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"Errors can be seen as providing vital stimulus to progress any improvement. They offer data on which to build."
(Dennis Howitt)
Wenn ein Flugzeug abgestürzt ist, oder auch, wie vor einiger Zeit in der Nähe von Dortmund, ein Hubschrauber der Bundeswehr, dann reisen sofort Flugsicherungsexperten der zuständigen Bundesbehörde und Ingenieure der betroffenen Firmen und Fluggesellschaften an, um den Fall zu untersuchen. Es werden alle nur möglichen Anstrengungen gemacht, um den Flugschreiber, ein automatisches Datendokumentationsgerät, zu bergen. Bis ins kleinste Detail wird die Katastrophe rekonstruiert. Und ähnlich intensive Bemühungen um Aufklärung der Zusammenhänge kennen wir von Industrieunfällen, wie überhaupt Verfahrenskontrollen in der Industrie seit Jahrzehnten üblich sind. In Berlin haben wir sogar eine Bundesanstalt für Materialprüfung, die mit nichts anderem als mit Sicherheits- und Verläßlichkeitsprüfungen produzierter Materialien beschäftigt ist, also beispielsweise mit der Frage, wie tragfähig Betondecken in Parkhäusern sein müssen und ob sie eine erhebliche Mehrbelastung des Normwerts aushalten. Alles dies sind Beispiele der Qualitätssicherung. Sie sind fachlich in der Industrie seit langem etabliert und niemand käme auf den Gedanken, sie in Frage zu stellen. Allenfalls werden Forderungen laut, sie zu verbessern oder gar noch zu intensivieren.
Das alles gilt für soziale Hilfssyteme und insbesondere für die Kinderschutzarbeit (noch) nicht. Es gibt hier weder eine professionelle Tradition, noch differenzierte Standards und Methoden der Qualitätssicherung. Das Interesse, Prozeßfehler systematisch zu untersuchen, ist gering, obwohl nun in Anbetracht der Krise des Wohlfahrtsstaates und im Zusammenhang mit Fragen der Verwaltungsreform die Forderung nach einer konzeptuellen und methodischen Überprüfung der Praxis der Hilfesysteme, nicht zu letzt ihrer Ergebnisse, häufiger vorgetragen wird.
Was die Kinderschutzarbeit betrifft, wird von Wissenschaftlern, den Medien von betroffenen Eltern und von Fachkräften in der Praxis, nicht zuletzt im Zusammenhang mit weit publizierten umstrittenen Gerichtsverfahren, verstärkt die herrschende Praxis, insbesondere im Umgang mit Verdachtsfällen sexueller Kindesmißhandlung, kritisiert. Es werden Rechts- und Verfahrensfehler herausgestellt und es wird gefragt, inwieweit nicht Kinderschutzsysteme selbst zur Mißhandlung von Kindern beitrügen (1). In gleichem Maße hat man kritisiert, daß Kinderschutzeinrichtungen immer wieder Hilfen, trotz unstreitig bestehender Hilfebedürftigkeit der Betroffenen, vorenthalten oder daß die Hilfen zu spät gewährt werden und daß sie nichts taugen.
Die Versuchen, die Fachkräfte und ihre Einrichtungen im Feld des Kinderschutzes kritisch zu diskutieren, ihre Erfahrungen, Kompetenzen und Belastungen ebenso wie ihre Konzepte, Methoden und Ergebnisse zu evaluieren, sind im Hilfesystem jedoch auf eine große Abwehr gestoßen. So ist kennzeichnend für einen generellen Trend, daß die führende Kinderschutz-Fachzeitschrift Child Abuse & Neglect. The International Journal das Thema der Systemevaluation und der Qualitätssicherung fast überhaupt nicht aufgegriffen hat (2). Gründliche empirische Untersuchungen der Prozesse und Systemeffekte in der Kinderschutzarbeit sind auch international rar. Immerhin scheint das Interesse, in dieser Richtungen zu fragen, in den letzten Jahren zuzunehmen (3). Während einerseits die Kritik an der Praxis in einigen Kinderschutzkreisen (und insbesondere in feministischen Kinderschutzprojekten) als üble Verleumdungskampagne wohlmeinender Kinderschutzbemühungen, als "Rückschlag" oder "Backlash", oder "als pauschalisierte Diffamierung eines ganzen Berufsbereichs" (4) abgewehrt wird, wächst andererseits aber doch das Interesse an einer Überprüfung der Konzepte und Programme im Kinderschutz, wird nun häufiger die Notwendigkeit der Einführung von Methoden der Qualitätssicherung betont.
