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Aktualisierung am 14.02.2004
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Peter Kropotkin
Anarchismus und Syndikalismus
Von den verschiedensten, Seiten
werden wir gefragt: "Was ist Syndikalismus und welcher Art sind seine
Beziehungen zum Anarchismus?' und wir werden hier unser Bestes tun, um diese
Fragen zu beantworten.
Syndikalismus ist in der Tat nur ein neuer Name für eine alte Taktik, zu der
vor langer Zeit schon die Arbeiter Großbritanniens ihre Zuflucht, und zwar
erfolgreich Zuflucht genommen haben: der Taktik der direkten Aktion. der Arbeit
gegen das Kapital auf wirtschaftlichem Gebiete. Eine solche Kampfesart war ihre
bevorzugteste Waffe. Und schon in der ersten Hälfte des neunzehnten
Jahrhunderts haben die britischen Arbeiter, ohne das Stimmrecht zu besitzen,
durch Anwendung nur dieser Waffe große wirtschaftliche Vorteile errungen, eine
starke gewerkschaftliche Organisation geschaffen und sogar die herrschenden
Klassen gezwungen, Ihre Forderungen in der Arbeitergesetzgebung (ein
ausgedehntes politisches Wahlrecht eingeschlossen) anzuerkennen.
So erwies sich die direkte Aktion auf wirtschaftlichem Gebiete als eine
bedeutsamie Waffe sowohl zur Erreichung wirtschaftlicher Resultate, wie auch zur
Erringung einiger politischer Konzessionen.
Diese Idee war in England so stark, daß in den Jahren 1830131 Robert Owen ei
versuchte, eine große nationale Gewerkschaft und eine internationale
Arbeiterorganisation zu gründen, die durch direkte Aktion das Kapital bekämpfen
sollten. Nur die grimmigen Verfolgungen der britischen Regierungen zwangen ihn,
diese Idee aufzugeben.
Dann entstand die Chartisten-Bewegung, die die weitverbreiteten starken und zurn
Teil geheimen Arbeiterorganisationen benutzte, um beträchtliche politische
Konzessionen zu erringen. Hier erhielten die britischen Arbeiter ihre erste
Lektion in der Politik: sehr bald erkannten sie, daß, obwohl sie die politische
Agitation mit aller Wucht unterstützten, diese Agitation ihnen keine
wirtschaftlichen Vorteile brachte, ausgenommen jene, die sie ihren Ausbeutern
und Gesetzgebern durch Streiks und Revolten selbst abzwangen. Sie erkannten, wie
trüglich es ist, ernsthafte Verbesserungen ihrer Lebensbedingungen von dem
Parlament zu erwarten.
Die französischen Arbeiter kamen zu genau der gleichen Schlußfolgerung; die
Revolution von 1848, die den Franzosen eine Republik einbrachte, Überzeugte sie
von der völligen Fruchtlosigkeit politischer Agitation und selbst politischer
Siege; keine wesentlichen Veränderungen erfahren die Lebensbedingungen der
Arbeiter, wenn sie diese nicht s e 1 b s t den besitzenden Klassen durch di r e
k t e A k t i o n e n abzwingen.
Den Franzosen brachte die Revolution noch eine andere Lehre. Sie sahen, wie völlig
hilflos ihre intellektuellen Führer waren, wenn es galt, neue Formen der
industriellen Produktion herauszufinden, Formen, die den Arbeitern ihren Anteil
an der Produktion sichern, und der Ausbeutung der Arbeiter durch das Kapital ein
Ende bereiten sollten-.Sowohl in der Luxemburg-Kommission, die im April, Mai und
Juni 1848 tagte, wie auch in der eigens zum Studium dieser Fragen im Jahre 1849
gewählten Kammer, in der über 106 sozialdemokratische Deputierte saßen, sahen
die Arbeiter die Hilflosigkeit. der Führer. So erkannten sie, daß die Arbeiter
selbst die Hauptlinien der sozialen R e v o 1 u t i o n , Linien, auf der sie
sich bewegen muß, uni praktisch und fruchtbar sein zu können, ausarbeiten mußten.
