PAUL CELAN

1920-1970
 
 
 
 


Paul Celans Herkunft als Schlüssel zu seinem Gedicht (II)

Peter Szondi hatte davor gewarnt, Celans Gedicht biographisch zu deuten, Celan selbst riet, sich an seinem Gedicht "wundzulesen"; doch seine Briefe, vor allem ins ehemalige zuhause, beweisen, daß es hier eine Art Berührungstabu gab; jedenfalls ist die Ansicht, seine Gedichte hätten sich auch ohne biographische Beigaben durchgesetzt, irrig, denn ohne das deutsche und europäische Schuldgefühl, ohne die Diskussion um die "Dichtung nach Auschwitz" und die Holocaustdichtung, wären seine schwierigen Textgewebe wohl nicht weltbekannt geworden, und heute vielleicht nur noch wenigen Lyrikliebhabern und Spezialisten bekannt.

Gerade weil diese Dichtung mit dem Biographischen steht und fällt, nimmt die Flut der lebensgeschichtlichen Deutungen, Materialien, Quellen, Nachlaßveröffentlichungen zu. Lange Zeit herrschte in Westdeutschland der Eindruck vor, als wäre diese Lyrik wäre vom Himmel gefallen, gab es in den fünfziger Jahren ein esoterisches Interpretations-Geraune, worüber sich Celan in seiner krankhaften Verletzlichkeit selbst beklagte, und als ihm dann die Fragen nach seiner Herkunft zuviel wurden, da wollte er diese ausklammern; der sonst in Daten so peinlich Genaue widersprach seinen Verlegern und Interpreten nicht, die an einer Auschwitz-Legende seiner Dichtung bastelten, machte es nie wirklich öffentlich (auch wenn viele Andeutungen, allerdings nur in seiner frühen Lyrik zu finden sind), daß seine Mutter, die im Zentrum seiner Dichtung steht, in einem rumänischen Lager am Bug in der Ukraine war, und nicht in Auschwitz

Doch die Metapoesie, die gegen sich selbst gerichteten Sprachabgründe dieser Gedichte sind gerade aus einer Chiffre der Undenkbarkeit und Unvorstellbarkeit des Geschehens entstanden. Und: Celans Gedicht, das die wenigsten, die es loben und analysieren, in ihrer unzugänglichen Tiefenstruktur wirklich begreifen können, kam dem Zeit-Trend einer allgemeinen Schuldempfänglichkeit und der Bestürzung nach Auschwitz und Hiroshima entgegen, wie George Steiner richtig bemerkt. Diese Lyrik übersteht und übergeht sich selbst an der Grenze unserer Vorstellung. Sie will an dieser Grenze im eigenen Wort vergehen. Sie will metasprachlich und meta-physisch auf ganz neue Art, jedoch keineswegs im luftleeren Raum, sondern ganz "postmodern" zitatenbesessen und sogar traditionsversessen im Detail unverwechselbar Celan sein. Es gehört eine große und subtile Deutungs-Anstrengung dazu, die Hintergründe und "Einstellungen" aus dieser Perspektive richtig zu erkennen. Dieses ist mit germanistischem Rüstzeug allein fast unmöglich, da es um ein enzyklopädisches Gedicht eines alle Literatur überschreitenden interdisziplinären und intuitiven Sprachraum geht. Vor allem geht es (bis in alle Abgründe und Traditions-Tiefe) immer wieder neu um das gleiche Thema, oder eher "Pneuma", wie Felstiner sagt: das eigene Judentum zu erfassen und zu erkennen, "was der Menschheit zwischen 1933 und 1945 widerfuhr." Celan ist "Hauptzeuge", er ist mit einem wunden Bewußtsein um die Dimension der Shoa begabt. Gäbe es dieses Thema der Auslöschung, des "Verstummens" angesichts des Geschehenen nicht, wäre auch der gegenwärtige Celankult unerträglich, der nun alles, auch den letzten Satzfetzen ans Licht der Öffentlichkeit zerrt. Gottseidank ist wenigstens Celans Tagebuch noch unter Verschluß, und ebenso wie die Diagnosen und Krankenakte während seiner Aufenthalte in Heilanstalten. Doch was jetzt zum Vorschein kommt, widerspricht der Heiligenlegende, die schon Bücher zur "Übertragungstechnik" seiner Übersetzung hervorgebracht hat. Auch eine Ausstellung mit einem Wälzer von Katalog im "Literaturarchiv Marbach" gehört zu dieser Emsigkeit. Gerade diese Ausstellung bringt an den Tag, wie wenig penibel Celan beim Übersetzen war. So etwa bei den Übersetzungen aus dem Rumänischen, wobei auch "aus dem Rumänischen" falsch ist, er hat ausgerechnet diese Lyrik seines Herkunftslandes und von Bekannten aus dem Französischen übersetzt, und die Fehler der Übersetzung (schamhaft nur mit Initialen bezeichnet: Mlle J.R.) brav mitübersetzt! (Virgil Teodorescu Und Gellu Naums Gedichte aus den Cahiers du Sud. Marseille. Anneé 33, 1946, No.280, S. 382/83). Dabei wird im Französischen aus "focá" (Seehund) im Gedicht "Die ertrunkene Schloßfrau" von Teodorescu " "vaste foyer" und bei Celan ein "Feuerkern" . S. 131. Als hätte Celan Teodorescu und Naum nicht gekannt! Fehler über Fehler im Rumänischen des Katalogs: so "clátinándu-se" anstatt "clátinîndu-se" (von clátinare: Schwenken, Schwingen, Schwanken), besonders peinlich auf S. 62 das rumänische Celangedicht "Cântec de dragoste" mit drei Fehlern "fodforescentti" (anstatt fosforescenti: im Dunkeln leuchtende, in der beigegebenen schlechten Übersetzung dazu, hat man sich "im Dunkeln" erspart); kaum entschlüsselbar ist "revtarsa", was wohl "revársa" heißen soll! Und das sind nur einige Beispiele! Verantwortlich zeichnet Barbara Wiedemann. Daran sieht man, daß die Herausgeberin des Frühwerkes von Celan des Rumänischen nicht ausreichend mächtig ist, von den Kenntnissen in Sachen rumänischer Literatur ganz zu schweigen.

Unser verrücktes Jahrhundert will es, daß der meistinterpretierte deutsche Dichter nach 45 gar nicht in diesen deutschen und westlichen Kulturkreis gehört, und daß die wichtigsten Struktur-Sprachen seiner Poesie den Deutschen so fremd sind, wie er ein fremder Gast für die Deutschen war und ist! Er lebte nicht nur nicht in Deutschland, kam nicht aus Deutschland, sondern kam von weiter als weit her, nicht nur aus der Bukowina, aus Transnistrien, aus dem Russischen, dem Rumänischen, Jüdischen, Französischen, sondern auch aus dem Gegen-Deutschen: das Deutsche war die Sprache der Mörder seiner Mutter! Daraus entstand eine aus dem Trauma und den Grenzzutänden (bis hin zum Wahnsinn) geborene Privatsprache, aus der weder die Kabbalah noch die entscheidenden Einflüsse, die aus dem rumänischen Surrealismus kamen, wegzudenken sind. Um diesen nachgehen zu können, muß ein Interpret freilich sowohl die Kabbalah kennen, als auch des Rumänischen kundig sein, was bei den meisten Germanisten und Celanexperten nicht der Fall ist! Und eigentlich dürfte sich niemand "wissenschaftlich" auf das Frühwerk Celans einlassen, der des Rumänischen nicht ausreichend kundig ist. Von Kenntnissen in der Tiefenstruktur der Kabbalah ganz zu schweigen. Weiter gehören zur Aufschlüsselung dieser Privat- und Metasprache auch Kenntnisse der Atomphysik, und das Eingehen auf eine ganz besondere Perspektive der Vielsprachigkeit, Vielortigkeit, U-Topie des "Meridians" in Celans Sinn als einer höheren Heimkehr in den größten Sinnzusammenhang, der nur mit einem Blick aus der Zukunft, also vom Tode her erfaßbar ist, und dieses schon bei Lebzeiten auf der Erde, "wo ich zu Gast gewesen sein werde". Celan ist ein metasprachliches, zwischenschaftliches Phänomen par excellence, und daher nur in "wundlesender" An-Gleichung an diesen Zustand zu begreifen.

Man kann Peter Motzan nicht zustimmen, der in einem, sonst sehr informativen und glänzend geschriebenen Aufsatz meint, daß "Paul Celans Texte befragt, entziffert, kommentiert...", das Frühwerk "erschlossen" sei, und daß die "entstehungsgeschichtlichen Voraussetzungen und kon-textuellen Bezüge durchleuchtet worden" seien. Motzan zitiert dabei auch zwei Bände des Bukarester Germanisten George Gutu: "Die Lyrik Paul Celans und der geistige Raum Rumäniens," Bukarest 1990 und "Die Lyrik Paul Celans und die rumänische Dichtung der Zwischenkriegszeit," Bukarest 1994, die von der Celan-Forschung kaum beachtet wurden. Dabei hat George Gutu Pionierarbeit geleistet, sowohl, was die frühen Übersetzungen, als auch was die frühen Gedichte Celans betrifft. Und darauf baute dann die westliche Celan-Forschung auf, ohne diese Basisarbeit der Wahrheit gemäß zu würdigen. Vor Gutu hatte Werner Söllner die ersten frühen Gedichte in der "Neuen Literatur" veröffentlicht. Gutu schrieb 1977 die erste wissenschaftliche Arbeit, eine Leipziger Dissertation, über diese frühen Gedichte. Zu recht weist der Bukarester Germanist darauf hin, daß seine Forschungsarbeit ohne Namensnennung von westdeutschen Germanisten ausgeschlachtet, er bestohlen worden sei.

