles über ihn schon zu wissen glaubten. Das kleine Mädchen stellte fest, daß Harrys Zunge und Gebiß ihr gefielen, und auch seine Augen sagten ihr zu, während sie den etwas ungepflegten Pelz mit Mißtrauen betrachtete und den scharfen Raubtiergeruch mit einer Erregung und Befremdung wahrnahm, in welcher Ablehnung und Ekel mit nuegieriger Lüsternheit vermischt waren. Nein, im ganzen gefiel er ihr, und es entging ihr keineswegs, daß Harry ihr sehr zugetan war und sie mit bewundernder Begierde ansah; sie sog seine Bewunderung mit sichtlichem Behagen ein. Hier und da stellte sie eine Frage.
»Bitte Fräulein, warum muß denn dieser Wolf ein Klavier im Käfig haben?« fragte sie. »Ich glaube, es wäre ihm lieber, wenn er etwas zu fressen drin hätte.«
»Es ist kein gewöhnlicher Wolf«, sagte das Fräulein, »es ist ein musikalischer Wolf. Aber das kannst du noch nicht verstehen, Kind.«


Die Kleine verzog den hübschen Mund ein wenig und sagte: »Es scheint wirklich so, als ob ich vieles noch nicht verstehen könnte. Wenn der Wolf musikalisch ist, so soll er natürlich ein Klavier haben, meinetwegen zwei. Aber daß auf dem Klavier auch noch so eine Figur stehen muß, finde ich schon komisch. Was soll er mit ihr anfangen, bitte?«
»Es ist ein Symbol«, wollte die Erzieherin zu erklären beginnen. Aber der Wolf kam der Kleinen zu Hilfe. Er blinzelte sie aus verliebten Augen höchst offenherzig an, dann sprang er auf, daß alle drei einen Augenblick erschrake, reckte sich lang und hoch und begab sich zum wackligen Klavier, an dessen Kante er sich zu reiben und zu scheuern begann, und dies tat er mit zunehmender Kraft und Heftigkeit, bis die wacklige Büste das Gleichgewicht verlor und herunterstürzte. Der Boden dröhnte, und der Goethe zerfiel, gleich dem Goethe mancher Philologen, in drei Teile. An jedem dieser drei Teile roch der Wolf einen Augenblick, wandte ihnen dann gleichgültig den Rücken und kehrte in die Nähe des Mädchens zurück.


Jetzt trat die Erzieherin in den Vordergrund der Ereignisse. Sie gehörte zu denen, welche trotz Sportkleid und Bubikopf in ihrem eigenen Busen einen Wolf entdeckt zu haben meinten, sie gehörte zu den Leserinnen und Verehrerinnen Harrys, für dessen Seelenschwester sie sich hielt; denn auc sie hatte allerlei verkniffene Gefühle und Lebensprobleme in ihrer Brust. Eine schwache Ahnung sagte ihr zwar, daß ihr wohlgehütetes, geselliges und gutbürgerliches Leben doch eigentlich keine Steppe und keine Einsamkeit sei, daß sie niemals den Mut oder die Verzweiflung aufbringen würde, dies wohlbehütete Leben zu durchbrechen und gleich Harry den Todessprung ins Chaos zu wagen. O nein, das würde sie natürlich niemals tun. Aber stets würde sie dem Steppenwolfe Sympathie und Verständnis entgegenbringen, und sehr gerne hätte sie ihm das auch gezeigt. Sie hatte grosse Lust, diesen Harry, sobald er wieder Menschgestalt annähme und einen smoking trüge, etwa zu einem Tee einzuladen oder vierhändig mit ihm Mozart zu spielen. Und sie beschloß, nach dieser Richtung einen Versuch zu wagen.


Die kleine Achtjährige hatte inzwischen dem Wolf ihre ungeteilte Zuneigung geschenkt. Sie war entzückt darüber, daß das kluge Tier die Büste umgeworfen hatte, und begriff sehr genau, daß dies ihr galt, daß er ihre Worte verstanden und für sie gegen die Erzieherin deutlich Partei ergriffen hatte. Würde er wohl auch noch das dumme Klavier demolieren? Ach er war großartig, sie hatte ihn einfach gern.