Direkte Aktion der Arbeit gegen das Kapital und für die Arbeiter die
Notwendigkeit, selbst die Formen auszuarbeiten für eine Organisation der
Wirtschaft, welche 'die kapitalistische Ausbeutung ausschaltet: das waren die
beiden großen Lehren, die die Arbeiter, und besonders die Arbeiter in den
beiden Ländern der am höchsten entwickelten Industrie, erhalten haben.
Als dann in den Jahren 1864/66 die alte Idee von Robert 0wen verwirklicht wurde
und eine internationale Arbeiterorganigation ihren Anfang nahm, enthielt diese
neue Organisation diese beiden fundamentalen Prinzipien. Als die internationale
-Arbeiter-Assoziation von Vertretern der bbritischen Gewerkschaften und französischen
Arbeitern - hauptsächlich Nachfolgern von P r o uu d h o n -, die die 11.
Internationale Weltausstellung besucht hatten, ins Leben gerufen war
proklamierte die Assoziation nachdrücklichst, daß die Emanzipation der
Arbeiter ihr eigenes Werk sein müsse und daß fortan die Kapitalisten durch g r
o ß e S t r e i k s , die von internationaler Basis unterstützt werden sollen,
bekämpft werden.
So waren die ersten beiden Akte der Internationale, die eine ungeheure Aufregung
in Europa verursachten und eine heilsame Furcht in der Mittelklasse verursachten
zwei große. Streiks: einer in Paris, unterstützt von den englischen
Gewerkschaften, der andere im Baugewerbe Genuas, unterstützt von englischen und
französischen Arbeitern.
Noch mehr! Die Arbeiter diskutierten auf den Kongressen der Internationale n i c
h t mehr den Unsinn, mit dem die Nationen von ihren Regierenden in
parlamentarischen Institutionen unterhalten werden. Sie diskutierten die
fundamentale Frage des revolutionären Wiederaufbaues der Gesellschaft und
setzten jene Idee in Bewegung, die seitdem sich als so fruchtbar erwiesen hat: d
i e I d e e d e s Generalstreiks. Was die politische Form anbelangt die
eine durch die soziale Revolution reorganisierte Gesellschaft annehmen würde,
so trennten die lateinischen Föderationen sich offen von der Idee des
zentralisierten Staates. Sie erklärten sich nachdrücklichst zugunsten einer
Organisation, die aufgebaut auf einer Föderation freier Kommunen und
landwirtschaftlicher Gebiete, so sich befreiend von der kapitalistischen
Ausbeutung und auf dieser Basis, auf der Basis der föderativen Verbindung sich
zu größeren territorialen und nationalen Einheiten gruppierend.
Die beiden Hauptgrundsätze des modernen Syndikalismus, direkte Aktion und sorgfältige
Ausarbeitung neuer Formen des Gesellschaftslebens, begründet auf der Föderation
der Gewerkschaften: diese beiden Grundsätze waren am Anfang die führenden
Prinzipien der Internationalen Arbeiter-Assoziation.
Jedoch damals schon gab es innerhalb der Assoziation z w ei verschiedene Strömungen
hinsichtlich der politischen Betätigung, welche die Arbeiter der
verschiedenen Nationen teilte: es gab die lateinische Strömung und die deutsche
Strömung
Die Franzosen in der Internationale waren hauptsächlich Anhänger von P r o u d
h o n. Und Proudhons leitende Idee war folgende:
Auflösung der bestehenden Bourgeois-Staat-Organisation und an dessen Stelle die
eigenen Organisationen der Arbeitergewerkschaften setzen, die alles regeln und
organisieren werden, das wesentlich ist für die Gesellschaft. Die Produktion
der Lebensnotwendigkeiten, den "gerechten unparteiischen Austausch alter
Produkte der menschlichen Arbeit und die Verteilung und den Konsum alles dessen
was erzeugt worden ist, die A r b e i t e r sind es, die das o r g a n i s i e r
e n müssen. Und wenn sie das tun, werden wir sehen, daß sehr w e ni g für den
S t a a t zu tun übrig bleiben wird. Produktion alles dessen, was gebraucht
.wird, ein gerechter Austausch der Produkte und ein gerechter Konsum sind
Probleme, die allein die Arbeiter lösen können. Und wenn sie das alles tun
werden, was wird dann den bestehenden Regierungen, ihren Hierarchien und Beamten
zu tun verbleiben? Nichts, was die Arbeiter nicht auch organisieren könnten!
