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Leserbrief zu Lupos Leserbrief zu: "Die Befreiung der Arbeiterklasse muss das Werk der Arbeiterklasse sein"

"Wenn man Engels 'Die Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft', Lenins 'Was tun?' und 'Staat und Revolution' gelesen hätte, wüßte man, daß der Staat das politische Machtinstrument der herrschenden Klasse ist und es im Sozialismus die Macht der Werktätigen ist." "Man" hat alle diese Werke und noch einige mehr gelesen (außerdem war unsereins jahrelang Mitglied in einer leninistischen Organisation). Aber was beweisen diese Schriften? Sie sagen nichts über die tatsächlichen Verhältnisse in der SU oder sonstwo. Was ist das für eine sonderbare Argumentation, mit der Lupo (im Folgenden nur noch L.) beweisen will, daß die Arbeiterklasse in den Ländern des Ostblocks die Macht hatte und in Kuba noch heute hat? Es beweist weiter gar nichts, als daß L. die Schriften seiner "Klassiker" ernster nimmt als die sozialen Realitäten in diesen Ländern. In diesen Ländern waren bzw. sind sich "kommunistisch" nennende Parteien an der Macht und das kapitalistische Privateigentum an den Produktionsmitteln war bzw. ist zugunsten eines Staatseigentums aufgehoben. Rein juristisch (nach den Gesetzen, den Reden der KPen und den Verfassungen) befand sich alles Eigentum in den Händen der Arbeiterklasse. Aber faktisch hat sich für die Arbeiter in diesen Ländern prinzipiell nichts geändert. L. schreibt: "Denn wem gehören die Betriebe, Bildungs- und Kultureinrichtungen? Doch wohl dem Volk! Wem kommt denn der erwirtschaftete Mehrwert zugute in Form von kostenloser medizinischer Versorgung, Bildung, Sozialleistungen etc. Doch auch dem Volk!" Dieser Argumentation folgend könnte man fast wie Öcalan (PKK) die BRD in ihren besseren Jahren als "sozialistisch" bezeichnen, da sie beinahe ebensolche sozialstaatlichen Leistungen erbrachte und z.T. heute noch erbringt. Sozialismus bedeutet unserer Meinung nach aber in den hochindustrialisierten Ländern mehr als eine Reduzierung auf einen Sozial- oder Wohlfahrtsstaat. In der DDR existierte ebenfalls eine Bürokratie, die nicht produktiv arbeiten mußte und welche einen Teil des von der arbeitenden Bevölkerung erwirtschafteten Mehrwerts einsackte. Wenn der "Mehrwert" dem Volk zugute kam, warum gab es dann große Lohnunterschiede oder Direktorenfonds (so erhielten in den 30ern Direktoren zusätzlich Zehntausende Rubel als Fonds während der damalige Monatslohn eines Arbeiters gerade mal 200 Rubel betrug)?

Red Devil schreibt dazu in der Broschüre zum 17. Juni 1953: "Wenn wir hier von der DDR als einem staatskapitalistischen System sprechen, so weil in der DDR ebenso wie in den anderen osteuropäischen Staaten zwar das Privateigentum an Produktionsmitteln und mit ihm zwar die Klasse der privaten Kapitalisten abgeschafft wurde, aber statt einer durch Arbeiterselbstverwaltung gekennzeichneten Wirtschaft eine zentrale Verwaltungswirtschaft aufgebaut wurde, in welcher der Staat an die Stelle der privaten Kapitalisten trat, die Bürokraten zu seinen Managern wurden und diese voll die Befugnisse der ausbeutenden Klasse wahrnahmen. Die Bürokratie verfügte als Kollektiv über das Staatseigentum, ‚besaß' es auf diese Weise." (aus Red Devil, 17. Juni 1953 - Arbeiteraufstand oder Konterrevolution?", S. 11). Wozu brauchte die Arbeiterklasse eine Partei und ein Scheinparlament (die Volkskammer) nach bürgerlichem Vorbild mit einer "nationalen Front", wenn doch die Arbeiterklasse angeblich selbst die Macht in Händen hatte? Wo waren die Räte und Fabrikkomitees? Was bitte schön waren denn die Aufstände von Kronstadt 1921, DDR 1953 oder Ungarn 1956 anderes als Klassenkampf? Die Wirklichkeit in der SU und in den anderen staatskapitalistischen Ländern stand und steht im Widerspruch zur Befreiung der Arbeiterklasse.