Außerhalb Deutschlands wandte sich nun immerhin einer der führenden englischen Kinderpsychiater, David P. Jones aus Oxford, der Schädigung zu, "die von der Antwort des professionellen Systems [auf Kindesmißhandlung, RW.] herrührt" und meinte, "diesen Typus widriger Folgen könne man iatrogene [durch ärztliche Einwirkung entstandene, RW.] Schädigung oder auch frei System-Mißhandlung nennen". (5) Er identifizierte neun System-Fehlerbereiche, darunter übereifriges professionelles Intervenieren, wiederholte Interviews und körperliche Untersuchungen durch multiple Untersucher, das Aufspalten von Familien, defensive Entscheidungsprozesse, das Vorenthalten von Behandlungen, nicht zuletzt wiederholte Fremdunterbringungen, die "abrupt und in sich selbst traumatisch" (6) seien.
Noch schärfer beurteilte eine Studie, die für den U.S. Advisory Board on Child Abuse und Neglect erarbeitet und in ergänzter Fassung in der Zeitschrift Child Abuse and Neglect veröffentlicht wurde, die Lage, in der sich die moderne Kinderschutzarbeit, jedenfalls in den USA, befindet:
[Auf Deutsch:] "Kinderschutz befindet sich in einer Krise, die zumindest teilweise auf die fehlende Bereitschaft zurückzuführen ist, das zu lernen, was man wissen muß, um Kinder zu schützen. So können minimale Investitionen in die Forschung und ideologische Barrieren, die Forschungen über bestimmte Themen verhindert haben, als Teil eines weitreichenden Ausweichens in der Kinderpolitik gesehen werden (vgl. Melton, 1987). Insbesondere werden durch ungeprüfte Vorstellungen darüber, wie Kinder sich verhalten sollten, die Erfahrungen von Kindern negiert. Die Forschung muß mit Sorgfalt vorgehen, um eine Wissensbasis für die Kinderschutzarbeit zu schaffen. Bei dieser Arbeit müssen die Forscher Einfühlungsvermögen in die kindliche Erfahrenswelt zeigen. Damit dies erfolgreich geschehen kann, muß die US-Regierung die Dringlichkeit der Krise des Kinderschutzes anerkennen und eine kompetente Vorreiterschaft übernehmen, um die Informationen bereitzustellen, die erforderlich sind, um die bestehende Notlage zu überwinden."(7)
Angestoßen von einer Kette regelrechter Kinderschutz-Katastrophen, ging das englische Gesundheitsministerium noch weiter und gab eine Serie von empirischen Untersuchungen in Auftrag, die die Aufgabe hatten, das gesamte Kinderschutz-System in Großbritannien zu durchleuchten. Die Ergebnisse der Berichte liegen inzwischen in 20 Forschungsberichten und in einer Zusammenfassung "Child Protection. Messages from Research" vor. Sie behandeln Fragen der Zusammenarbeit in der Kinderschutzarbeit, untersuchen die elterlichen Perspektiven in mutmaßlichen Fällen sexueller Kindesmißhandlung, erörtern Entscheidungsprozesse, Interventionen und Ergebnisse in der Kinderschutzarbeit, nehmen die Kinderschutzpraxis der Jugendämter in den Blick, klären die umstrittene Frage ritueller sexueller Kindesmißhandlung und befassen sich in einer ganzen Reihe von Studien mit Fragen des Ausmaßes und der Behandlung sexueller Kindesmißhandlung. (8)