Zu bedauern ist auch der Hochmut, mit dem die "kleine" rumänische Sprache und Literatur, der Celan wesentliche Einflüsse zu verdanken hat, von westdeutschen Germanisten bedacht wird. Auch Wiedemann-Wolf schreibt in ihrem Buch über "Surrealismus in Bukarest", "als entdecke sie Amerika" (Gutu). Man hat den Eindruck, als sollten die Forscher vor Ort ausgetrickst werden, um die lästige Konkurrenz auszuklammern. Rumänien ist weit, rumänische Kultur ist abseitig, kann leicht "vergessen" werden. Manchmal entsteht der Eindruck, als wäre es eine "Jugendsünde" Celans gewesen, sich mit ihr einzulassen. Dabei war es damals (1938-1948, vor allem 1944-47) das Lebenselement, aus dem er nicht einfach "herausgenommen" und "gereinigt" werden kann. Ebensowenig vom Jüdischen, das seine Substanz ausmacht, wie Hans Mayer betont, das Jüdische ist nicht etwa nur eine Art "Bekenntnis"! Auch die Freundschaft Bachmann-Celan, beruht auf diesem Ursprung. Die beiden waren Fremde in der Gruppe 47. Celan paßte nicht in diesen deutschen Dichterkreis, er verzauberte nur die Bachmann, die sich ihm anglich. Die anderen lehnten den Fremden ab. Später aber paßte ihn sich die westdeutsche Germanistik an, eignete sich ihn an, verbog ihn zum "deutschen Dichter". Dabei stimmt nicht einmal der deutsche Grundmythus: seine Mutter starb in einem rumänischen, nicht in einem deutschen Lager. So die Grundtatsachen uminterpretierend, legendenbildend, entstand aus der "fuß- und zehnötlich geschützten" Fleißarbeit diese auf sich selbst bezogene Legende, der fast schon west-deutsche Dichter "Celan", ein bienenfleißiger Editions- und Fußnotencelan aus dem Nachlaß (obwohl Celan es ausdrücklich anders bestimmt hatte!) So eingemeindet entsteht ein nur mit westdeutschen Publikationen aufgebautes monsterartiges Monument - (der Band "Die Gedichte aus dem Nachlaß" enthät c.a 300 Seiten Celantext und 250 Seiten Kommentare und Fußnoten!), zugeschüttetes Leben und letztlich ein Phantombild, so daß der Verbitterte (man kennt den Ton aus den Briefen an Sperber) lange - und über das Grab hinaus, in diesem Punkt recht behält, er nie selbst sein durfte und darf (sondern "ein herkunftsloser Steppenwolf" bleibt!) Die Herkunft, das jüdische Element und das Rumänische störte, wurde von dem eigentlichen (kaum bekannten) Umfeld gelöst, ein handlicher westdeutscher Germanistencelan sollte hergestellt werden.

Wohltuend dagegen ist die Forschungsarbeit des Bukarester Germanisten George Gutu, dieser beschreibt etwa die rumänische Literaturaura als einer, der sie von Grund auf kennt, mit ihr aufgewachsen ist.

Man liest Gutus Arbeit Seite für Seite mit Faszination und innerer Anteilnahme, es ist eine schöne und formulierungsgenaue Analyse, stringent und vor allem sehr gut untermauert, sachlich vom Material her, auch wenn dann bei der Einzel-Interpretation sicher abweichende Meinungen auftreten können.

Die beiden Bände George Gutus über die "rumänische Koordinate der Lyrik Paul Celans" beruhen auf seiner Leipziger Dissertation (1977). Band I (1990) geht auf bisher noch wenig bekannte Aspekte des frühen Celan ein, auf den geistigen Raum der Bukowina, auf die Bukowiner Dichtung (Sperber, Kittner, Rosenkranz u.a. - eine der besten Analysen dieser Dichter, die es gibt!), auf den Werdegang Celans, sowie auf seinen Bukarest-Aufenthalt 1944-1947 und die äußerst fruchtbare Interferenz mit dem rumänischen Surrealismus, die Gutu zum erstenmal erforschte; ebenso wurden in seiner Dissertation die bisher unveröffentlichten Celan-Briefe, Gedichte, Prosatexte - auch die in rumänischer Sprache -, gesammelt und dieses wichtige Material der Forschung zur Verfügung gestellt. Die Impulse von 1977 sind von der Forschung kam aufgenommen, und wie wir sahen, oft genug übergangen und ohne Hinweis ausgeschlachtet worden.

In Band II werden die "Interferenzen" Celans mit den rumänischen Klassikern der Moderne (Philippide, Arghezi, Blaga) herausgearbeitet. Die methodologischen Prämissen, die theoretischen Überlegungen des ersten Bandes dienen dabei als Ausgangspunkt, vergleichende Literaturwissenschaft steht im Zentrum, ebenso "Mentalitätsgeschichte", um das gesetzte Ziel, den geistigen Umraum und den Zeit-Geist, vor allem zwischen 1938 und 1948, in seiner Wirkung auf Celans Frühwerk zu erforschen. Dieses ist oft mißverstanden worden, Gutu möchte weniger direkten "Einflüssen", eher Kontexten und Wahlverwandtschaften im Frühwerk Celans nachgehen, wobei freilich manchmal Überdehnungen der Parallelen und Interferenzen und subjektive Deutungen das Bild etwas unscharf werden lassen.

Wichtigste Einsicht bei diesen Interferenzen ist, daß auch bei Celan die Grenze zwischen Lebenden und Toten aufgehoben ist, wie etwa bei Blaga - ein fließender, ununterbrochener Dialog mit den Toten entsteht ( wobei der Rilke- oder Novalis-Einfluß ebenso stark gewesen sein dürfte!) Dieser Dialog geht über Zeit- und Raumgrenzen hinaus, er ist bei Celan ein eigener Raum der Begegnung mit den Opfern.

Die abenteuerlichen "komparatistischen Extravaganzen" Gutus, wie es ein Kritiker nannte, kommen in einem tieferen Sinn in diesen Zwiespalt, vieles ist hinfällig, einiges jedoch bleibt ganz gewiß bestehen, so der direkte Arghezi-Einfluß bei "Ein Lied in der Wüste" und bei anderen Gedichten. Wobei es vielleicht gut gewesen wäre, etwa beim "Grab in den Lüften" und beim "Schaufeln" (S. 38/39) auch mit den hebräischen Interferenzen zu beachten, und einer Kontamination nachzugehen. Ebenso beim Begriff "Nichts"(49) (Gott ist im Hebräischen gleich mit dem Nichts). Und was das Ketzerische und den Gottesfluch betrifft, die negative Mystik und die Umkehrungen in der "Niemandsrose", da gibt es sicher nicht nur eine Arghezikontamination, sondern auch einen Einfluß von Sperbers "Ketzerevangelium".

Doch bei aller Kritik im einzelnen, bleiben Gutus Bücher ein wichtiger Anlaß, das "Ausgeklammerte" in Celans Herkunft genauer zu sehen! Keiner wird Celans Frühwerk wirklich begreifen und verstehen können, ohne die von Gutu aufgewiesene Komponente gründlich zu kennen. Und vielleicht wird die Zeit kommen, wo ein Doktorand in Sachen Celans Frühwerk die ausreichende Kenntnis des Rumänischen als Auflage erhält, was für Celanspezialisten erst recht gelten sollte!

Aber wichtiger als diese Komponente (vergleichende Literaturwissenschaft) ist die ursprüngliche erste Ordnungs- und Kärrnerarbeit Gutus und die "Ausgrabung" bis 1977 völlig unbekannter Celan-Texte. Ebenso auch diese Hinweise auf die Bedeutung des rumänischen Herkunftsraumes, der von den westdeutschen Germanisten einfach "vergessen" worden war. Dieser Raum wirkte auf Celan auch in Paris weiter, blieb ein "Schlüssel zu seinem Gedicht" und wurde noch gesteigert durch das Vakuum und die nostalgischen Rückträume des Exilierten, durch das Lager- Trauma und die Erinnerung an die Ermordung seiner Mutter in Transnistrien, es war der wichtigste Antrieb seines Schreibens. Die westdeutsche Celanforschung vernachlässigte diesen Schüssel nicht nur, sondern, wenn sie darauf einging, wurde der Ton nicht selten aggressiv und unkollegial wie bei Barbara Wiedemann . Zu recht beklagt Gutu diese Tendenz. Und unterstreicht Wiedemanns herablassende Art, die wichtigsten rumänischen Dichter als "Stiefkinder der Weltlitertur" zu apostrophieren, obwohl diese der Westdeutschen nur durch "eingestandenermaßen - prekäre Sprachkenntnisse und Lektüre" bekannt sind.