Aber mit einem hat L. Recht, wenn er von der Rolle des Staates schreibt. Der Staat ist in der Tat das "Machtinstrument [und nicht nur das "politische"] der herrschenden Klasse" und das traf und trifft auch auf die Länder des staatskapitalistischen Blocks zu. Denn wer hatte die wirkliche Verfügungsgewalt? Wer stellte die Pläne auf? Wer leitete die Betriebe? Wer bestimmte die Arbeitsbedingungen und wofür der gesellschaftliche Reichtum verwendet wurde? Bestimmt nicht die Arbeiterklasse, aber ganz bestimmt die neue Klasse der Bürokraten, für die der Marxismus in Form der Werke der "Klassiker" nur noch Legitimation ihrer Herrschaft als Klasse war und ist.

Zum Arbeiteraufstand am 17. Juni 1953: L. bedient sich der offiziellen SED-Darstellungen. Für ihn ist es also "kein Geheimnis", daß "die in Ostberlin Demonstrierenden zu fast 80 % Westberliner waren und viele von der Volkspolizei Verhaftete US-, GB- und F-Bürger waren [die Zahlen der SED lauteten damals auf 95 bis 99 % und nicht 80%; die Zahlen in den SED-Archiven und die Augenzeugenberichte belegen heute allerdings etwas anderes - e. R.]. Also die westlichen Besatzer in zivil!" 1953 wurden laut L. also sage und schreibe 327 (!) Angehörige der westlichen Streitkräfte in der DDR festgenommen (Von den bis zum 22. Juni 1953 6.057 in der DDR festgenommenen Personen waren 5.777 Bürger der DDR, 42 Bürger der BRD und 238 Westberliner; 78, 3 % waren Arbeiter oder Angestellte; rund 500.000 Arbeiter haben damals gestreikt, fast ebensoviele demonstriert - Zahlen, die aufgrund der Akten der DDR-Archive ermittelt sind, laut Torsten Diedrich "Der 17. Juni 1953 in der DDR"). Warum wird das Hauptaugenmerk auf diese paar "westlichen Agenten" gelenkt und die Bewegung so ihres Charakters nach verfälscht? Was ist mit den Hunderttausenden Streikenden und Demonstrierenden? Alles eingeschleuste "Konterrevolutionäre"? Warum wird von L. auf ihre Forderungen nicht eingegangen? Warum verliert L. kein Wort darüber, daß auch Tage nach dem 17. Juni 1953 in der DDR Streiks an der Tagesordnung waren? Wozu bedurfte es nach den Juni-Ereignissen härterer Gesetze und eines Ausnahmezustandes, wenn es sich um eine "Minderheit" handelte? Warum wußte die sonst so gut informierte Stasi von dem "von langer Hand geplanten" "konterrevolutionären" Aufstand in der DDR nichts? Warum hätten die Arbeiter streiken sollen, wenn sie doch in einem Paradies lebten? Fragen über Fragen, auf welche die Partei keine Antworten wußte und weiß, außer der der Verleumdung und der Repression. Sicher waren viele Arbeiter in der DDR verwirrt oder voller Illusionen (angesichts 12 Jahren Faschismus, der nationalistischen SED-Politik, der Bürokratisierung der Partei, etc.), was sich z.T. in Forderungen nach Parlamentswahlen oder der nach Neugründung der SPD niederschlug. Aber all das kann nicht darüber hinwegtäuschen, daß der 17. Juni ein Teil des Klassenkampfes der ostdeutschen Arbeiterklasse gegen ihre neuen Ausbeuter war (das belegen die Forderungen und die Streikkomittees in vielen Betrieben - was das angeht sind Benno Sarels Buch "Arbeiter gegen den ‚Kommunismus'" und die in der Bibliothek des Widerstandes erschienene Broschüre sehr empfehlenswert).