Aber unter den französischen Begründern der Internationale gab es auch Männer
die für die Republik und für die Kommune gekämpft hatten. Sie waren dafür,
daß die politische Betätigung nicht ignoriert werden dürfe: es sei nicht
gleichgültig für die Proletarier, ob sie unter einer Monarchie, einer Republik
oder unter einer Kommune leben. Aus eigener Erfahrung wußten sie, daß der
Triumph der Konservativen oder der Imperialisten R ü c k g a n g in a 11 e n
Richtungen bedeutet und eine ungeheure Kräfte-Verausgabung der Arbeiter, die
aggressive Politik der Kapitalisten zu bekämpfen. Sie verhielten sich der
Politik gegenüber nicht indifferent, aber sie l e h n t e n ab, in der
Wahlagitation, den Wahlerfolgen und in dem ganzen Hin und Her der politischen
Parteien ein Instrument zur Befreiung der Arbeiterklasse zu sehen.
Dementsprechend stimmten die französischen, die spanischen und italienischen
Arbeiter überein, folgende Worte in die Statuten einzufügen:
"jede politische Tätigkeit muß der wirtschaftlichen untergeordnet
sein."
Unter den englischen Arbeitern gab es eine Anzahl Chartisten, die den
politischen Kampf bejahten. Und die Deutsehen hatten noch nicht die Erfahrungen
von zwei Republiken wie die Franzosen. Sie glaubten an das kommende Parlament
des zukünftigen deutschen Reiches. Sogar Lassalle hatte - wie jetzt bekannt ist
einigen Glauben an einen sozialistischen Kaiser, des vereinigten Deutschland,
das er erstehen sah.
Infolgedessen wollten. weder die Engländer noch die D e u t s c h e n der
parlamentarischen Aktion absagen; sie glaubten noch daran, und in dem englischen
und deutschen Text derselben Statuten fügten sie ein: "jede politische Tätigkeit
- muß der wirtschaftlichen untergeordnet ssein als Mittel."
So ist die alte Idee des Vertrauens zum bürgerlichen Parlament wieder
auferstanden
Das Resultat war, daß, als Deutschland im Kriege von 1870/71 über Frankreich
triumphiert hatte, als Frankreich besiegt am Boden lag und 35000 Pariser
Proletarier, die Elite der französischen Arbeiter, nach dem Fall der Kommune
von den bürgerlichen Armeen ermordet worden waren, als die internationale
Arbeiter-Assoziation in Frankreich verboten worden. war, M a r x und E n g e 1 s
und deren Anhänger versuchten, die alte politische Betätigung in die
Internationale einzuführen, und zwar in Gestalt der Arbeiterkandidatur.
Darauf vollzog sich eine S p a 1 t u ng der Internationale, die bisher so
begeisterte Hoffnungen in den Proletariern und solchen Schrecken unter den
Reichen verursacht hatte.
Die Föderationen der lateinischen Länder, I t a 1 i e n S p a n i e n , der J
u r a und 0- s t - B el g i e n (von Frankreich waren nur einige Flüchtlinge
vertreten) 1 e h n t e n d e n n e u e n K u r s ab. Sie
konstituierten ihre eigenen föderierten Unionen, und seit dieser Zeit
entwickeln sie sich mehr und mehr zum r e v o 1 u t i o n ä r e n Syndikalismus
und Anarchismus, während D e u t s c h 1 a n d die Führung in der Entwicklung
der Sozialdemokratischen P a r t e i übernahm, um so mehr, als Bismarck das
allgemeine Wahlrecht für das Parlament des durch den siegreichen Krieg neugegründeten
deutschen Reiches einführte.
Nun sind vierzig Jahre vergangen, seit diese Teilung der Internationale sich
vollzogen hat und wir können ihr Resultat beurteilen. Weiter unten werden wir
es eingehender analysieren, aber jetzt schon können wir die erstaunliche
Unfruchtbarkeit hervorheben in allein, was während dieser vierzig Jahre von
jenen unternommen wurde, die ihren Glauben an das gehängt haben,. was sie die
Eroberung der politischen Macht in dem bestehenden Staaten der Mittelklasse
nennen.