Nicht nur Romul Munteanu, auch Jürgen P. Wallmann und Andrei Corbea sprechen in ihren Arbeiten über diesen wunden Punkt. Vor allem wird die Diskriminierung der Forschungen und Veröffentlichungen im Herkunftsland Celans zurückgewiesen. Nicht nur Gutus Arbeit ist gern "vergessen" worden, sondern die Aggressivität gegen jede Sekundärliteratur aus dem rumänischen Bereich erscheint geradezu peinlich. Als gäbe es eine tiefliegende Angst bei diesen "Einmischungen" und "Störungen" aus jener Gegend, wo ja die eigentliche Kompetenz und Kenntnis der Umstände liegen, in denen Celans Frühwerk entstanden ist, woher die Urmanuskripte des Frühwerks naturgemäß herkommen und ein Teil auch schon veröffentlicht wurde, bevor die westdeutsche Germanistik überhaupt etwas davon ahnte! Celan debütierte sogar mit einer rumänischen Übersetzung seiner "Todesfuge", ("Tangoul mortii", Contemporanul, 2. Mai 1947). Celan schrieb auch rumänische Texte. Sein Freund Petre Solomon hat diese 1987 herausgegeben. Erstaunlicherweise kommen Gutus Arbeiten auch bei Solomon nicht vor.

Gutu bietet in Band II seines Werkes im Anhang eine ausführliche Chronologie des tatsächlichen Standes und Veröffentlichungshergangs der diversen Bukarester Konvolute des Frühwerks (denn andere gibt es naturgemäß nicht!)

Was die westdeutsche Germanistik zum Frühwerk zu bieten hat, ist in Fleißarbeit "angelernt" und angeeignet, nicht nur die Materialien selbst, sondern vor allem auch die vielen Interferenzen mit der rumänischen Sprache und Literatur, ja, was die Wertung Celans als rumänischer Poet betrifft, der mit seinen rumänischen Texten zur rumänischen Avantgarde gehört, ja, erst durch den befreienden Kontakt mit den besonderen semantischen Strukturen des Rumänischen seinen eigenen metasprachlichen Stil im Deutschen entwickeln konnte, die seine freie Assoziationsfähigkeit in der Sprachphantasie schulten, es ihm erlaubten, die Sprachgrenzen dieser Mutter-Sprache anders zu sprengen, als das bisher geschehen war, und den Sprachschock zu üben, ebenso haben die hebräischen Einflüsse dazu beigetragen; die westdeutschen Wertungen, die den rumänischen Stil-Einfluß bei Celan eher als vernachläßigenswerten Seitensprung und reines Probieren ansehen wollen, bleiben oft schülerhaft und wenig überzeugend! Eine stringende poetologisch-linguistische Analyse, die auch Celans Übersetzungen ins Rumänische mit zur vergleichenden Analyse heranzieht, steht leider noch aus! Ebenso wenig überzeugend sind Wiedemanns Wertungen zur jüdischen Dichtung der Bukowina, Wertungen, deren Überheblichkeit kaum zu überbieten sind! Und diese Texte wurden freilich, wie ein Großteil des deutschen Frühwerks auch, zuerst im Herkunftsland veröffentlicht. Die westdeutsche Forschung verschweigt oder diskriminiert diese Tatsache. Man kann dieses durchaus als Skandal bezeichnen, und es wurde von Kritikern auch als solcher erkannt, etwa daß die merkwürdige "unsinnige Ausschluß-Klausel" (J.P. Wallmann) von Barbara Wiedemann-Wolf, die sich durch einen kurzen DAAD-Aufenthalt in Rumänien das Recht erworben zu haben meint, einzige Kennerin der rumänischen Phase Celans (38-48) auftreten zu dürfen, und die in ihrer Arbeit über das Frühwerk Paul Celans und dann in ihren fleißigen Herausgeberbemühungen Erstdrucke und Erstveröffentlichungen im Herkunftsland als "nichtautorisiert", die eigenen (nachgedruckten) aber als "autorisiert" bezeichnet, und so sich jede Celan-Erstveröffentlichung selbst zuschanzen möchte. "Mangel an philologischer Sorgfalt ist das Mindeste, was man ihr vorhalten muß. Paul Celan und seine Leser hätten eine korrektere Editionsarbeit verdient," heißt es bei J.P.Wallmann. Und ähnlich äußert sich ein anderer Kenner der Materie, der Germanist Andrei Corbea von der Jassyer Universität, der "mit Verwunderung" dieses koloniale Verhalten der Herausgeberin registriert, die sich ins Unrecht setzt, indem sie George Gutu und Petre Solomon Unrecht tut, deren Arbeit entweder diskriminiert oder völlig totschweigt.

Die eigene Haltung Celans zu diesem Frühwerk war kontrovers, im Grunde aber neigte er zu einer Veröffentlichung; im "Meridian" bezieht er sich auf diese; und vieles in den Briefen (vor allem an den Mentor und Freund Alfred-Margul Sperber nach Bukarest) spricht dafür, daß er eine Ausgabe plante. Die Witwe jedoch war strikt dagegen, und sie überzeugte anscheinend auch den (inzwischen verstorbenen) Herausgeber der Gesamtausgabe Beda Allemann (Bonn) davon. So erschien nach 1970 ein Teil des Frühwerkes nur in Rumänien. Und genau diese "Ausgrabungsarbeit" ist die Basis jeder Kenntnis des Frühwerkes. Nicht nur Israel Chalfens Buch ("Paul Celan. Eine Biographie seiner Jugend", Frankfurt a. Main 1979) sondern vor allem das Celan-Colloquium in Bukarest 1981 schufen die Grundlagen zur Kenntnis dieser Zeit. Und auch das berühmte "Marbacher Konvolut", das heute die Manuskript-Grundlage für das Frühwerk ist, müßte^in großen Teilen und den Tatsachen entsprechend, Sperber-Konvolut genannt werden, denn es stammt aus dem Nachlaß des Bukowiner Celan-Freundes und Mentors Alfred Margul-Sperber. Doch mit dieser Übereignung und den bienenfleißigen Celan-Editionen in Westdeutschland dürften die eigentlichen Hintergründe des Frühwerkes, die Wahrheit über den frühen Celan, sowie die Arbeiten der Celan-Forscher aus dem Herkunftsland nicht zugeschüttet werden.

Erschienen in Rowohlts "Literaturmagazin" Nr.10
 
 



 
 
 
  DIE NACHZUSTOTTERNDE WELT Paul Celans Wahn-Sinn, Leid und Erkenntnis eines millenaren Zeitbruches   Paul Celans "Wahn-Sinn" - Leid und Erkenntnis eines millenaren Zeitbruches

Das Blochsche Noch-Nicht, das Noch-Nicht-Nachvollziehbare, das aber DA ist, braucht Zeit; wir sind meist unfähig, es wirklich zu erleben, an bisherige Erfahrungen zu binden, fähig nur "punktuell" es aufblitzend erstaunt wahrzunehmen; es "geschieht" im Schlag von Lebensaugenblicken, eher von Todesaugenblicken, auch im Tod von "Zeit"; und vielleicht geschah es aufblitzend 1989. Diese Art blitzartiges Erleben, wie es auch Walter Benjamn in der Kategorie des "Chocks" beschrieben hat, finden wir bei Paul Celan. Was im Alltag noch nicht erfahrbar ist, vorwegzunehmen und so etwas Unmögliches sprachhandelnd zu TUN. Solch eine Art Dichtung wartet darauf, daß sie von der Geschichte eingeholt wird.

Das Kreative geht voraus: es ist eine Art Teleskop, Fernrohr, Elektronenmikroskop für Orte der ZEIT, in Zeit-Räumen zu sein, die genau wie bei jenen Geräten, entdeckte Wirklichkeiten zeigen, die mit freiem Auge oder Nicht-Sprachlichem Erleben gar nicht da und nachvollziehbar sind, ja absurd erscheinen, wie etwa die Titelzeile, die ich für meinen Essay gewählt habe: "Die nachzustotternde Welt,/ bei der ich zu Gast/ gewesen sein werde, ein Name". Dieser Name aber ist kein Begriff, es ist der Ort des Subjekts, wo mehr geschieht, als begriffliche Sprache auszudrücken vermag. Für Celan ist er erfahrbar im ungedeuteten Augenblick, im Offenen, im Bereitsein, im "Gebet der Aufmerksamkeit". "Man kann," sagt Celan im "Meridian", seiner Büchnerpreisrede 1960, "verschiedene Akzente setzen: den Akut des Heutigen, den Gravis des Historischen - auch des Literarhistorischen - ,den Zirkumflex - ein Dehnungszeichen - des Ewigen. Ich setze - mir bleibt keine andere Wahl -, ich setze den Akut." Dabei und von diesem Jetzt aus halte das Gedicht einem "Ganz Andern" zu.