Zur Rolle der KPD in Deutschland: Sicher hat die KPD wie die Arbeiterbewegung insgesamt die größten Opfer im Kampf gegen die Nazis zu verzeichnen gehabt. Was sind dagegen die paar Pfaffen, Militärs und Kapitalisten wie Bonhoeffer, Stauffenberg und Schindler, auf die sich die BRD heute so gern beruft? Aber die KPD hat ebenso wie die SPD eine nicht geringe Mitverantwortung für den Sieg des Faschismus in Deutschland. Nicht zu unterschätzen ist z.B. auch die Kampagne der KPD zur "nationalen und sozialen Befreiung" Deutschlands, welche den Nazis durch national-revolutionäres Geschwafel Gefolge abringen sollte. Der Mythos der antifaschistischen KPD und SU sollte vor dem Hintergrund der Erfahrungen Spaniens und der Tatsache, daß Stalin und die Bürokratie Hunderttausende Kommunisten im In- und Ausland einsperren und töten ließen (erinnert sei auch an den Hitler-Stalin-Pakt), einer den geschichtlichen Tatsachen angemesseneren Sichtweise weichen. In der SU wurde der 2. Weltkrieg nicht von einem internationalistischen Standpunkt aus geführt. Die KP schickte die russischen Arbeiter und Bauern unter der Parole "Für das Vaterland, für Stalin" in den "Großen Vaterländischen Krieg", der auch auf Seiten der SU ein nationalistischer und imperialistischer war. An die Stelle der internationalistischen Parole "Klasse gegen Klasse" trat großrussischer Nationalismus und Panslawismus, der in Stalins Sprachrohr Ilja Ehrenburg seinen Höhepunkt fand. "Erschieße den Deutschen! Schlag den Deutschen nieder! Zerbrecht mit Gewalt den rassischen Hochmut der germanischen Frauen. Nehmt sie wie eine legitime Beute! Tötet, tötet, mutige Soldaten der roten Armee!" oder "Für unsere Soldaten gibt es nichts Lustigeres als deutsche Leichen .." hieß es aus seinem Munde. Es waren die KPen, welche zwar einen Großteil der Opfer im Kampf gegen den deutschen Faschismus trugen; gleichzeitig praktizierten sie selbst eine nationalistische (anti-deutsche) Politik. Im Gegenzug dazu übten Hunderttausende Arbeiter praktische internationalistische Solidarität: ob nun die Amsterdamer Hafenarbeiter, die KZ-Häftlinge von Buchenwald, viele Trotzkisten, Rätekommunisten und Anarchosyndikalisten oder die multinationalen Partisanen in Jugoslawien, welche sich praktisch der nationalistischen Ideologie versagten.

L. meint: "An den Kommunistischen Parteien nach ´45 war bis zum 20. Parteitag der KPdSU 1956 kaum was auszusetzen! Aber die KPD, später die DKP, PCI (Italien), PCE (Spanien) PCC (Kuba) usw. hatten und haben auch heute meiner Meinung nach den richtigen politischen Kurs." Wo bestand die prinzipielle Änderung in der Politik der SU, welche das Jahr 1956 so bedeutend macht? Was ist an einer DKP "revolutionär", die zu bürgerlichen Wahlen antritt, also anstatt den bürgerlichen Wahlzirkus zu entlarven als eines seiner linken Feigenblätter (wie MLPD, SAV oder SpAD) dient? Was ist an einer DKP "revolutionär", die "soziale Gerechtigkeit, Demokratie und Frieden" fordert und das Grundgesetz als Argument für das Verbot von Nazi-Organisationen heranzieht, auf dessen Grundlage jede Tätigkeit von revolutionären Sozialisten verfolgt werden könnte? Ihre "revolutionäre" Politik beweist die PCI nicht allein durch den "Compromesso storico" (historischen Kompromiß), als die "Kommunisten" den Christdemokraten der DC den Vorschlag einer Zusammenarbeit auf Regierungsebene unterbreiteten. Worin besteht der "richtige politische Kurs" der PCC, die ausländisches Kapital nach Kuba holt und kubanische Arbeiter zu Niedriglöhnen feilbietet? Was ist "revolutionär" an der PCC, welche in den 60ern als Ziel die "Eliminierung der Homosexuellen" (Blas Roca) hatte und Homosexualität als "abnormes Sexualverhalten" verfolgte?