Anstatt diesen Staat zu erobern, wie sie es zu tun glaubten, sind sie von diesem
bürgerlichen Staat erobert worden. Sie sind seine Werkzeuge; sie dienen der
Erhaltung der Macht der Ober- und Mittelklasse ü b e r die Arbeiter. Sie sind
die lenksamen Werkzeuge der Kirche, des Staates, des Kapitals und der
Monopolwirtschart.
Aber in ganz Europa und Amerika sehen wir eine neue Bewegung durch die Massen
gehen, eine neue Kraft in der Arbeiterbewegung, eine Kraft, die sich an die
alten Prinzipien der Internationale hält. direkte Aktion, direkten Kampf der
Arbeitenden gegen das Kapital, und die Arbeiter erkennen, daß s i e s e 1
b s t es sind, die sich b e f r e i e n müssen - ni ch t aber die P a r l
a m e n t e.
Das ist selbstverständlich noch nicht Anarchismus. Wir gehen weiter. Wir
behaupten, daß die Arbeiter ihre Befreiung nicht erreichen werden, ehe sie den
B e t r u g d e r Z e n t r a l i s a t i o n, der Hierarchie, den Betrug der
vom Staate ernannten Beamten, die Gesetz und Ordnung halten. Gesetze von Reichen
gemacht gegen Arme und Ordnung, die .Unterordnung der Armen unter die Reichen
bedeutet nicht eher wird die Emanzipation der Arbeit erreicht werden, ehe sie
alle diese Trugschlüsse, Täuschungen und Betrügereien über Bord werfen.
Aber während dieser vierzig Jahre haben die Anarchisten gemeinsam mit jenen
Arbeitern, die ihre Befreiung in eigene Hände nahmen und sich der direkten
Aktion bedienten als vorbereitendes Mittel für den Endkampf der ausgebeuteten
Arbeit gegen das bis heutigen Tages triumphierende Kapital, während der letzten
vierzig Jahre haben die Anarchisten jene bekämpft, die die Arbeiter mit
resultatlosen Wahlagitationen unterhielten. Und während der ganzen Zeit waren
sie beschäftigt, unter den arbeitenden Massen den Wunsch zu erwecken,
Prinzipien auszuarbeiten, nach denen die G e w e r k s c h a f t e n Besitz
ergreifen können von den Docks, den Eisenbahnen, Minen, Fabriken. Feldern und
Warenhäusern, um sie fortan nicht mehr im Interesse einiger weniger
Kapitalisten, sondern im Interesse der gesamten Gesellschaft zu betreiben.
Es ist gezeigt worden, wie in England seit den Jahren 1820 bis 1830, und in
Frankreich nach der erfolglosen politischen Revolution - von 1848, die Bemühungen
einer bedeutenden Sektion der Arbeiter darauf gerichtet war, das Kapital durch
die d i r e k t e A k t i o n zu bekämpfen und die hierzu notwendigen
Arbeiterorganisationen zu schaffen.
Auch ist gezeigt worden, wie diese Idee in den Jahren 1866 bis 1870 der führende
Gedanke in der soeben geschaffenen Internationalen Arbeiter-Assoziation wurde,
wie aber nach der Niederlage Frankreichs im Jahre 1871, durch den Zusammenbruch
seiner revolutionären Kräfte, nach dem Fall der Pariser Kommune und den
Triumph Deutschlands, die politischen Elemente die Oberhand in der
Internationale bekamen und zeitweilig der bestimmende Faktor in der
Arbeiterbewegung wurden.