In der Forschung heutiger Kinderschutzpraxis liegen wir demgegenüber in Deutschland - trotz einiger grundlegender Studien und regionaler Untersuchungen (9) - weiter zurück und, was noch schwerer wiegt, wird die empirische Untersuchung der Fachpraxis im Kinderschutz als nicht notwendig zurückgewiesen. Insbesondere unter dem Druck der öffentlichen, sensationellen Behandlung der Problematik der sexuellen Kindesmißhandlung und aufgrund der landauf, landab propagierten Methoden und inzwischen dokumentierten Praxis(10) sog. "parteilicher Kinderschutzarbeit" im Umkreis von Spezialeinrichtungen, die sich ausschließlich mit Fragen des sexuellen Mißbrauchs beschäftigen, haben sich alte Muster autoritären Kinderschutzes wieder ausgebreitet. So sind die sozialen Dienste erneut in Gefahr, wieder zu eher obrigkeitsstaatlichen Eingriffsbehörden zu werden, und wir sind dabei, die konzeptuellen und methodischen Fortschritte im Umgang mit dem Problem der Kindesmißhandlung (Hilfe statt Strafe, gemeinwesenorientierte Hilfen und kontextbezogene Beratung, neuer Kinderschutz) wieder zu verspielen. Die Chancen der Qualitätssicherung in der Kinderschutzarbeit werden nicht genutzt.
In der aktuellen Debatte um Qualitätssicherung in der Kinderschutzarbeit geht es freilich nicht darum, die Bemühungen von Kolleginnen und Kollegen, Kinder zu schützen, zu diskreditieren. Es geht vielmehr um Fragen der fachlichen Qualität, die im Kinderschutz auf besondere Weise gefährdet ist. Es stehen in der Diskussion um Kinderschutzfehler strukturelle Probleme im Vordergrund, die eine gute Fachpraxis ("best practice") in der Kinderschutzarbeit in Frage stellen. Ich nenne sie Qualitätsrisiken und möchte sie nun in einem zweiten Schritt herausarbeiten.
Die Inszenierung und Skandalisierung der Gewalt gegen Kinder (und insbesondere der sexuellen Kindesmißhandlung) haben das professionelle Wahrnehmungsvermögen und die professionelle Handlungskompetenz unterminiert.
Auf diese Weise ist ein regelrechtes Paradoxon entstanden: Je größer die Aufmerksamkeit und die sensationelle Beunruhigung, um so weniger gelingt eine nüchterne und sachliche Problembearbeitung der Mißhandlung von Kindern, geht das professionelle Unterscheidungsvermögen im Klischee unter. Vor lauter Neuentdeckungen massenhafter Mißhandlungen (mit immer pauschaleren und subjektiveren Definitionen) kommt es zu einer "Unschärferelation" in der Wahrnehmung der beobachteten Realität selbst, wirkt im vom herrschenden Medienbetrieb gesteuerten Umgang mit Kindesmißhandlung das "Heisenberg-Prinzip", wie Charles L. McGehee in einer schönen Studie gezeigt hat: "Je mehr wir wissen, desto höher ist das Risiko, daß wir über das beobachtete Phänomen im Ungewissen bleiben." (11)
Und dies geschieht um so mehr, je mehr naive wissenschaftstheoretische (essentialistische) Auffassungen die Wahrnehmung steuern, man könne ein soziales Problem, wie es Kindesmißhandlung darstellt, einfach beobachten oder gar "aufdecken".