"Die reformistische KPF nahm ihren auch heute noch reformistischen Kurs schon in den 60er Jahren an ... Auch die DKP kritisiert die KPF regelmäßig." Wenn die KPF also bis in die 60er nicht reformistisch war, muß sie bis dahin revolutionär gewesen sein. D.h. für L. ist ihre zeitweise fehlende Kritik an Nazi-Deutschland (erst mit dem Überfall auf die SU fing die KPF an Nazi-Deutschland als Feind anzusehen), die Beteiligung am bürgerlichen Widerstand der Resistance (dieser Widerstand hatte klar nationalistische Züge ("Jedem Franzosen sein Boche"), hatte nichts mit einer internationalistischen Haltung zu tun und war ein gutes Beispiel der Klassenkollaboration der KPF), die Beteiligung an der bürgerlichen Koalitionsregierung unter de Gaulle, die Rolle während des Algerienkrieges, etc. revolutionär. Die KP-nahe Gewerkschaft CGT offenbarte ihren "revolutionären" Standpunkt z.B. durch die Äußerung ihres einstigen Sekretärs Montmousseau: "Der Streik ist die Waffe der Konzerne und der Feinde der Arbeiterklasse." (diese Auffassung vertrat sie solange die KPF in der Regierung war). Postangestellte, die es 1946 wagten zu streiken, wurden als Faschisten beschimpft. Die Rolle der KPF 1968 ist an anderer Stelle analysiert worden (z.B. im RT # 11). Die CGT forderte damals ganz offen das Verbot der kleinen linksradikalen Gruppen und offenbarte so ihre offen konterrevolutionäre Rolle. Bereits 1945 hatte der Vorsitzende der KPF, Thorez, nach der Auflösung der Arbeitermilizen erklärt: "Ein Staat, eine Armee, eine Polizei!" und legitimierte somit den bürgerlichen Wiederaufbau. "Produzieren, produzieren und nochmals produzieren - das muß die höchste Form eurer Klassenpflicht sein", verkündete Thorez ebenso 1945. Wahrlich, an der KPF (die ich hier beispielhaft für die Politik der KPen anderer Länder anführe) wie auch an den anderen "kommunistischen" Parteien war und ist "kaum was" auszusetzen!

Was änderte sich so gravierend an der Politik der KPdSU, daß diese ab 1956 auf einmal "konterrevolutionär" wurde? Was änderte sich in den 60ern an der Politik der KPF, daß diese plötzlich als "reformistisch" einzuschätzen ist? Die von L. genannten Daten sind rein schematisch und willkürlich.

Wie in Frankreich die Forderung der KPF 1968 nach einer klassenübergreifenden "Volksregierung" die logische Folge der bürgerlichen Volksfront-Ideologie der 30er war, ist dies heute die Politik der breiten Bündnisse der DKP im Kampf gegen die Nazis, etc. Die DKP, die in Deutschland wie Dutzende anderer kleiner linker Gruppen und Parteien für sich in Anspruch nimmt den richtigen Weg zu beschreiten, hat immer wieder unmißverständlich deutlich gemacht, was Sozialismus für sie heißt. So ist etwa in dem Buch der Parteitheoretiker Gerns, Steigerwald und Weiß, "Opportunismus heute" (S. 212), zu lesen: "Auch Lenin hat sich seinerzeit, insbesondere während des 10. Parteitags der KPdSU, mit der Gruppe ‚Arbeiter-Opposition' auseinandergesetzt, die damals bereits im Grunde die oben kritisierten Theorien von der 'Basisdemokratie', von der 'Produzentendemokratie' vertrat. Gegen sie gewandt wies er darauf hin, daß die Übertragung der Wirtschaftsführung auf die direkten Produzenten den Verlust der wesentlichen Vorteile des Sozialismus mit sich bringen würde: den Verzicht auf Koordinierung, auf Planung im Volksinteresse." Der Leser möge sich dieses Zitat auf der Zunge zergehen lassen. Sozialismus bedeutet also für die DKP wie für andere leninistische Gruppen, ob sie sich nun "revolutionär" gebärden oder "reformistisch" dröge wie die DKP rüberkommen, eine staatliche Angelegenheit (im Endeffekt ein "besserer", weil rationellerer und effektiverer Kapitalismus). Die Arbeiterklasse bleibt erneut Objekt der Entscheidungen anderer: im privaten Kapitalismus Objekt der Entscheidungen der privaten Kapitalisten, in den staatskapitalistischen Ländern Objekt der (Planungs- und Partei-)Bürokratie. Der Sinn des Sozialismus, die Selbstverwaltung aller Angelegenheiten durch die Menschen selbst, bleibt dabei auf der Strecke und ist eindeutig nicht erwünscht.