Jenes Andere der "Zeit", die näher kommt, durch heftige Geschichtsbewegung näher, ist jetzt näher als bei Celans Tod 1970, es wird in Paul Celans Gedicht schon virtuell erkennbar, das eigentlich selbst eine Deutung ist, die sich der "Zeit" gegenüber verhält, wie sonst der Kommentar zum Gedicht.
 
 

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DIE NACHZUSTOTTERNDE WELT,

bei der ich zu Gast

gewesen sein werde, ein Name,

herabgeschwitzt von der Mauer,

an der eine Wunde hochleckt.()

Diese fünf Verszeilen stammen aus "Schneepart", dem letzten von Celan selbst zusammengestellten Gedichtband, und wie ein Vermächtnis klingen diese Verse. Mit Giuseppe Bevilaqua, dem Florentiner Übersetzer und Germanisten kann man sagen, daß Celan bewußt einen "Nachlaß zu Lebzeiten" geschrieben hat; er zählte sich zu den Toten, war ein zufällig Überlebender, jedoch ein Zeuge. Er hatte seine Eltern in einem Todeslager verloren; sein Werk war von Anfang an ein Totengespräch. Die Wunde war bei ihm so wirklich, daß Zorn bei ihm aufkam, wenn er nach literarischen Vorbildern bei der "Todesfuge" gefragt wurde. Es gab keinen Vergleich, kein Wie, kein Vorher mehr. Unvergleichlich, unbeschreiblich ist, was geschehen war. Mitten in der Kulturlandschaft Europa:

"ER ruft spielt süßer den Tod der Tod ist ein Meister aus Deutschland

er ruft streicht dunkler die Geigen dann steigt ihr als Rauch in die Luft...

Wir schaufeln ein Grab in den Lüften da liegt man nicht eng/ ein Mann

wohnt im Haus der spielt mit den Schlangen..."

Ein Gedicht - oder Tat Sachen? Ein Gedicht aus Tatsachen?

"Das Grab in der Luft..., das ist, in diesem Gedicht, weiß Gott, weder Entlehnung noch Metapher", schrieb Celan auf die Frage nach literarischen Vorbildern fast erbost 1961 an Walter Jens. Dieses ist das Unvorstellbare, Unvergleichbare, Aus-der- Sprache-Gefallene; auch im Negativen - diese restlose "Banalität", als wäre "bewiesen" worden, daß der Mensch das Nichtige, die pure Materialität ist, verschrottbar, vernichtbar Millionen zu Haarbergen, Knochenbergen - vor allem zu Asche "verarbeitbar", auch der Tod vernichtbar, der Mensch eine Nummer, schicksalsloses Exemplar - sonst nichts. Nichts? Ja, bei diesem "Nichts" setzt Celans Vers ein, beim verlorenen "Namen".

Und die Hoffnung ? Ist es nicht absurd, zu meinen: sie gewinne Boden durch diese paradoxe Radikalität: Das Undenkbare nämlich beim Tod sei nun allgemein, ja Geschichte geworden?

Überlebende, zu ihnen gehörten Jean Améry, aber auch Peter Weiß, haben sich gefragt, ob ein Weiterleben überhaupt noch möglich sei. Drastische Schuld des Verschonten, survivor guilt. Celan entkam ihr nicht. Er fühlte sich auch ganz unmittelbar schuldig am Tode seiner Eltern, da seine Flucht zu ihrer Deportation geführt hatte.

Dieses Schuldgefühl ist kein "normaler Zustand", vor allem jenen, die ungestört und so als wäre nichts geschehen weiterleben, muß dieses Verhalten völlig unverständlich bleiben, ja krankhaft erscheinen, es stellt ein Normalbewußtsein in Frage, das freilich in seiner Alltagsevidenz immer stärker sein muß, einen enormen Druck auf den Betroffenen ausübt, jenen, der eigentlich das richtige Zeitbewußtsein hat und nicht das falsche. Aber was spielt das schon für eine Rolle, wer da Recht hat, wer Unrecht?! Das "Leben" geht weiter, es hat "Recht", das Vergessen eben. Und Celan wollte nicht vergessen, ja, er hielt, und sehen wir es nicht heute, daß er Recht hat, er hielt Vergessen für Gewissenlosigkeit.

Was diese "Schuldgefühle" und ihre Ursachen betrifft, gibt es viele Legenden. Der ungarisch-jüdische Schriftsteller aus Bukarest Szász János , der Celan 1968 in Paris besucht hatte, spricht sogar von seiner "Flucht aus dem Konzentrationslager" als habe er "durch diesen Schritt" seine "Familienmitglieder selber in den Tod geschickt". Celan war nie im KZ gewesen. Welches aber war die Geschichte seiner persönlichen Wunde, die jenen Nachauschwitz-Zustand tot zu sein und doch noch am Leben, bei ihm hervorgerufen hatte, ihn nicht mehr verließ: Moses Rosenkranz, der Bukowiner Lyriker, der mit Celan gemeinsam im rumänischen Arbeitslager Tábáresti gewesen war, behauptet, "das Geheimnis von Celan" zu kennen. Ich zitiere gekürzt hier Rosenkranz` Aussage, die ich (am 5. Dezember 92) bei Rosenkranz im Schwarzwald aufgenommen habe: in einer königlichen "ordonanta regala" 1941 wurde verfügt, sagte Rosenkranz, ich zitiere - "daß kein Jude verfolgt werden soll, der in die sogenannten Arbeitsbrigaden eintritt. Jene aber, die dieses verweigern, sollen verfolgt, ihre Familie aber soll deportiert werden. Herr Antschel (der Name Celan ist ein Pseudonym) hat die Einberufung unterschlagen... Er hat es verschwigen, auch seinen Eltern gegenüber... Und der Celan sagt zu ihnen, gehn wir weg, flüchten wir. Und sie sagen, warum sollen wir flüchten. Celan hat ihnen nicht gesagt, weshalb sie flüchten sollen. Daraufhin läuft er weg und versteckt sich. Nachdem er weg war, ein paar Stunden darauf, werden die Eltern verhaftet, verschleppt, die Mutter hängt sich auf... Als sie erfuhr, daß ihr Mann, Celans Vater, erschossen worden ist. Das wußte der Weissglas (ein anderer bukowiner Lyriker und Celan-Freund) auch, er war im selben Transport. Ich habe die Sache gekannt. Und da Celan mir gesagt hat, daß man seine Eltern verschleppt hat, hab ich ihn gefragt, weißt du warum? Und da hat er mir diese Geschichte erzählt. Während Weissglas, als die Eltern deportiert wurden, mitgegangen ist. Und die haben überlebt."

Das hat natürlich Celans Schuldgefühl noch ins Ungemessene gesteigert. Vergessen als Schuld. Aufmerksamkeit: Gebet der Seele. Diese Wachheit, dessen Mangel das Leben so, wie es heute geführt wird, überhaupt und in seinen Augen gewissenlos ermöglicht, ähnlich wie bei Kafka: alttestamentarische Zorn wider das Schludern der Menschheit, - ist das "krank"? Krankhaft? Die meisten aber leben in der die Gnade des Vergessens, der Seichtheit? Gar der "späten Geburt"? Niezsche behauptete: Wer nicht vergessen kann, kann nicht leben. ("Wer sich nicht auf der Schwelle des Augenblicks, alle Vergangenheit vergessend, niederlassen kann, wer nicht auf einen Punkt wie eine Siegesgöttin ohne Schwindel und Furcht zu stehen vermag, der wird nie wissen, was Glück ist, und noch schlimmer: er wird nie etwas tun, was andere glücklich macht." "Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben"). Offene Schwelle der Sekunde also. Celan dagegen?! Dieses andauernde Erinnern vernichtet ihn, ihn, der das Offene wollte.

Verständlich warum ihn Walter Benjamin so anzog. Als wäre er verdammt, dessen Geschichtsphilosophie zu leben. "In den Vergegenwärtigungen von Paul Celan lebten Personen und Begebenheiten erschütternd und heftiger auf, als es in einem Augenblicken unmittelbarer Betroffenheit meistens möglich gewesen war. Die unerhörten Schmerzen, die nie überwundenen Leiden und Leidenschaften, Vorwürfe welche nie verjähren konnten, - alles verdichtete sich zu einer erfinderischen Vorstellungskraft." "Vielmehr erneuerte er alles Gewesene zu bestürzender Gegenwärtigkeit. Seine Gegenwart bildete ein beständiges Erinnern... ein unaufhörlich qualvolles Erinnern an die unbegreifliche Fügung, die seine Eltern dem Tode ausgeliefert, ihm selber auf dem Wege über das Arbeitslager ein Entkommen gewährt hatte." "daß er nicht selten darüber das unmittelbar Gegenwärtige vergaß." Aber auch "chassidische Wunder im Alltäglichen." "Alles gewann in seinen Erzählungen Legendencharakter, Bestimmungen von höherer Hand. Bestechend blieb wie eindringlich, wie genau er das Unerklärliche zu beschreiben wußte, - sinnfällig genau und nie wiederholbar."