Seit dieser Zeit haben beide Strömungen sich unaufhörlich entwickelt;
jede nach der Richtung ihres Programmes hin. In
allen konstitutionellen Staaten wurden politische Arbeiterparteien organisiert,
die alles taten, was in ihren Kräften stand, um die Anzahl ihrer Vertreter in
den betreffenden Parlamenten aufs schnellste zu vermehren. Und wie man von
Anbeginn an sehen konnte, wie von Vertretern, die nach Stimmen jagten, es ganz
unvermeidlich war, wurde das wirtschaftliche Programm immer mehr vermindert; es
wurde schließlich begrenzt zu ganz nebensächlichen Beschränkungen der Rechte
der Unternehmer, und so gab es dem kapitalistischen System neue Kraft und trug
dazu bei, die alte Ordnung zu verlängern. Gleichzeitig geschah es, da die
sozialistischen Politiker die Vertreter des bürgerlichen Radikalismus bekämpften,
die mit ihnen im Einfangen von Arbeiterstimmen konkurrierten, daß diese
Sozialisten, wenn auch gegen ihren Willen, daran halfen, einer siegreichen
Reaktion in ganz Europa die Wege zu ebnen
Ihre ganze Ideologie, d. h. die Ideen und Ideale, die sie unter den Massen
verbreiteten, waren darauf eingestellt. Sie waren überzeugte Anhänger
der Staatszentralisation, waren gegen lokale Autonomie und gegen die Unabhängigkeit
kleiner Nationen und arbeiteten eine Geschichtsphilosophie aus, die den Zweck
hatte, solche Folgerungen zu unterstützen. Auf die Hoffnung der Massen schütteten
sie kaltes Wasser, indem sie ihnen im Namen des "historischen
Materialismus" predigten: daß keine wesentliche Änderung in
sozialistischer Richtung möglich sei, bis sich die Anzahl der Kapitalisten
nicht durch ihre gegenseitige Konkurrenz verringert habe. Ganz außerhalb ihrer
Betrachtungen ließen sie die Tatsache, die in allen Industrieländern
heutigentags so augenfällig ist daß die englischen, französischen, belgischen
und andern Kapitalisten vermittels der Leichtigkeit, Völkern die eine
unentwickelte Industrie haben, auszubeuten, heute die Arbeit von Hunderten von
Millionen von Menschen in Osteuropa, Asien und Afrika, kontrollieren. Das
Resultat ist, daß die Anzahl jener Menschen, die von der Arbeit anderer leben,
.in den Hauptindustrieländern Europas sich durchaus n i c h t allmählich
vermindert. Weit entfernt davon, nimmt sie stetig und zwar in erschreckendem
Verhältnis zu. Und mit der Vermehrung dieser Zahl nimmt auch die Anzahl jener
Menschen zu, die ein Interesse an der Verewigung des kapitalistischen
Staatssystem haben. Und schließlich bekämpften die Sprecher der politischen
Agitation für die Eroberung der Macht im bestehenden Staate alles aufs
bitterste, daß ihren Aussichten, zu politischer Macht zu gelangen, schaden könnte.
Alle jene, die es gewagt hatten, ihre parlamentarische Taktik zu kritisieren,
schlossen sie von den Internationalen Sozialistischen Kongressen aus. Sie mißbilligten
Streiks, und später, als die Idee des Generalstreiks selbst ihre Kongresse
durchdrang, bekämpften sie diese Idee in der wildesten Weise mit allen ihnen
zur Verfügung stehenden Mitteln.
Volle vierzig Jahre ist eine solche Taktik verfolgt worden, aber heute ist jedem
einzigen klar geworden, daß die Arbeiter in ganz Europa genug davon haben.
Viele wenden sich mit Widerwillen davon ab. Und das ist der Grund dafür, daß
wir gegenwärtig soviel zu hören bekommen vom "Syndikalismus". Jedoch
auch die andere Strömung, diejenige, die den direkten Kampf der Arbeiterklasse
gegen das Kapital vertrat, entwickelte sich während dieser vierzig Jahre
weiter; sie entwickelte sich trotz alter Verfolgungen von seiten der Regierung
und trotz aller Denunziationen der kapitalistischen Politiker. Außerordentlich
interessant würde es sein, die stetige Entwicklung dieser Strömung zu zeichnen
und ihre intellektuellen wie persönlichen Beziehungen. mit den politischen
sozialdemokratischen Parteien einerseits, den Anarchisten andererseits zu
analysieren. Aber noch ist die Zeit nicht da für die Veröffentlichung eines
solchen Werkes, alles in allem genommen, ist es vielleicht auch besser, daß es
noch nicht geschrieben wird. Es würde die Aufmerksamkeit persönlichen Einflüssen
zuwenden, während es der Einfluß der großen Strömungen modernen Denkens und
das Wachsen des Selbstbewußtseins unter den Arbeitern Amerikas und Europas ist,
eines Selbstbewußtseins, das sie unabhängig von ihren intellektuellen Führern
macht, dem besondere Beachtung geschenkt worden müßte, um eine wirkliche
Geschichte des Syndikalismus schreiben zu können.