Spätestens seit dem Ende des 2. Weltkrieges unterscheidet die "kommunistischen" Parteien im Westen nur noch wenig von der Sozialdemokratie. In ihrer Praxis sind sie reformistische Parteien gewesen, die an kapitalistischen Regierungen teilnahmen und die bürgerliche Demokratie verteidigten (z.B. gegen die Nazis). Der endgültige ideologische Verfall ist in der offenen Zusammenarbeit russischer Stalinisten mit Nazis und Zaristen zu sehen, weil sie der Wunsch nach einem großen und starken Rußland eint. Auf der anderen Seite offenbart die KPF heute ihre Offenheit auch dem Christentum gegenüber. Eine Ausstellung über Jesus weilte letztens in der Pariser Parteizentrale. Die Staatsfixierung eint sie alle, ob sie sich nun "revolutionär" oder "reformistisch" geben.

Zu der leidigen Kronstadt-Diskusion nur soviel: Wenn es "viele Dokumente" gibt, die angeblich die "Zusammenarbeit mit Weißgardisten" belegen, warum ist mir dann kein einziges solches bekannt? Oder müssen als Beweise Zitate und Artikel Lenins, Stalins und Trotzkis herhalten? Viel wichtiger noch: Wenn wir die historischen Tatsachen, das Handeln und die Forderungen der Kronstädter betrachten, läßt sich die leninistische Verleumdung der Kronstädter als "Konterrevolutionäre" nicht aufrechterhalten. Bereits Lenin hat selbst zugegeben: "In Kronstadt will man die Weißgardisten nicht, will man unsere Macht nicht - eine andere gibt es aber nicht." Das zeigt, daß das Gerede von dem "Aufstand der Weißgardisten" reine Propaganda war. Auch die bolschewistische Zeitung "Nowij Put" mußte in Bezug auf die Kronstädter zugeben: "Sie schrieben dieselbe halb anarchistische, halb kommunistische Losung auf ihre Fahne, welche die Bolschewiki selbst vor drei und einem halben Jahre, am Tage nach der Oktober-Revolution verkündet hatten [die Losung "Alle Macht den Räten!" ist gemeint - e.R.]... Wir haben es hier mit einem Aufstand von links und nicht mit einer Erhebung von rechts zu tun." (Wer mehr zum Kronstädter Aufstand erfahren möchte, kann das durch unsere Broschüre "Die Kronstadt-Rebellion. Alle Macht den Sowjets, nicht den Parteien!" - die Redaktion!)

Zur Parteifrage: "Eine kommunistische Partei ist notwendig für die Arbeiterbewegung, denn sie hat die Aufgabe das Proletariat zum Sieg zu führen, im marxistisch - leninistischen Sinne zu bilden und sich an den progressiven sozialen Abwehrkämpfen zu beteiligen. Alle Forderungen nach Organisationslosigkeit, Parteilosigkeit sowie sofortiger Staatslosigkeit sind Zeichen marxistischer Wissensdefizite und revolutionärer Ungeduld. Zu diesem Thema gibt's ein sehr gutes Buch von Wolfgang Harich ‚Kritik der revolutionären Ungeduld'." 1. war es gerade die Partei, die sich als "Avantgarde" verstand, welche die Arbeiterklasse unter dem Deckmantel eines "Arbeiterstaates" und dem Verwenden "sozialistischer" Rhetorik und Rituale neu versklavte; 2. beinhaltet ein solcher Avantgarde/Führungsanpruch bereits die Gefahr der Herausbildung einer neuen Klasse. Die Partei ist Ausdruck der Verbürgerlichung. Durch sie wird die Trennung der kapitalistischen Gesellschaft reproduziert: diesmal in Experten ("Führer") und Basis ("Geführte"). Somit stellt die Partei den Kern eines neuen Staates und einer neuen herrschenden Klasse dar; 3. verwechselt L. die Ablehnung der Partei mit der Ablehnung jeglicher Organisation bzw. Organisierung. Auch Rätekommunisten haben sich ebenso wie das Proletariat eigenständig organisiert. Nur halten wir es für falsch einen Avantgarde-Anspruch zu vertreten. Der Sozialismus kann nur durch die Klasse selbst, deren Teil wir sind, erkämpft und geschaffen werden. Im Gegensatz zu den Leninisten gehen wir aufgrund der historischen Erfahrungen davon aus, daß es ohne revolutionäre Praxis keine revolutionäre Theorie geben kann (aber Lenin hat genau die gegenteilige Ansicht vertreten). Die Partei sieht sich als "Lehrerin" und "Erzieherin" der Klasse, dabei war es stets die Klasse, welche durch ihre Erfahrungen und Kämpfe neue revolutionäre Perspektiven aufgezeigt und neue Organisationsformen entwickelt hat (so z.B. die Pariser Kommune 1871, die Räte in Rußland 1905 und 1917 und die dortigen Fabrikkomitees). Wir sehen uns als Teil der Klasse und nicht als ihre "Avantgarde". Als ihr Teil organisieren wir uns und versuchen, soweit uns dies möglich ist, die Selbstorganisation und Selbstbefreiung der Arbeiterklasse zu fördern. 4. äußert sich unserer Meinung nach in der Ansicht, der Staat sei notwendig im Sozialismus, die mangelnde Fähigkeit sich jenseits bürgerlicher Organisationsformen zu organisieren. Und warum sollten gerade Sozialisten in den Rängen des Staates nicht Opfer ihrer neuen sozialen Lage werden können? Es ist schließlich das Sein, welches das Bewußtsein prägt und nicht umgekehrt. Auch der private Kapitalismus korrumpiert die Menschen, egal ob sie sich als dieser Tendenz gegenüber unanfällig halten und dies wahrhaben wollen oder nicht (beste Beispiele sind in heutigen Tagen die Grünen, die PDS, etc.). Warum sollen auf Marxisten nicht die gleichen Faktoren wirken wie auf "normale" Menschen?