Dieses Schuldgefühl ist kein "normaler Zustand"; er muß vor allem jenen, die ungestört und so als wäre nichts geschehen, weiterleben, völlig "überholt" und krankhaft erscheinen.

Weiterleben? Dabei geht auch heute das Zunichtemachen fast ungestört und blind in anderen, weniger radikalen und sichtbaren Formen weiter. Celan hat unter dieser "Kontinuität" stärker als andere gelitten. Am Ende seines Lebens, etwa ab 1967, wußte er, daß es zu den Toten, nicht aber zu den Lebenden eine Rückkehr geben konnte, "da sie die eigentlich Toten sind." Über diese neue Totenwelt schrieb er die nachgelassenen Gedichtbände: sein Day after. In Versen aus dem berühmten Zyklus "Atemkristall" von 1967 heißt es: "Ein Ohr, abgetrennt, lauscht.// Ein Aug, in Streifen geschnitten,/ wird allem gerecht." Als könnte nur der Verstümmelte noch wahrnehmen, was ist. Die Normalen aber: "Oben/ der flutende Mob/ der Gegengeschöpfe..." (GW II, 19; GW II, 29.)

Er sieht nur noch Trümmerlandschaften, und das Gedicht besteht oft nur noch aus Trümmern, alles eisig, schon posthum. Radikale Sicht der zivilisatorischen Unterwelt: - "Die nachzustotternde Welt, bei der ich zu Gast gewesen sein werde." Eine selten gebrauchte Zeitform des Futurs, vollendete Zukunft,die diese Schwierigkeit ausdrückt, da zu sein, als einer, der sich schon als Toter sieht, den es in Zukunft einmal gegeben haben wird, was er schon ist.

Celan, der seine östliche Heimat Rumänien Ende 1947 verlassen hatte, lebte in Paris im Exil. Auch dieses eine weitere Vertiefung der subjektiven Unwirklichkeit. Der Exilierte hat keine Realität mehr, die abzubilden wäre, er hat nur - die Absenz.

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Bis 1968 kannte die bundesdeutsche Germanistik Celan nur als raunenden Metaphysiker, und der Tod seiner Eltern wurde von Kritikern sogar als "Legende" bezeichnet. Verdrängungskunst der Adenauerzeit. So schrieb der in Paris, nie in Deutschland Lebende, wo er die Mörder seiner Mutter wähnte, in einem Brief an den alten Freund Alfred Margul-Sperber nach Bukarest: "Nachdem ich als Person, also als Subjekt `aufgehoben' wurde, darf ich zum Objekt pervertiert, als 'Thema' weiterleben: als `herkunftsloser Steppenwolf zumeist, mit weithin erkennbaren jüdischen Zügen... Ich sage nicht mehr. Sie erinnern sich an Will Vespers: - die anonyme Loreley. Ich bin ebenfalls - wörtlich, lieber Alfred Margul-Sperber! - der, den es nicht gibt. Außerdem wird mein `Zusammenbruch` bekanntgegeben bzw. mein `Wahn-Sinn' (der Bindestrich kommt beim Herrn Apologeten vor, auch - denn einige Vorsicht ist immer noch geboten - die Gänsefüßchen...Ich bitte Sie, meine Manuskripte niemandem aus diesem so goldenen Westen zu geben. Vielleicht sollten sie eines Tages der Rumänischen Akademie anvertraut werden." Sich selbst hatte er dort liegengelassen. Zu seinem Nazitrauma, das heute wieder neue Nahrung bekäme, kommt ein anderes, das die Westeuropäer, auch die Westdeutschen nicht kennen, viele heute sogar nicht kennen wollen und vehement negieren: Es ist die Ost- Erfahrung und dann die Erfahrung beim Welt-Wechsel von Ost nach West, der "Kulturschock", der Wahrnehmungsverlust und das grauenhafte Gefühl, eine lebende Leiche zu sein. Auch dies gehört zur "Nachzustotternden Welt,/ bei der ich zu Gast/ gewesen sein werde". Celan spürte wieder "Gasgeruch" in dieser westlichen Zivilisation, die Augen in Streifen geschnitten. Die Todeslager scheinen nur Endstation der entmenschten Technologie der verwalteten Geldwelt gewesen zu sein, wo der Mensch zur Nichtigkeit wird, austauschbar. Es gibt seit dem Stichjahr 1945 diesen allgemeinen Zustand, nirgends mehr heimisch werden zu können. Nach 20 Jahren Kälteerfahrung wurde das Wörtchen "wie" von Celan bewußt im Gedicht getilgt. Denn auch diese neuen Leiden waren tatsächlich unvergleichlich neu. Im Band "Sprachgitter" (1959) hatte Celan das vergleichende "Wie" noch zum letztenmal und wie zum Abschied verwendet im Gedicht "Wär` ich wie du. Wärst du wie ich./ Standen wir nicht unter einem Passat?/ Wir sind Fremde." (GW I, 167). Wahrscheinlich ist dieses Gedicht wie vieles bei Celan, beispielhaft an Personen gerichtet, hier an seine Frau Gisèle, die aus dem französischen Hochadel stammt und auch noch Lestrange, die Fremde hieß. Die seine Erfahrungen so nie begreifen konnte. In deren Familie der Fremde auch nie aufgenommen wurde. Mokiert hatte er sich schon früher über Hans Werner Richter, der ihn beim Treffen der Gruppe 47 einem Journalisten so vorgestellt hatte: Und das ist Herr Celan, der schreibt wie... wie... nun sagen Sie doch schnell, wie sie schreiben. Und Celan: "Na, hoffentlich wie ich!"

Alles sollte nur vergleichbar und "normal" sein. Da waren Gitter, Sprachgitter zwischen ihm und den andern. Zu Hugo Huppert, dem österreichischen Kollegen, sagte er: "Ich stehe auf einer andern Raum- und Zeitebene als mein Leser; er kann mich nur entfernt verstehen...immer greift er nur die Gitterstäbe zwischen uns."

Vergessen als Schuld? Aufmerksamkeit, als Gebet der Seele? Ähnlich wie Kafka überkam Celan alttestamentarischer Zorn wegen dieses Schluderns der Menschheit. Ist solch Rigorosität "krank"? krankhaft? Soll man die Gnade des Vergessens, wie auch der "späten Geburt," der ebenfalls unbeschreiblichen banalen Seichtheit dagegen halten, sie loben, weil "Leben" darauf beruht? Dagegen stand Celans Gewißheit eines aufgebrochenen Grenzbewußtseins angesichts der Todeslager und der westlichen Zivilisation mit Hiroshima. Schon in einem frühen Gedicht heißt es: "...Wir wissen es längst, doch was tut`s/ Ihr mahlt in den Mühlen des Todes das weiße Mehl der Verheißung,/ Ihr setzet es vor unsern Brüdern und Schwestern -" (GW I, 35). Durch Gaskammern, den Lichtblitz der Bombe, den Gulag war das Unvorstellbare Geschichte geworden, und wir, als Zeugen an der Grenze unserer Vorstellung, können uns nicht in das Gewohnte zurückziehen. Wenn Sinn sein soll im Tode der Opfer, muß die schier aberwitzige Hoffnung eine Chance haben, daß eine Grenzöffnung zwischen Leben und Tod stattgefunden hat: wie es in einem frühen Gedicht Celans heißt: "der geharnischte Windstoß der Umkehr,/der mitternächtige Tag,/es komme, was niemals noch war!// Es komme ein Mensch aus dem Grabe." (GW I,36).

Celan kommt schon 1960 zeitweise in die psychiatrische Klinik. In dieser Zeit nach 1960 sind viele klinische Fachausdrücke in seine Gedichte eingegangen. Aber auch Wortkombinationen mit "Wahn", "Wahnfahrt", "Wahnbrot", Wahngang". In einem Passions- und Ehegedicht 1965 an seine Frau, mit der ihn ein sehr kompliziertes innig-trennendes Verhältnis verband, lesen wir: ("ICH KENNE DICH, du bist die tief gebeugte,/ ich, der Durchbohrte, bin dir untertan./ Wo flammt ein Wort, das für uns beide zeugte?/ Du - ganz, ganz wirklich. Ich - ganz Wahn"). (GW II,30). Das Gedicht - in Klammer gesetzt. Giséle Lestrange-Celan war selbstlos, in tiefer Sorge, half ihm, indem sie, die Zeichnerin, Gravüren zu seinen Gedichten anfertigte.

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Daß so viele Juden, die immer Gezeichnete, Ausgestoßene waren, zur Moderne gehören, sie in diesen Abgründen ihre Wahrheit fanden, ist kein Zufall: "Fahlstimmig, aus/ der Tiefe geschunden: kein Wort, kein Ding,/ und beider einziger Name." Text-Landschaft nämlich, Namen, keine Realien, die benannt werden, weil das Wort, der Name aus dem Verlust, der Abwesenheit lebt. "DIE NACHZUSTOTTERNDE WELT,/ bei der ich zu Gast/ gewesen sein werde, ein Name,/ herabgeschwitzt von der Mauer,/ an der eine Wunde hochleckt."