Kindesmißhandlung ist aber keine einfache soziale Realität. Sie ist - um ein komplexes Phänomen auch angemessen kompliziert zu beschreiben - ein interrelativ erzeugter semantischer Code, ein kommunikatives Prädikat, eine soziale Problemkonstruktion. Sie hängt vom weiteren sozio-kulturellen Kontext ab, in dem sie erzeugt wird. Insofern ist Kindesmißhandlung in der Tat eine "System-Fehlfunktion", oder eine "situationell determinierte Inkompetenz in der Rolle des Sorgeberechtigten." (Garbarino / Gilliam, 12)
Das bedeutet: Wenn das Verständnis der Kindesmißhandlung nicht im großen Gewaltdiskurs, in dem Gewalt zu einem immer pauschaleren Begriff, einem "super summary symbol" (F. Neidhardt) geworden ist, untergehen soll, ist ein reflexiver Dialog notwendig. Er müßte ansetzen mit einem differenzierten, konstruktivistisch aufgeklärten Begriff der Kindesmißhandlung, der historisch und kontextuell bezogen und fachlich (d.h. im jeweiligen Handlungskontext) - als professionelle Konstruktion ausgewiesen sein mußt. Er enthält jedenfalls ein kulturelles und wissenschaftlich fachliches Werturteil, was gegenwärtig im Umgang mit Minderjährigen als unangemessen ("inappropriate") und schädigend ("damaging") angesehen wird.
Affirmative und emotionalisierte Schädigungsklischees wie etwa "Seelenmord" oder "Totalangriff auf das Menschsein" und Pauschalisierungen des Gewaltbegriffs sind hingegen nicht hilfreich, da sie diffus angelegt sind; sie irritieren allerdings nicht nur die epidemiologische Erforschung der Kindesmißhandlung sondern auch die konkrete Hilfepraxis selbst. Wer nicht weiß, was unter Kindesmißhandlung eigentlich zu verstehen ist, dem sind alle Katzen "grau". Oder der sieht überall nur "Gewalt-Epidemien". Um es "bunter", d.h. nicht langweiliger, zu machen, liegen dann auch schnell worst-case-Scenarien nahe, folgt der Diskurs binären Schematisierungen (13) (Täter - Opfer, Subjekt - Objekt, Erleben - Handeln, etc.), die eine Verschärfung von Verfolgung und Ausgrenzung begünstigen. Die Wahrnehmung komplexer Verhältnisse, nicht zuletzt der Interessen und Rechte der Betroffenen, bleibt dabei leicht auf der Strecke. (14)
Soll die "Leitdifferenz von Konformität und Devianz" (15) - das doppelte Mandat von Hilfe und Repression (16)- oder sollen "Hilfe und Nichthilfe" das Kinderschutzsystem strategisch orientieren? Mit dem doppelten Mandat bleibt Kinderschutz dem historisch überholten Verständnis der bürgerlichen Gesellschaft im 19. Jahrhundert verpflichtet, die das Armenwesen mit der Polizeiverwaltung verkoppelte, die soziale Hilfe als Devianzkontrolle und Prävention anlegte. (17)
Aus dieser Paradoxie führt nur heraus, wer die Chancen der professionellen Differenzierung sozialer Funktionssysteme (mit der eigenständigen Herausbildung neuer Dienstleistungsfelder) nutzt. Das aber hieße: Man läßt Polizei und Gerichte machen, was ihres Amtes ist. Die eigene Systemreferenz der Kinderschutzarbeit wird aber eindeutig auf Hilfe umgestellt.
Widersprüchliche Systemorientierungen, doppelte Mandate, machen demgegenüber diejenigen, die auf Hilfe angewiesen sind oder die von Hilfe profitieren können, regelrecht verrückt. Jedenfalls verwirren sie die Prozeßphantasien und Prozeßerwartungen der Klienten ebenso wie die der sozialen Fachkräfte. Man weiß dann nämlich nicht mehr, ob man sich in einem strafrechtlichen Ermittlungsverfahren befindet oder ob einem Hilfe angeboten wird. Die gedankenlose Benutzung einer Terminologie der Strafverfolgungsbehörden (wie z.B. "der Aufdeckung oder Verdachtsabklärung", die bezeichnenderweise bei manchem Spezialberatungsstellen im Umgang mit sexuellen Mißbrauch üblich sind) kennzeichnen diese widersprüchliche Orientierung.