Alles, was wir jetzt darüber zu sagen haben ist, daß vollständig unabhängig
von den Lehren der Sozialisten durch die
bloße Tatsache, daß in den großen Industriezentren Arbeitermassen
zusammengeballt wurden und dadurch daß diese Massen die Tradition ihrer
Berufsorganisationen aus vergangen en Zeiten aufrecht erhielten, sie sowohl
offen wie geheim Vereinigungen organisierten und weiter ausbauten, die die
wachsende Ausbeutung und den Stolz der Unternehmer zügelten. Und im gleichen
Verhältnis, in dem die organisierten Arbeitermassen größer und stärker und
sich bewußt wurden des großen Kampfes, der seit der großen französischen
Revolution der eigentliche Lebensinhalt der zivilisierten Völker ist, wurden
ihre antikapitalistischen Tendenzen klarer und bestimmter.
Während der letzten vierzig Jahre, in denen von den politischen Führern in den
verschiedenen Ländern alle möglichen und ausdenkbaren Anstrengungen gemacht
wurden, alle Revolten. der Arbeiter zu verhindern und jene, die einen
bedrohlichen Charakter zeigten, niederzuwerfen, gerade in diesen vierzig Jahren
sehen wir Arbeiterrevolten sich immer weiter ausdehnen, immer gewaltiger werden
und die Absichten der Arbeiter immer klarer zum Ausdruck bringen. Mehr und mehr
verloren sie den Charakter bloßer Ausbrüche der Verzweiflung; immer mehr
sehen, wir wenn wir Fühlung mit den Arbeitern nehmen, den herrschenden Gedanken
ausreifen, der in folgenden kurzen Worten sich zusammenfassen läßt:
"Platz, ihr Industrieherren! Wenn ihr es nicht fertig bringt die Industrien
so zu leiten, daß wir unser Leben fristen kinnen und eine gesicherte Existenz
in ihnen finden, dann fort mit euch Fort, wenn ihr so kurzsichtig und unfähig
seid, untereinander zu einem vernünftigen Verständnis zu kommen, so daß ihr
über jeden neuen Zwang der Produktion, der euch die größten momentanen
Profite verspricht, ungeachtet der Schädlichkeit oder Nützlichkeit seiner
Produkte herfallen müßt, wie eine Herde Schafe. Fort mit euch, wenn ihr unfähig
seid, eure Vermögen auf andere Weise aufzubauen als mit der Vorbereitung
endloser Kriege und ihr ein Drittel aller Güter, die jedes Volk produziert, in
Rüstungen verschwenden müßt, die nur dazu dienen, andere Räuber zu berauben
! Fort, wenn ihr aus allen den wunderbaren Entdeckungen der modernen
Wissenschaft nicht gelernt habt euren Reichtum aus anderen Quellen zu gewinnen,
wie aus dem Schmutz und dem Elend, zu dem ein Drittel der Bevölkerung der - großen
Städte unserer außerordentlich reichen Länder verdammt sind! Fort wenn das
die einzige Art ist, in der ihr Industrie und Handel leiten könnt. Wir Arbeiter
werden besser wissen, wie die Produktion zu organisieren ist, wenn nur erst wir
Erfolg haben bei der Niederringung dieser kapitalistischen Pest!"
Dies waren die Ideen, die in den Arbeiterhäusern der gesamten zivilisierten
Welt lebendig waren, die durchdacht und durchsprochen wurden; sie waren der
Wurzelboden der ungeheuren -Arbeiteraufstände, die wir alljährlich in Europa
und in den Vereinigten Staaten in der Form von Dockarbeiterstreiks,
Eisenbahnerstreiks, Bergarbeiterstreiks, Weberstreiks usw. kennen lernten, bis
sie zuletzt die Form des Generalstreiks annahmen, jenes Generalstreiks, der sich
bald zu großen Kämpfen auswüchse die vergleichbar sind dem mächtigen Ringen
von Naturgewalten und neben denen die kleinen Kämpfe in den Parlamenten sich
ausnehmen wie Kinderspiel.