Was ist es für ein Name? Für eine Mauer? Es waren wirkliche Mauern. Die Wunden wirkliche Wunden. Und man hört dabei nicht nur Schüsse; man denkt an die Mauern einer als Duschraum getarnten Gaskammer. Darf man davon nur reden, gar darüber Gedichte schreiben? Lächerlich ist jede Begriffsbrücke, die an jenem, von uns Lebenden nicht vorstellbaren, höllischen Augenblick des Erstickens vorbeigreift, Anmaßung, und die begriffliche Sicherheit - reiner Hohn. Moral, Worte, Verse? Blasphemie. Vom bewußtlosen, von all dem nichts wissenden naiven und reichen West-Alltag ganz zu schweigen. Celan meint sicher nicht nur Literarisches, wenn er schreibt: " WEGGEBEIZT vom/ Strahlenwind deiner Sprache/ das bunte Gerede des An-/erlebten..." Und weiter "Aus-/ gewirbelt,/ frei/der Weg durch den menschen-/ gestaltigen Schnee..." (GW II,31)

Das Absurde, das Unfaßbare allein spiegelt in unseren Mitteln etwas von jener Wahrheit: jene "nachzustotternde Welt," die zu unserer gehört. Die Vergangenheit vergeht nicht, sie war nie vergangen. Ist so nicht Leben und Schreiben sind ethisch möglich nur noch von diesem Punkt aus, jener WUNDE aus, die zugleich jenseits unserer Vorstellung ist? Alles konvergiert in diesem Fünfzeilengedicht von der "nachzustotternden Welt", das vernichtend Historische wird mit dem Rückblick auf die Gegenwart im Metasprachlichen aufgehoben. Die Haupt-Zeile, wo der Kopf "NAME" heißt, sich selbst benennt, lautet: " ... ich zu Gast/gewesen sein werde, ein Name". Es ist der HEBRÄISCHE, also der unaussprechbare, unvorstellbare Gottes-Name, hinter dem das lyrische Ich eben-bildlich und verschwindend auftaucht, als "Gast", Fremder und schonungslos Nicht-Beheimateter: Nichts zählt, eben deshalb im Namen bleibt, der freilich unbekannt ist, im Hebräischen gar nicht ausgesprochen werden darf. Dem Unvorstellbaren also durchaus entspricht. Deutsch und Hebräisch, das Jüdische und das Deutsche stehen sich hier in diesem Gedicht also untrennbar und gleichzeitig unüberbrückbar auch sprachlich gegenüber, abgegrenzt und zugleich vermittelnd, wie Leben und Tod nicht vermittelt werden können und doch zusammengehören - mit der Zeit. Dem "Namen" steht ja die Zeit, deutsch auch ausgedrückt im Prozeß und absurd gegenüber als: "gewesen sein werde", diese selten gebrauchte "vollendete Zukunft", die auch wie eine völlig vergangene Vergangenheit klingt, abgeschüttelt also jede Zeit, als wäre, wie Hegel formulierte, "Gott der Tod", im Hebräischen ist er das "Nichts", im Sinne der Abwesenheit von Welt, der conditio sine qua non von Anwesenheit des Gottes-Namens, auch NICHTS genannt. Und zugleich führen diese Abgründe zu keiner Hoffnungslosigkeit, obwohl sie radikal, wie das Geschehen selbst sind: eine Vernichtung: die völlige Umkehrung dessen, was in der stupiden Gewohnheit als Existenz gemeint wird, nämlich "Leben" in jenen starren "gewesenen" nur sichtbaren Formen, die zu dieser Hölle geführt haben, unbedacht, nicht hinterfragt - bis heute! Und heute ist es besonders akut neu das Alte, das falsche Alte, sogar der falsche Alte als Anpassungsbeispiel. Obwohl jenes "Stottern," manchmal ein "Lallen" und "Brabbeln" - und dann auch das Verlangen schon bei Hölderlin nach einer "vaterländischen Umkehr" als Umkehr "aller Vorstellungen und Formen," längst akut war und ist.

Celans Gedicht an Hölderlin heißt "Tübingen, Jänner", und die Schlußzeilen lauten: "Käme,/ käme ein Mensch, käme ein Mensch zur Welt, heute, mit/ dem Lichtbart der/ Patriarchen: er dürfte,/ spräch er von dieser/ Zeit, er/ dürfte/ nur lallen und lallen,/ immer-, immer-/ zuzu..." (GW I, 226).

Hier ist im Lallen das "Nachzustotternde", der Dichter, der sich jener Wunde nähert, der Zeit nähert, und steht für die Toten als Zeuge. "Ich verliere dich an dich, das/ ist mein Schneetrost,// sag, daß Jerusalem ist// sags, als wäre ich dieses/ dein Weiß,/ als wärst du meins,// als könnten wir ohne uns wir sein..." (GW III,109). Der Dichter will "unerkannt" bleiben. Und steht fürs "DU", für ein mysteriöses Du, einen abwesenden Partner, wie wir sehen werden. Das nur Gedachte, gar Aus-Gedachte, die fertige, schnellfertige Sprache, gar die All- tagssprache ist ungeeignet etwas davon zu begreifen. ("IN DIE RILLEN/ der Himmelsmünze im Türspalt,/preßt du das Wort,/ dem ich entrolle..."(GW II,13). Es gibt ein unsichtbares Netz von Verweisen im celanschen Gedichtkosmos: die kosmischen Gedächtnisrillen und der Psalm kommen hoffnungsvoll auch im Zyklus "Engführung" vor: "... in der jüngsten Verwerfung,/ überm/ Kugelfang an/ der verschütteten Mauer://sichtbar aufs,/ neue: die Rillen, die// Chöre, damals, die/ Psalmen. Ho, ho -/ sianna./... Nichts,/ nichts ist verloren."(GW I,203) Die "verschütteten Mauern" hier erinnern an die Mauern der "nachzustotternden Welt" im eingangs zitierten Fünfzeilengedicht, daß uns zu Posthumen macht, Welt, wo wir alle einmal gewesen sein werden, ein so selbstverständlicher Satz, der doch ver-rückt klingt und uns alle zu werdenden Toten macht: das Undenkbare ist real, jetzt schon, aber weil die Grenze heute ganz anders offen ist, als gemeint und gedacht, ist die Zeit gegenüber diesem Satz sehr entgegenkommend. Schon 1945 geschieht etwas Unglaubliches - das hätte geschehen können, - nicht! Die Katastrophe, die Apokalypse hätte durchaus im alten Heils-Sinn zur eigentlichen Rettung, Besinnung und Umkehr werden können. Es geschah die Wiederkehr des Alten, wie auch jetzt wieder nach 1989. Die begriffliche Sprache wie der Alltag sind das Immergleiche in verschiedener Kostümierung, sie helfen nur zu vergessen, sich zu sichern. Und wissend ist Sprache für Celan nur (etwa im Gedicht "Von Ungeträumtem", GW II,12) in lauter quälenden hellwachen Schlaflosigkeiten, dann ist sie in einem "Brotland", wirft einen Lebensberg auf, "aus seiner Krume knetest du neu unsere Namen"- und dies verweist auf das große Gedicht "Psalm" vom Nichts, ein Antipsalms von der paradoxesten Auferstehung, U-Topie, Hoffnung aus tiefster Hoffnungslosigkeit? (Im Sinne von Hölderlins "Wo Gefahr ist, wächst das Rettende auch"?) Die Opfer als Zeugen: "Niemand knetet uns wieder aus Erde und Lehm.../Niemand." "Gelobt seist du, Niemand./ Dir zulieb wollen/ wir blühn./ Dir/ entgegen.../ die Nichts-, die/ Niemandsrose." (GW I,225).

Die Laudatio zum Büchnerpreis beendete Marie Luise Kaschnitz mit dem Celan-Vers: "Wir waren tot und konnten atmen". Atem, das ist der Hauch, der besetzt wird vom Verlogenen, Bebilderten. Wahrheit ist erst da, wo es einem Atem und Sprache verschlägt, denn die Rede ist ein "Zuviel", und nur "das nicht mehr zu Nennende, heiß/ hörbar im Munde", wenn der Atem stockt, wie im Rosa-Luxemburg-Gedicht, Gedicht auf ihren Tod: "Nichts" - großgeschrieben : "stockt" dabei, das Ereignis bricht in die alltägliche Lebenslüge eines vernebelten Bewußtseins ein.

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Celans Sprachbehandlung kehrt das Gewohnte wider den Strich, mit der Erfahrung eines eigentlich schon Toten, eines Überlebenden, angeschärft noch durch das Ausgesetztsein im Exil und der Verfolgungsangst des Juden. Das ist dem "normalen" (westlichen) Leser fremd und wirkt ver-rückt, auch die bewußt zerstörte Lesererwartung geht bis zur Blasphemie.