Nicht was das Kind unter Umständen spontan sagt oder was es an Gefährdungsanzeichen oder Schädigungen zeigt und was dialogisch rekonstruiert werden könnte, ist von Belang, sondern was dem außenstehenden Helfer oder der Helferin (häufig ohne jede psychologische oder psychotherapeutische Qualifikation) eingefallen ist oder in oberflächlichen Fortbildenden vermittelt wurde.
Dann kommt es leicht zu falschen Positiva (unbegründeten, falschen Verdächtigungen). Die im Abschlußbericht des Projekts Wildwasser dokumentierte Diagnosepraxis belegt diesen Trend eindrücklich: Die Methode der affirmativen "Verdachtsabklärung" schließt alternative Deutungsmuster aus, so daß der Verdacht eines Vorliegens sexueller Kindesmißhandlung leicht als Tatsache unterstellt wird. Ein solches Vorgehen ist jedoch wissenschaftlich völlig unhaltbar. Es führt geradezu systematisch zu Diagnosefehlern. Diese haben im übrigen nicht selten eine Eingriffspraxis zur Folge, die die Rechte der Kinder und der Eltern erheblich beeinträchtigt.
Über das Ausmaß solcher Fälle liegen in Deutschland keine verläßlichen empirischen Untersuchungen vor. Konkrete Erfahrungen in der Zweitbegutachtung von Fällen berechtigen jedoch zu der Einschätzung, daß pro Jahr in jedem Jugendamt mindestens 1-2 solcher Fälle - in großen Jugendämtern sicher mehr - was insgesamt ca. 1600 Fälle pro Jahr ausmachen würde. Aber wie dem auch sei: Auch nur einige wenige "falsche Fälle" sind in der Lage, Kinderschutzbemühungen erheblich zu diskreditieren und den Ruf öffentlicher und freigemeinnütziger Einrichtungen zu beschädigen. In Anbetracht dieser Tatsache ist es absurd, "falsche Fälle" gegen die Zahl der tatsächlichen Mißhandlungsfälle auszuspielen. (Man würde ja auch nicht warten, bis alle Flugzeuge einer Luftfahrtgesellschaft abgestürzt sind, um umfangreiche Untersuchungen zur Klärung der Absturzursache anzustellen und mit Qualitätskontrollen zu beginnen!) (18)
Die andere Konsequenz problematischer Diagnosepraxis ist allerdings möglicherweise noch häufiger: falsche Negativa, d.h. es werden Kindesmißhandlungen übersehen, nicht erkannt und nicht behandelt. Dies geschieht besonders häufig bei Vernachlässigungsfällen, ist aber überhaupt bei Kindesmißhandlungen mit unklarer Symptomstruktur, vor allem bei emotionaler und sexueller Mißhandlung, der Fall. (19) Offenheit und Aufmerksamkeit in Verbindung mit kontextuellen Diagnosen und genauen familienanamnestischen Erhebungen sind geeignet, solche falschen Negativa zu vermindern.
Dann verliert Kinderschutz die gesamte Familie und die weiteren Lebensumstände aus den Augen, wird eindimensional und neigt zu unbedachten Spaltungen des Familiensystems und zu schnellen, nicht gründlich abgeklärten Trennungen, deren traumatische Folgen nicht selten unterschätzt werden.
Vor allem bei der Behandlung sexueller Kindesmißhandlungsfälle werden Kinder, wie die Praxis häufig zeigt, oft ohne weitere Risiko- und Ressorcenreinschätzung von ihren Familien gewaltsam getrennt, z.T. ohne die Kinder vorher überhaupt zu sehen und ohne die Indikation für eine Fremdunterbringung des Kindes genauer abzuklären. Hinzukommt, daß dabei eine Gefährdung des Kindeswohls pauschal unterstellt wird und daß dann den Eltern oft der weitere Kontakt mit ihren fremduntergebrachten Kindern verweigert wird, was in den meisten Fällen auf eklatante Rechtsbrüche durch das Hilfesystem hinausläuft.