Während die Deutschen mit roten Flaggen und Fackelschein ihre immer größer
werdenden Wahlsiege feierten, arbeiteten die erfahrenen westlichen Völker
schweigend an einer viel ernsthafteren Aufgabe: an der inneren Organisation der
Arbeiterschaft. Die Gedanken, mit denen diese letzteren Völker sich beschäftigten,
waren viel ernsthafterer Natur. Sie fragten sich: Was wird die Folge des
unvermeidlichen Weltkonfliktes zwischen der Arbeit und dem Kapital sein? Welche
neue Formen industriellen Lebens und gesellschaftlicher Organisation werden
diesem Konflikt entsteigen?
Und das ist der wahre Ursprung der syndikalistischen Bewegung, die unwissende
Politiker heute als etwas ihnen neues entdecken.
Uns Anarchisten ist diese Bewegung nicht neu. Wir begrüßten sie, als ihre
Tendenzen im Programm der Internationalen Arbeiter-Assoziation formuliert
wurden. Wir verteidigten sie als sie in der Internationale von deutschen
politischen Revolutionären, die in dieser Bewegung ein Hindernis auf ihrem Wege
zur Eroberung der politischen Macht sahen, angegriffen wurden. Wir rieten den
Arbeitern aller Nationen, so zu handeln, wie die Spanier es getan hatten, die
ihre gewerkschaftlichen Organisationen in enger Beziehung zu den Sektionen der
Internationale hielten. Seit dieser Zeit haben wir mit tiefer Sympathie alle
Phasen der Arbeiterbewegung verfolgt und wir wissen, wie immer auch die
Zusammenstöße zwischen Arbeit und Kapital in der nächsten Zukunft sein
werden, es die syndikalistische Bewegung sein wird, die die Augen der
Gesellschaft öffnen wird für die Pflichten, die sie den Produzenten allen
Reichtums schuldig sind. Es ist die einzige Bewegung, die denkenden Menschen
einen Weg weisen wird, der hinausführt aus dieser Sackgasse, in die die gegenwärtige
Entwicklung des Kapitalismus unsere Generation getrieben hat.
Selbstverständlich haben die Anarchisten sich niemals eingebildet, daß sie es
waren, die der syndikalistischen Bewegung
ihre Auffassung hinsichtlich ihrer Pflichten in der Neuorganisierung der
Gesellschaft gegeben hätten. Niemals haben sie den
absurden Standpunkt vertreten, die Führer der großen Geistesbewegungen zu
sein, welche die Menschheit zu einer fortschrittlichen Entwicklung führen. Aber
was wir im vollen Sinne des Wortes für uns in Anspruch nehmen können, ist die
Tatsache, daß wir von Anbeginn an die ungeheure Bedeutung jener Ideen
erkannten, die heute die Hauptziele des Syndikalismus ausmachen. Das sind die
Ideen, die in England entwickelt worden.sind von Godwin, Hodgskin, Grey, und
deren Nachfolgern und in Frankreich von Proudhon: - die Idee, daß
Arbeiterorganisationen für Produktion, Austausch und Verteilung die Stelle der
bestehenden kapitalistischen Ausbeutung und des Staates einnehmen M ü s s en.
Und daß es Pflicht und Aufgabe der Arbeiterorganisationen ist, die neue Form
der Gesellschaft auszuarbeiten.
Diese beiden fundamentalen Ideen sind nicht unsere Erfindung; sie sind niemandes
Erfindung. Das Leben selbst hat sie der Zivilisation des neunzehnten
Jahrhunderts aufdiktiert. Und unsere Pflicht ist es nun, sie in die Wirklichkeit
umzusetzen. Aber unser Stolz ist es, daß wir sie begriffen, daß wir sie
verteidigt haben in jenen dunklen Jahren, da sozialdemokratische Politiker und
Pseudophilosophen sie unter die Füße getreten haben, und daß wir treu zu
ihnen stehen, heut wie damals.
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Ich
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aus:
"Der
Syndikalist" Nr.49, 1925
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