In Bezug auf den Avantgarde-Gedanken hat Lenin auf dem IX.Parteitag der Bolschewiki formuliert: "... der Staat das sind die Arbeiter, der vorgeschrittenste Teil der Arbeiter, die Avantgarde, das sind wir.". 1920 hatte Trotzki in seinem Buch "Terrorismus und Kommunismus" davon geschrieben, daß das "letzte Wort dem Zentralkomitee der Partei" gehöre. Und was ist mit der Arbeiterklasse? Wer baut denn nun den Sozialismus auf: die Arbeiterklasse oder die Partei im Namen eben dieser? Die praktische Politik der Bolschewiki gab darauf eine unmißverständliche Antwort. Lenin hatte den Sozialismus als "staatlichen Monopolkapitalismus" bezeichnet, der dem "ganzen Volk zugute" komme. Als neue Herren dieses Kapitalismus kollidierten die Interessen ihre Klasseninteressen mit denen der Arbeiterklasse.

Es gibt da einen gewaltigen Unterschied im Herangehen und Umgang mit dem Marxismus zwischen mir und L.. Für L. ist dieser mechanisch, für mich organisch. Da spricht L. von "marxistischen Wissensdefiziten" und "revolutionärer Ungeduld". Ist der Marxismus ein seligmachendes, immerwährendes Wissenskompendium oder eine Methode die Gesellschaft zu betrachten und zu analysieren und sich in ihr zu bewegen, eine Methode, die nicht fest ist, sondern wie die Gesellschaft ständig im Fluß und deshalb ständig der Überprüfung bedarf?

Überhaupt: Was uns hier als historische Wahrheit bzw. Notwendigkeit verkauft wird, ist ein Fehlen von Spontaneität der Klasse, welche die Partei überflüssig machen würde bzw. diese immer wieder überflüssig macht, weil sich die angeblichen Avantgarden meist im Schlepptau der revolutionären Massen befinden (so hat Trotzki selbst zugeben müssen, daß die Massen in revolutionären Situationen meist linker sind als die Partei).

L.s Patentrezept, sein Allheilmittel, seine Lösung und seine Analyse des Problems der Revolution und des Sozialismus erschöpfen sich im Zitieren der Klassiker - den Erfahrungen der Arbeiterbewegung, den Erfahrungen der Klassenkämpfe bzw. den konkreten Erfahrungen der Klasse mit der Partei schenkt er keine Aufmerksamkeit. Er macht sich genausowenig wie die Gründerväter der KPD oder der DKP die Mühe zu analysieren, warum die Avantgarde-Partei der Arbeiterklasse zu einem gewissen Zeitpunkt "Verrat" beging oder "entartete" bzw. "bürokratisierte". Stets erstrebten die enttäuschten Revolutionäre idealistisch die "wirkliche", "einzige" "revolutionäre" Partei: seien es die Bordigisten, die KAPDler, die Leninisten, die Maoisten, die Spartakisten, die Stalinisten oder die Trotzkisten. Für sie alle besitzt der Marxismus immerwährende Gültigkeit, an ihm zu zweifeln bzw. ihn weiterentwickeln zu wollen, grenzt an Gotteslästerei. Sich gegenseitig vorzuhalten, unmarxistisch vorzugehen, geht am Kern vorbei. Es sind die konkreten historischen Erfahrungen, mit denen wir unsere Positionen belegen und die Rolle der Avantgarde hinterfragen können und müssen. Daß die Partei eine durch und durch bürgerliche Organisationsform ist, hat bereits Otto Rühle dargelegt. Die Praxis der letzten 150 Jahre hat dies stets immer wieder belegt, als die Partei in Konflikt mit der Arbeiterklasse kam (Kronstadt ist da nur ein Beispiel von vielen!).