Bei Vernachlässigungsfällen hingegen wird oft zu lange abgewartet, läßt man es laufen oder es kommt zu Kontaktabbrüchen, was nicht selten zu dramatischen Prozeßfehlern führt, die, wenn dabei Kinder umkommen, zu dem bekannten Aufschrei in der Öffentlichkeit führen, das zuständige Jugendamt hätte doch früher Hilfen anbieten oder eingreifen müssen.
Dabei bleibt das Kindeswohl auf der Strecke. Mir liegen inzwischen zahlreiche Fälle vor, bei denen mit den Betroffenen gar nicht gesprochen wurde, bei denen das angeblich mißhandelte Kind kinderanamnestisch, psychologisch und ärztlich nach den Regeln der Kunst nicht untersucht wurde. Die Kinder wurden aber um so intensiver suggestiven Befragungen ausgesetzt und mit sog. anatomisch korrekten Puppen konfrontiert, die inzwischen wissenschaftlich als diagnostisch völlig unbrauchbar angesehen werden. (20)
Vor allem in strittigen Fällen werden Vorschriften des KJHG (Wahlrecht, Partizipation der Betroffenen, ambulant vor stationonär, etc.) nicht strikt genug angewendet, werden aus Hilfekonferenzen vielfach Tribunale, auf denen die Helfer ihre Sicht der Probleme durchsetzen. Man handelt vielfach hinter dem Rücken der betroffenen Familie und hält geltende Datenschutzbestimmungen nicht ein. Leider schließen sich Vormundschaftsgerichte an die vorgetragene amtliche Erstdarstellung ohne eigene Prüfungen des Sachverhalts immer wieder an.
Fehler in der Fachpraxis sind das Ergebnis widersprüchlicher Programmkonzepte, nicht-kontextueller Diagnoseverfahren und manipulativer Behandlungsmethoden. Sie häufen sich, wenn Fehler in der Kinderschutzarbeit nicht als "normal", ja als alltäglich angesehen werden, was im Bereich der Sozialarbeit die Regel ist. Anstatt in Anbetracht der Komplexität, Ungewißheit und Unvorhersehbarkeit jeder Praxissituation auf ständige Qualitätssicherung zu setzen, galt es im Berufsfeld sozialer Arbeit traditionellerweise schon immer als unfein, einem Kollegen Fehler vorzuhalten. (21) Dennis Howitt ist zuzustimmen, wenn er ausführt: "To regard things that go wrong as anything other than integral to the work of organisations is to risk a pressure to sweep them under the carpet; in effect, not to learn from them. Regarding errors as part and parcel of professional involvement in child protection does not imply any complacency. It means that the topic of errors can be given a continuosly high profile rather than being whispered about in corridors and bars. Errors can be seen as providing vital stimulus to progress and improvement. They offer data on which to build." (22)
[Auf Deutsch] "Fehler als etwas anderes als zum Wesen der Arbeit in Organisationen gehörend zu betrachten, bedeutet, dem Druck nachzugeben, sie unter den Teppich zu kehren und letztendlich nicht von ihnen zu lernen. Fehler gewissermaßen als täglich Brot der professionellen Kinderschutzpraxis zu verstehen, ist kein Hinweis darauf, daß hier Selbstgefälligkeit eine Rolle spielte. Es bedeutet vielmehr, dem Thema "Fehler" kontinuierlich einen hohen Stellenwert zuzumessen, anstatt über sie auf den Korridoren der Ämter oder beim Stammtisch herzuziehen. Fehler können als lebenswichtiger Impuls für Fortschritt und Verbesserung verstanden werden. Sie bieten Informationen, auf die man bauen kann."
