"Welche Perspektive hat die Anti-Globalisierungsbewegung? Eine notwendige Kritik"

V.1 Staat und Markt

Ein Teil der AGB bezieht sich positiv auf den Staat und baut einen künstlichen Gegensatz zwischen Staat und Markt auf, indem beide voneinander getrennt werden, statt ihre ergänzende Rolle zu erkennen und zu betrachten (dabei sei auf die arbeiterfeindliche Praxis des 3. Reiches und des Staatskapitalismus hingewiesen, wo der Staat die Ausbeutung in grösserem Masse organisierte und sicherstellte). Von diesem Teil wird der Staat als Verbündeter im Kampf gegen das multinationale Kapital angesehen bzw. als Garant für soziale Sicherheit und Frieden, weshalb der Staat bzw. seine Vertreter auch aufgefordert werden, den "entfesselten" Markt zu zähmen und ihrer "Verantwortung" für das "Allgemeinwohl", dessen Garant ihrer Meinung nach der Staat ist, nachzukommen. Der Staat wird als "neutrale", d.h. als eine über den Klassen stehende Instanz angesehen und nicht als Unterdrückungsapparat und Instrument in den Händen und im Interesse der herrschenden Klasse. Die herrschende Klasse bedient sich des Staates, um ihre Interessen durchzusetzen und die Rahmenbedingungen der Kapitalverwertung und Profitmaximierung zu schaffen und zu sichern. Das fehlende Verständnis zeigt sich zum einen darin, dass der Hauptwiderspruch der kapitalistischen Gesellschaft zwischen Kapital und Arbeit nicht erkannt und das Verhältnis von Staat und Markt nicht begriffen worden ist. Ausserdem: Seit wann gibt es keine Ausbeutung und Lohnarbeit in staatlichen Betrieben?

Die Kritik wird von ATTAC ebenso wie von Gewerkschaften und vielen linken Parteien und Gruppen fixiert auf die "Kraft des entfesselten Marktes". Dabei wird nicht verstanden, dass Markt und Staat zusammengehörige Momente der kapitalistischen Produktionsweise sind, die sich nicht entgegenstehen, sondern ergänzen. Der "Sozialstaat" ist nicht das positive Gegenstück zum Markt, sondern war jahrelang die angemessene Organisations- und Durchsetzungsform des Kapitalismus. Der Staat schafft als ideeller Gesamtkapitalist die notwendigen Rahmenbedingungen der Ausbeutung und Lohnarbeit. Der heutige beschleunigte Abbau des "Sozialstaats" ist sowohl die Antwort des Kapitalismus auf seine strukturelle Krise als auch die Auswirkung der Niederlage des Staatskapitalismus in Osteuropa auf die westlichen industrialisierten Staaten. Es ist die Ausweitung der kapitalistischen Verwertungslogik auf bisher noch staatlich reglementierte Bereiche sowie der Versuch die Ausbeutung effektiver zu organisieren. Im Gegenteil: Es hat keine "Entstaatlichung" gegeben, sondern es hat zum einen eine Zunahme staatlicher Reglementierung stattgefunden (z.B. durch die ganzen internationalen Abkommen) und zum anderen eine Verschiebung der staatlichen Aufgaben (so ist die "soziale" Komponente einer Verstärkung der repressiven Komponente des Staates gewichen).

Diese Veränderung der Gewichtung der Funktionsweise des Staates ist zum einen das Ergebnis veränderter Kräfteverhältnisse (u.a. Niederlage des Staatskapitalismus, Schrumpfen der alten Arbeiterbewegung auch im Westen), zum anderen war die Zubilligung des "Sozialstaats" mit seinen "sozialen Sicherungssystemen" stets auch an die wirtschaftliche Stärke und vorhandene Verteilungsspielräume gebunden, die zunehmend - aufgrund der Krise und der nationalen und weltweiten Konkurrenz - schwinden. So ist die staatliche Politik - unabhängig von ihren Vorlieben - zu Massnahmen gezwungen, die sie in wirtschaftlich guten Zeiten nicht ergreifen müsste. Der Staat als angeblicher Gegenpol zum Markt hat selbst in Form seiner Vertreter die "Globalisierung" forciert und in Verträgen manifestiert. Es wäre also klüger den Zusammenhang und die Abhängigkeit des Lebensstandards von der Verwertung des Werts zu kritisieren und nicht deren mehr oder weniger zwangsläufige Folgen.

Ausserdem hat der "gute" Staat in wirtschaftlich besseren Zeiten die Arbeiterklasse versucht über soziale Zugeständnisse einzubinden, während nun diese Einbindung zunehmend mittels Repression (z.B. im Gefolge des 11. September 2001) und Ideologie (z.B. neue Rolle Deutschlands, (Standort-)Nationalismus, Gerede über bzw. Kampagnen gegen "Sozialschmarotzer", "Asylanten", etc.) erfolgt. D.h. allerdings nicht, dass es erst jetzt wieder Repression gibt. Diese ist ständiger Teil des Kapitalismus und wächst mit Massenbewegungen und Protesten.

Die Steuerbarkeit des Kapitalismus sowie die Annahme einer relativ krisenfreien Entwicklung des Kapitalismus ist seit den 1970ern mehrmals widerlegt worden. Wenn der "Sozialstaat" verklärt wird, wird vergessen, dass die sozialen Kompromisse sich in den kapitalistischen Metropolen auf internationale Ungleichheit stütz(t)en. Der Aufschwung war in den Metropolen nach dem 2. Weltkrieg nur aufgrund der gigantischen Zerstörungen und Kapitalvernichtungen im grossen Menschen- und Warenschlachtfest des 2. Weltkrieges möglich gewesen. Die staatlichen Investitionen haben nur geholfen, die Zeiten der Krise zu überbrücken, die Folgen der Krise zu dämpfen, aber sie haben die Krisenhaftigkeit des Kapitalismus nicht überwinden können.

Es gibt unter den heutigen wirtschaftlichen Bedingungen und den heutigen gesellschaftlichen Kräfteverhältnissen keine Rückkehr zum "sozialstaatlich" organisierten Kapitalismus, der im nostalgischen Rückblick überschätzt und verklärt wird. Der Abbau des Lebensstandards der Arbeiterklasse, d.h. die verstärkte Ausbeutung, belegt nur das Scheitern der reformistischen Illusionen in eine (dauerhafte) Hebung des Lebensstandards und in die "Zähmung" des Marktes, also ein Scheitern genau der Politik, welche die alternativen Krisenpolitiker der NGOs und von ATTAC heute betreiben wollen. Die derzeitige strukturelle Krise verdeutlicht die Krisenhaftigkeit des Kapitalismus und unterstreicht die Notwendigkeit für das System immer neue Bereiche seiner Verwertungslogik zu unterwerfen.

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