Nach Otto Pöggeler ist das wichtigste Wort, das fehlende Wort bei Celan, das "nachzustotternde"; des Schweigenden Wort auch im Martin Heidegger gewidmeten Gedicht "Todtnauberg", wo Celan ein wenig naiv (bei einem Besuch) erwartet, daß dies schweigende Wort dem Philosophen "mitten im Herzen erwachen" soll. Ja, daß er (ihm, Celan gegenüber) das erlösende Wort sprechen wird, in aller Vielschichtigkeit: vom Schuldbekenntnis bis zur "Rettung". "Todtnauberg" ist die Frucht eines Besuches bei Heidegger, wo der im (Adenauerland) Heimatlichen bruchlos Denkende und Lebende, so, als wäre nichts geschehen, den im Bodenlosen lebenden Emigranten, den von allen Epochentraumen Verletzten, verstörte und herausforderte, ihn enttäuschte: "Krudes" um ihn, nur Außenwelt. Celan aber suchte ein anderes DU, das (im Folgegedicht nach "Todtnauberg") so sprechen konnte: "nimmt den Einen/ Pulsschlag mit,// verbirg dich darin,/ draußen." (GW II,257): WIE DU dich ausstirbst in mir:" (GW II,261).

"Du,"die Ansprache, die Aussprache, die Celans Werk durchzieht, die fehlte dem Emigranten nicht nur in Paris. - Wer ist dieses DU? Was ist des "Einen/ Pulsschlag". ("Einen" großgeschrieben!). Celan hat sein Leben lang nach diesem Du und diesem "Einen" gesucht, es ist eher das Unfassbare des größten Zusammenhanges, als eine Person oder ein Name. Auch zu seiner Poetik gehört dieses DU, das im Blitz und Glücksgefühl eines Zueinander- Findens DA wäre, der Angesprochene, die Richtung des Gedichts, die nah, zugleich in größter Distanz ist, sieht in einem scheinbar Abwesenden, einem Niemand, den Leser, Adressaten und Partner. (Manche meinen, auch Celans tote Mutter sei damit gemeint). Ein ganzer Band ist nach diesem Niemand benannt: "Die Niemandsrose", Rose im Sinn der mystischen Rose, Niemand auch im Sinne von Nichts, Abwesenheit, die in der jüdischen Kabbala etwa die Anwesenheit Gottes ist. Und Celan hat die Kabbala über die Schriften Gersholm Scholems gut gekannt. Es ist die Rede vom Andern, ja, "Ganz Andern," und darin sieht Celan im "Meridian", der Büchnerpreisrede, "Richtung und Schicksal", etwas "aus einer Ferne oder Fremde" kommend. Im "Meridian" ist der Zeuge dafür Lucile aus Büchners "Dantons Tod", die "Es lebe der König" ruft unter dem Schafott der Revolutionäre, und "den Draht zerreißt" unter Lebensgefahr, sie richtet sich dadurch vorgreifend selbst hin, wird so Zeuge für die "Majestät des Absurden." Wie der Zustand in einer Geistergeschichte, die etwas wirklich macht, was unglaublich, undenkbar, eben absurd ist: jenes "Fremde", "Andere" "Unheimliche". Und es würde einem dabei vor Angst die Sprache verschlagen. Ahnung, Furcht und Zittern, eine Art mysterium tremendum. - Ja, Paul Celan hatte etwas begriffen, erlebt und erfahren, was andere in ihrer gewissenlosen Idylle nicht begreifen konnten. Diese "unheimlichen" Dinge sind Grenzerfahrungen im Zeitbruch, der sich auch heute immer deutlicher zeigt. Es ist ein Aus- der-Sprache-fallen der Dinge, doch dieses Fallen ist zugleich auch "ein Kernpunkt der Krankheit Schizophrenie", es ist das Erleben, daß die selbstverständlichen, für angepaßt "Normale" in ihrer Idylle Ungestörte sich "nur wiederholende Dinge des Alltages" dem Nicht-Normalen "furchtbar neu sind", so schreibt der Schweizer Psychiater Gaetano Bendetti in seinem Buch über "Psychiatrische Aspekte des Schöpferischen", eigentlich eine unerträgliche Erkenntnis der unverhüllten Wirklichkeit, das kollektiv auch im Todeslager furchtbar erlebt wurde: wenn das Vertraute zerreißt, "etwas sowohl völlig Neues, wie auch etwas in Gedanken nicht Faßbares," da ist. Benedetti zitiert dabei sogar den englischen Philosophen David Hume, der die Kausalität als Gewohnheit entlarvt hat. Der Zeitfluß wird nackt, stockt, wie im Tod. Zitat aus dem "Meridian": "Vielleicht gelingt es der Dichtung zwischen Fremd und Fremd zu unterscheiden. Vielleicht wird hier mit dem Ich - mit dem hier und solcherart freigesetzten und befremdeten Ich - vielleicht wird hier noch ein Anderes frei?" Und um dieses "Andere" geht es. Es reicht dazu nicht aus die Topoi psychopathologischer Literatur aufzuzählen, es müßte anhand dieser Analyse auch die ontologische Zensur des Normalen und seiner Seelenpolizei, die gefährlicher ist als die politische Zensur, erarbeitet werden. Jene historischen Abgründe, die Celan im Gedächtnis hatte, die ihn nicht losließen, führten aber genau dahin, und sie störten; denn, ich zitiere Benedetti: "Dieses Neue ist so neu, daß es im Unerklärlichen gründen muß", die Kausalität wird unheimlich, unheimlich, weil gerade sie zutiefst erleben läßt, daß "sie nicht ausreicht, die Dinge zu erklären." Alles scheint einfach, doch gerade diese Einfachheit macht verrückt und jagt Schrecken ein, und dieser Schrecken zeigt die Differenz zwischen dem was wirklich ist in der Zeit und dem neuen, genau so absurden "Normalen", was wir unsere neue Lebenslüge nennen müssen: Als müßten wir heute keinen Widerstand mehr leisten. Nein, er muß nur anders sein als bisher gedacht, Widerstand geleistet werden wider die neue Zensur des neuen grenzenlos "Normalen". Umfassender. Und dies zielt mitten ins Zentrum der Kunst: das Verborgene, Nicht-Vertraute, entlarvend Unerwartete und überraschend Un-Normale.

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Das Doppelspiel mit dem "König" aber, dem gefährlichen Ruf wider den Strich dessen, was unter dem Schafott (aber in jeder Zeit) das "Angebrachte" und Realitätsgerechte gewesen wäre, ist nicht zufällig: Der König ist im Hebräischen der Kabbala Synonym für das Unnennbare, für "Gott". "Im Nichts - wer steht da? Der König./Da steht der König, der König./ Da steht er und steht. " - Das Gedicht geht dann merkwürdigerweise über zu den "Augen": "Und dein Aug -wohin steht dein Auge?/...Dein Auge, dem Nichts stehts entgegen./ Es steht zum König./ So steht es und steht.// Menschenlocke wirst nicht grau./Leere Mandel, königsblau." Das Gedicht aber beginnt: "In der Mandel -, wer steht in der Mandel? /Das Nichts." (WG I,244). Nichts heißt im Hebräischen ayin; ayin ist aber auch der Name für einen "stummen" Buchstaben, das Schweigen dieses Buchstabens also ist identisch mit dem "Nichts", wie jeder Buchstabe aber hat auch "ayin" eine Bedeutung, nämlich AUGE. (Im Gedicht "WOHIN MIR das Wort" dieser Vers: "... das Auge ein Bilderknecht -/ Und dennoch : ein aufrechtes Schweigen..." GW I,273). All diese semantischen Sinngeflechte, die zugleich ein Tiefendialog des Deutschen mit dem Hebräischen sind, oder wohl eher umgekehrt, eine Rückübersetzung aus dem enormen Sinn- und Zusammenhangsgeflecht der Ur- Bibelsprache ins "arme" Deutsche, gehen über die schmerzliche historische Bedeutung weit hinaus, bleiben ihm aber in einer Rückkopplung als Agens der extremen Auflösung und Unfassbarkeit verhaftet, trotz andauernder poetischer Befreiungsversuche.

Doch in solchen Parallelen und Assoziationen erschöpft sich der Einfluß des Hebräischen nicht, es geht bis in die Grundformen, nämlich ins parataktische, reihende Verfahren Celans, das nicht urteilt, gar verurteilt, sondern "setzt". Adorno hat in seinem Hölderlinaufsatz einiges über die Fähigkeit der Parataxe, das Unbeschreibliche doch noch auszudrücken, gesagt. Vor allem Klaus Reichert hat den parataktischen Stil Celans untersucht. Neben den "freischlagenden Fügungen", wo immer noch Wörter dazwischengekeilt werden können, ist die Möglichkeit der "Wortartentransformation" wie aus Ich ein Verb "ichten" werden kann, oder Superlative durch Wortverdopplung "Immerimmer" oder intensivierende Wiederholung: "Wort und Wort", "zu jeder Not, jeder Not" von Celan aus der hebräischen Sprachstruktur übernommen worden. Dazu kommen viele appelative und Imperativformen usw. Aber die wichtigste, die poetischste Möglichkeit des Hebräischen, nämlich: daß nur Konsonanten geschrieben werden, die Vokale aber im großen Zusammenhang dazu "gedacht" werden müssen, je nach Bedeutung, auch doppelter und dreifacher Bedeutung, und so der Assoziationsspielraum eines Worthofes sehr groß wird, das Mitgedachte, Mitgemeinte, die gesamte Streuungsbreite am Sinn mitarbeitet, hat Celan zum Ausdruck des unausdrückbaren "Schweigens" eingesetzt: so lassen sich nämlich sonst logisch, ja, dem Sinn nach sich ausschließende Dinge zusammensagen. Das Widersinnige, Paradoxe im selben Wort wird möglich, etwa im Gedicht zum Mord an Rosa Luxemburg: "Der Landwehrkanal wird nicht rauschen./ Nichts/stockt. (GW II,334).