Aktuell nehmen Kinderschutzfehler aber nicht zuletzt auch deswegen zu, weil sexualpolitische Missionsbewegungen ein Klima der Viktimisierung und der moralischen Entrüstung geschaffen haben und weil leichtfertige Wissenschaftler unhaltbare Methoden des Umgangs vor allem mit sexuellen Kindesmißhandlungsfällen propagiert haben, die z.B. in Münster und Worms zu Hilfekatastrophen führten. Hunderte solcher Fälle sind inzwischen in den USA zweifelsfrei als Kinderschutzfehler festgestellt worden. In Großbritannien wurden mehr als zwei Dutzend regierungsamtliche Kommissionen eingesetzt, um die ins Gerede gekommene Arbeit örtlicher Kinderschutzstellen zu untersuchen; sie stellten Serien von Kinderschutzfehlern fest und forderten sofortige Korrekturen. Kinderschutzfehler bei breit erörterten sog. "Massenfällen" angeblicher sexueller Kindesmißhandlung wurden aber auch in den Niederlanden und Norwegen festgestellt. Ein besonders dramatischer Fall fehlerhafter Fachpraxis der Behörden wird von einer kapverdischen Immigrantenfamilie aus Luxemburg berichtet. In Deutschland ist eine große Zahl von professionellen Praxisfehlern nicht allein durch die in den Medien mit großer Aufmerksamkeit erörterten Prozesse in Coesfeld, Nordhorn und in Worms/Mainz bekannt geworden.
Fehler und Erfolge in der Kinderschutzarbeit müssen untersucht werden, die Beispiele erfolgreicher Arbeit müssen ausgebaut und weitergegeben werden. Besonders verbreitete Fehlinterventionen und Praxisrisiken müssen erkannt und sodann überwunden werden.
Wissenschaftlich nicht haltbare Diagnosemethoden (insbesondere die sogenannte "Aufdeckungspraxis", die schwerwiegende Fehler aufweist und eine Differentialdignose sexueller Kindesmißhandlungsfälle nicht erlaubt) müssen eingestellt werden. Die gegenwärtige Fort- und Weiterbildungspraxis (vor allem mit Erzieherinnen und Sozialarbeiterinnen) muß auf die dort vertretenen symptomorientierten Methoden hin kritisch überprüft werden.
Die fast durchgängige Praxis, auf bloßen Verdacht einer sexuellen Kindesmißhandlung hin Kinder sofort aus ihren Herkunftsfamilie herauszunehmen, bedarf einer kritischen Überprüfung. Eine gezielte Untersuchung der Unterbringungspraxis bei Fällen sexueller Kindesmißhandlung ist überfällig. Sie könnte ein Licht werfen auf Ausmaß und Schwergrad angeblicher oder tatsächlicher Gefährdungen von Kindern, auf die Indikation kostenträchtiger außerfamilialer Unterbringungen und ihre am wenigsten schädlichen Alternativen. So könnten die Ergebnisse der Hilfepraxis dokumentiert und nicht zuletzt Vorschläge für eine systematische Qualitätskontrolle im Hilfeprozeß entwickelt werden.
Jeder strittige Kindesmißhandlungsfall sollte von einer unabhängigen Fachkraft (die nicht in der betroffenen Einrichtung tätig ist) im Rahmen einer Zweitsicht überprüft werden. Bei "Massenfällen" bzw. gehäuft auftretenden Kinderschutzfehlern sollten von den Landesministerien bzw. den Landesjugendämtern Sachverständigen-Kommissionen berufen werden, die die entstandene Problematik untersuchen und die klären, ob und, wenn ja, warum es zu fachlichen Fehlern gekommen ist, warum Kinder vermeidbar zu Schaden gekommen und Bürgerinnen und Bürger in ihren Rechten verletzt worden sind. [In England ist eine solche Praxis seit langem üblich.]
Es müssen in Deutschland schließlich dringend konkrete epidemiologische Untersuchungen wenigstens über das Ausmaß der in der Jugendhilfe bekannten Fälle von Kindesmißhandlungen und über die gegenwärtige Hilfepraxis im Kinderschutz angestellt werden, um die Arbeit auf eine sichere Grundlage zu stellen. Die Weiterentwicklung differenzierter und effektiver Hilfen ist ohne diese Daten nicht denkbar.
Veröffentlicht vom Kinderschutzzentrum Mainz
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