Harry hatte indessen das Interesse fürs Klavier verloren, er hatte sich dicht vor dem Kinde, ans Gitter gepreßt, niedergekauert, hatte die Schnauze ganz am Boden wie ein schmeichelnder Hund zwischen den Stäben dem Mädchen zugekehrt und sah sie werbend aus entzückten Augen an. Da konnte das Kind nicht widerstehen. Es streckte gebannt und vertrauensvoll sein Händchen aus und streichelte die dunkle Tiernase. harry aber äugelte ihr aufmunternd zu und begann ganz sachte die kleine Hand mit seiner warmen Zunge zu lecken.




Als dies die Gouvernante sah, war ihr Entschluß gefaßt. Auch sie wollte sich dem Harry als verständnisvolle Schwester zu erkennen geben, auch sie wollte sich mit ihm verbrüdern. Eilig nestelte sie ein kleines elegantes Päckchen aus Seidenpapier und Goldfaden auf, enthülste aus Stanniol einen hübschen Leckerbissen, ein Herz aus feiner Schokolade und streckte es mit bedeutungsvollem Blick dem Wolfe hin.


Harry blinzelte und leckte still an der Kinderhand; gleichzeitig achtete er haarscharf auf jede Bewegung der Gouvernante. Und genau in dem Augenblick, wo deren Hand mit dem Schokoladeherzen nahe genug war, schnappte er blitzschnell zu und hatte Herz und hand zwischen den blanken Zähnen. Die drei Menschen schrien alle gleichzeitig auf und sprangen zurück, aber die Erzieherin konnte nicht, sie war von ihrem Bruder Wolf gefangen, und es dauerte noch bange Augenblicke, bis sie ihre blutende Hand loszerren und entsetzt betrachten konnte. Die war durch und durch gebissen.


Nochmals schrie das arme Fräulein gellend auf. Von ihrem Seelenkonflikt aber war sie in diesem Augenblick vollständig geheilt. Nein, sie war keine Wölfin, sie hatte nichts mit diesem rüden Scheusal gemein, das jetzt interessiert an dem blutigen Schokoladenherzen schnupperte. Und sie setzte sich sogleich zur Wehr.


Inmitten der fassungslosen Gruppe, die sich alsbald um sie gebildet hatte und in welcher der schreckensbleiche Menageriebesitzer ihr Gegenspieler war, stand das Fräulein hochaufgerichtet, hielt die blutende Hand von sich ab, um das Kleid zu schonen, und beteuerte, mit blendender Rednergabe, daß sie nicht ruhen werde, bis dies rohe Attentat gerächt sei, und ma werde sich wundern, welche Summe an Schadenersatz sie für die Entstellung ihrer schönen und des Klavierspielens kundigen Hand verlangen werde. Und der Wolf müsse getötet werden, darunter tue sie es nicht, man werde schon sehen.


Schnell gefaßt, machte der Unternehmer sie auf die Schokolade aufmerksam, die noch vor Harry lag. Das Füttern der Raubtiere sei durch Plakat aufs strengste verboten, er sei jeder Verantwortung enthoben. Sie möge ihn nur ruhig verklagen, kein Gericht der Welt würde ihr recht geben. Übrigens sei er haftpflichtversichert. Die Dame möge doch lieber zum Arzt gehen.


Das tat sie auch; aber vom Arzt fuhr sie, kaum war die Hand verbunden, zu einem Advokaten. Harrys Käfig wurde an dem folgenden Tag von Hunderten besucht.


Der Prozeß aber zwischen der Dame und dem Steppenwolf beschäftigt seither Tag für Tag die Öffentlichkeit. Die klagende Partei nämlich macht den Versuch, den Wolf Harry selbst, und erst an zweiter Stelle den Unternehmer, haftbar zu machen. Denn, so führt die Klageschrift weitläufig aus, dieser Harry sei keineswegs als verantwortungsloses Tier zu betrachten; es führe einen richtigen, bürgerlichen Eigennamen, sei nur zeitweise als Raubtier in Stellung und habe seinen eigenen Memoiren als Buch herausgegeben. Mag das zuständige Gericht nun so oder so entscheiden, der Prozeß wird ohne Zweifel durch alle Instanzen bis vor das Reichsgericht gelangen.


Wir könne also in absehbarer Zeit von der maßgebendsten amtlichen Stelle eine endgültige Entscheidung über die Frage erwarten, ob der Steppenwolf nun eigentlich ein Tier sei oder ein Mensch.