Da redet L. vom "Charakter der Lohnarbeit". Ich frage mich, welchen grundlegenden Unterschied es macht, ob ich entfremdete Arbeit für einen kapitalistischen oder einen "roten" Boss mache und mich ausbeuten lasse, weil vom Profit gerade dieser und seinesgleichen als Schmarotzer leben, die nicht arbeiten müssen und vom grünen Tisch aus bestimmen. Das Lohnsystem im Ostblock habe keinen "Ausbeutungscharakter" gehabt, da die Betriebe "volkseigen" gewesen seien. Nur weil die Betriebe keinen privaten Kapitalisten gehörten, heißt das nicht, daß sie "volkseigen" waren oder sind. Wodurch bestimmt sich aber der "Charakter" einer Sache? Durch ganz bestimmte vorgefundene Eigenschaften und Verhältnisse. Und Fakt ist: Die Arbeiter hatten keinen grundlegenden Einfluß auf den Inhalt und die Bedingungen ihrer Arbeit. Das zählt und nicht ein mysteriöser, nicht näher definierter "Charakter". Da heißt es weiter, daß der Lohn nur "Leistungsmesser" gewesen sei (Erinnert sei daran, daß Lenin in "Staat und Revolution", also noch vor der Machtergreifung der Bolschewiki Lohngleichheit gefordert hatte.). Aber genau dieselbe Argumentation ist doch auch im heutigen Kapitalismus anzutreffen. Geht es im Sozialismus nicht gerade darum Hierarchien und Fremdbestimmung abzubauen statt neue aufzubauen und alte zu manifestieren? In der DDR wie in den anderen staatskapitalistischen Ländern wurde die Lohnarbeit verewigt statt aufgehoben. Tendenzen zur Angleichung der Löhne und zum Abbau von Hierarchien (Stichwort: Egalisierung der Löhne), wie sie z.B. in der DDR 1953 oder in der SU Anfang der 20er von Arbeitern geäußert wurden, wurden von der Partei als "konterrevolutionär" bekämpft. Ebenso wie die Forderungen etwa der polnischen oder ungarischen Arbeiter.

Die Rechtfertigung von Lohnunterschieden mittels des Leistungsarguments hinkt. Zum einen war es Lenin, der in seinen "Aprilthesen" und in "Staat und Revolution" die "Gleichheit des Arbeitslohnes" forderte. Zum anderen fand die Teilung in den Betrieben in Leitende und Ausführende ihre Entsprechung in der Verteilung des gesellschaftlichen Reichtums und der Entlohnung und war Ausdruck der russischen Klassengesellschaft (so verdienten 1937 Direktoren 2.000, Facharbeiter 200- 300 Rubel - Dimensionen wie sie uns aus den heutigen Tagen bekannt sind). Andere Forderungen wie die Wählbarkeit und jederzeitige Absetzbarkeit aller Beamten blieb ebenfalls Theorie. Wie auch Lenins Wunsch, daß eine jede Köchin die Chance zur politischen Karriere erhalten sollte, wurde nie real.

Der Zwang auf Prämien und Leistungsentlohnung zurückgreifen zu müssen, zeigt die Verzweiflung des Systems die Arbeiter motivieren und die weiterbestehende und entfremdete Lohnarbeit weiter für die Arbeiter erduldbar machen zu können. Der Bürokratie ging es nur um eine forcierte Industrialisierung (siehe SU in den 30ern oder diverse "sozialistische" Länder wie Kuba, etc.), womit sie einen anderen kapitalistischen Entwicklungsweg als der Westen beschritt. In diesem Rahmen sind auch die Anstrengungen zur Bekämpfung des Analphabetismus zu sehen. Für Rußlands Industrialisierung brauchte die Bürokratie Arbeitskräfte, welche lesen und schreiben konnten.

L. schreibt, Lenin hätte nicht für den "deutschen 'Staatskapitalismus', sondern von der deutschen Infrastruktur" geschwärmt. Was für eine tautologische Glanzleistung! Könnte es vielleicht sein, daß es einen Zusammenhang zwischen Infrastruktur und Gesellschaftssystem gibt? Was macht den privaten Kapitalismus aus? Das Privateigentum an den Produktionsmitteln. Aber wie ist dieses gegen die Mehrheit der Menschen aufrechtzuerhalten und wie sind die Betriebe strukturiert: hierarchisch, so daß die Ausbeutung funktioniert (Möglichst viel aus den Arbeitern herauszupressen, darauf ist die Wirtschaft im privaten Kapitalismus ausgerichtet. Wer einfach die alte Infrastruktur übernimmt, tritt wie die Bolschewiki 1917 an die Stelle der alten Herren./ Schon einmal etwas davon gehört, daß ein System stets so funktioniert wie es organisiert ist?). Weder eine Infrastruktur noch eine Wissenschaft wie der Taylorismus, den Lenin nach 1917 als etwas Positives ansah, sind von der Gesellschaft abstrakt zu trennen, die sie hervorgebracht hat. Etwas anderes zu behaupten, hieße jegliche marxistische Methode unter den Tisch fallen zu lassen (nur weil eine Methode, die vor 1917 von Lenin als reaktionär angesehen und zu Recht als Versklavung des Menschen durch die Maschine bezeichnet wurde, nun von den Bolschewiki angewendet wurde, macht diese Methode nicht zu einer progressiven!). Aber diese gleiche mechanische, d.h. unmarxistische Methode verwenden die Leninisten in Bezug auf die Gewerkschaften, welche bloß eine revolutionäre Führung brauchten, um wieder zu Kampforganen der Arbeiterklasse zu werden. So ähnlich gehen einige Trotzkisten an die Arbeiterparteien SPD und KPD heran: man brauche nur die Führungen auszuwechseln. Daß aber der Charakter solcher Organisationen durch mehr geprägt wird als durch irgendwelche Führer, die nur aufgrund des Charakters dieser Organisationen an die Spitze dieser gelangen konnten, kommt den Vertretern des Vulgärmarxismus mit ihren platten Patentrezepten nicht in den Kopf.

Es stehen sich hier zwei Tendenzen gegenüber: die leninistische und die rätekommunistische. L. setzt auf die Partei als Organisator und Agitator, wir Rätekommunisten setzen auf die Selbstorganisation der Klasse. Kämpfe können wir nicht aus dem Boden zaubern. Sollten wir in sie verwickelt werden bzw. sollten wir Möglichkeiten haben auf sie einzuwirken, werden wir versuchen die Selbstorganisation der Klasse zu unterstützen, die Bewegung vorwärtszutreiben und für politische Klarheit zu sorgen. D.h. wir werden nicht wie die Leninisten (das klingt jetzt verallgemeinernd, aber in ihren Bezugspunkten auf Lenin und die Herangehensweise an die Arbeiterklasse gleichen sie sich - trotz aller Unterschiede - alle) linke Realpolitik betreiben. Wir überlassen es ihnen sich an bürgerlichen Wahlen unter verbalradikalen Slogans wie "Den Widerstand ins Rathaus tragen!" zu beteiligen, vom Staat Geld für antifaschistische Initiativen zu fordern, die "Unanständigkeit der Politiker" zu kritisieren, davon zu faseln "Millionäre zu besteuern" oder zu meinen "Neue Politiker braucht das Land". So akzeptieren sie alle nicht nur die Spielregeln des kapitalistischen Zirkus in der BRD, sondern sie sind bereits integrierter Bestandteil dieses Systems und schüren Illusionen in seine "Reformierbarkeit" bei der Arbeiterklasse. Die Richtigkeit unserer Ansichten ist in der Vergangenheit bewiesen worden und auch in der Zukunft wird die Arbeiterklasse selbst den Weg zu ihrer Befreiung beschreiten und vor allem auch selbst gehen müssen, wenn sie sich nicht wieder versklaven lassen will. Die Geschichte wird über uns richten und zeigen, wessen Positionen näher an der Wahrheit liegen. An uns ist es die Erfahrungen der Vergangenheit für die Zukunft fruchtbar zu machen und alles zu fördern, was der Selbstorganisation, d.h. der Selbstemanzipation der Arbeiterklasse nutzt - gegebenenfalls gegen die alte Arbeiterbewegung.
Ein Rätekommunist (aus Revolution Times # 12)

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