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In der mündlichen Alltagssprache und ihrer vulgären Evidenz ist all dies nicht mitteilbar, sie hat auch die Köpfe und Gefühle verformt und ins "Gewesene", den Vor-Schein, der irreal ist, eingestimmt, so die umgebende Unwirklichkeit als herrschende Realität zum einzig Evidenten und Glaubwürdigen gemacht. Alles was Celan schrieb, stellt sich zu ihr quer, war im Bewußtsein jenes Futurs, jener Virtualität, wobei der Untergang der sichtbaren Welt des Vor-Scheins, der nicht enden wollte und nicht enden will, wir sehen es heute besser, als es Celan 1970 sehen konnte, eigentlich ein Hilfsmittel der Augenöffnung ist ( das Wort Apokalypse sagt nichts anderes). "Die nachzustotternde Welt bei der ich zu Gast gewesen sein werden"... Aber: " wer sagt,/ daß uns alles erstarb,/ da uns das Auge brach?/ Alles erwachte, alles hob an."). (GW I,220).

Der eigentlich schon "tote" Celan lebte erst seit er "tot" war? "Beim Tode! Lebendig".(?) Die Lukács-Schülerin Agnes Heller hält ein Privileg für wichtig: zum Holocaust (und wir müssen den östlichen GULAG) dazunehmen, dürften sich nur die Betroffenen, nicht aber die "Zuschauer" äußern, nur Zeugen, Mitbetroffene sozusagen an der Grenze unserer Vorstellung, also nur die Ermordeten selbst hätten dieses Recht; eine Celan (den sie nicht nennt) würdige "absurde" Forderung?! Und nur in Gedichtform dürfe dieses geschehen. All dies träfe auch auf Celan zu. (Für den GULAG allerdings steht ein Celan noch aus). Celan äußert sich ja "stellvertretend", sein Vers-Dialog ist oft ein Totengespräch. "In den Gaskammern wurden keine Gedichte geschrieben", sagt Heller. Schweigen allein käme dem nahe. Sie führt vier Arten des Schweigens an. Die vierte Art, das "tiefste Schweigen", ist das der Sinnlosigkeit. Und genau dieses hat Paul Celan versucht zu "begehen", umzuwandeln. Nach Agnes Heller ist der Holocaust das "absolut Unvernünftige". Zwecklos, und auch in die Geschichte nicht "einzugliedern" weder in die jüdische noch in die deutsche. In dieser ohnmächtigen Linearität der Schlüsse zeigt sich nur die Selbstwiederlegung auch der eigenen Versuche, rational deutend etwas über ein Geschehen zu sagen, das jenseits unserer Vorstellung und Logik liegt, etwas in der alten Begriffs- und Aufklärungstraditon, in der sich Hellers Denken bewegt, zu sagen - es greift zu kurz in Klischees wie "absolute Sinnlosigkeit"! Was heißt "normaler Ablauf von Ereignissen"? Sind wir nicht gerade durch Auschwitz Sibirien und Hiroshima (die drei "Nullen" unserer Epoche, der Westen gehört durch Hiroshima dazu) - und nun nach 1989 wieder an einer Grenze des bisherigen Erklärens und Verstehens gekommen; heißt dies nicht, daß die Instrumente dieses Verstehens unzureichend sind, eine Umkehr nötiger wird denn je? Agnes Heller nähert sich dann dem, was nicht sagbar ist, durch die Metapher von "Gottes absolut negativer Abwesenheit", und daß der Bruch erst durch die Massenvernichtung, ein Produkt der Geschichte, Organisation, Technologie, Bürokratie und gleichgültige, nivellierte Masse, Resultat der Auflösung von Gemeinschaft und Individuum in Europa und Amerika, evident wurde, etwas, das durchaus beschreibbar ist. Der Holocaust aber, die immer umfassender werdende Folge davon, ist unbeschreiblich: eine ungeheure Trennung wird (in der Geschichte ) sichtbar, die im Negativen so sehr jenseits unserer Vorstellung ist in ihrer Undenkbarkeit, daß sie jenem Nichts Celans nahekommt. Heller sieht diese beiden Pole, bringt sie jedoch nicht zusammen, sondern verharrt in der Trennung von Geschichte und Transzendenz: genau hier aber setzt Celans Poesie ein, geht weiter, viel weiter und entläßt daraus Erfahrungen und Umwege der tiefanrührenden Bilder und Sprachsonden: Aber "DIE POLE/ sind in uns,/ unübersteigbar/ im Wachen,/ wir schlafen hinüber, vors Tor/ des Erbarmens..."(WG, III 105). Ist die Suche nach der absoluten Metapher, wie Agnes Heller meint, zu vermeiden, da sie nicht nur künstlerische, sondern "reale Nachahmung" verlange? Das "Sur-Historische" historisch werden kann und zur Wiederaufnahme einlädt? Wir sehen es überall als faschistoider und bewaffneter "Rechtstrend" aufbrechen. Wichtig wäre es, diese "Transzendenz" nicht sich selbst zu überlassen, sondern vom Undenkbaren ins Erfahrbare Brücken zu bauen.

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Und Celans recht paradoxe Hoffnung? Sprechen sprechend überwinden bei aufgebrochener Grenze, Umkehr im Chok, wo es den "Atem und das Wort... verschlägt", ja, wo im gestockten Atem die Sprache fehlt, da erst wäre "Gegenwart des Menschlichen"? Fehlt sie uns etwa heute nicht auch? Doch kein "Gegenwort" Luciles ist zu hören. Keiner durchtrennt den Draht der unerträglichen, unmoralischen alltäglichen Gewohnheit, wie noch 1989. Die stärkste der drei Nullen hat gesiegt. Das "Normale", die alte Lebenslüge. Es ist leicht in einer Ausnahmelage als Ausnahme Mensch den Draht zu durchtrennen, wie Lucile, die mit ihrem Leben dafür einstand, und sie wird in der Revolutionszeit auch hingerichtet. Was sie tut "befremdet" ( es ist ja für den Durchschnittsmenschen "unvor-sichtig", "realitätsungerecht," "wahnsinnig", "absurd", was sie tut). "Gehuldigt wird hier", wie Celan sagt, "der für die Gegenwart des Menschlichen zeugenden Majestät des Absurden." Aber laut Celan ist solch eine Evokation auch eine "verharrende", "verhoffende" Pause, wo etwas ganz Neues geschehen kann in der unerbittlichen Sukzession des Immergleichen von Herrschaft und Unterdrückung, wo eine Art Widerstand wirklich geschieht.

In einem Gedicht Celans über Hölderlin heißt es: er "zackerte an/ der Königszäsur". (GW III, 108). Celan "zackerte" "Wie Jener/ am Pindar", Hölderlin ist gemeint. Eines dieser Pindar- Fragmente lautet "Das Gesetz/ Von allen der König, Sterblichen und/ Unsterblichen; das führt eben/ Darum gewaltig/ Das gerechteste Recht mit allerhöchster Hand". Der König ist die "strenge Mitteilbarkeit des Gesetzes", in Hölderlins Kommentar. "Das Gesetz" ist der Ort der Begegnung von Gott und Mensch. Es geht aber um die Trennung; vielleicht ist dies die "Königszäsur." Gott, das Heilige, Mensch, die Erkenntnis, sind getrennt. Und das Tragische beruht ja in der Vernichtung, wo "grenzenlos die Naturmacht und des Menschen Innerstes im Zorn Eins wird, dadurch sich begreift, daß das grenzenlose Einswerden durch grenzenloses Scheiden sich reinigt." (Hölderlin, Anmerkungen zum Oedipus.) Kann zwischen Königszäsur, "Nichts" und "messianischer Stillegung" (Walter Benjamins) durch Revolution und Katastrophe eine Verbindung hergestellt werden? Die griechische Tragödie wurde durch den Seher "gegen-rhythmisch" - indem er die ganz andere Sphäre der Vor-Sehung in die Realität brachte, als Zäsur unterbrochen. Bei Celan ist der Ruf, das "Gegenwort" Luciles stellvertretend für das, was Dichtung sein soll: Stillegung der Geschichte durch ihren eigenen Grund und Ab-Grund im Namen der Toten, durch ein "Gegenwort", das "den Draht" zum Normalen "zerreißt". Es holt den durch den Gang der Zivilisation vergessenen, fast ausgelöschten Einzelnen, die Tiefe des Subjekts wieder als wichtigsten Zeugen und Zugang an die Grenze, wo er sichtbar wird; rettet die Dignität der Dichtung als wichtigstes Erforschungsmittel von Geschichte. Ein gefährlicher Schritt, der Wahnsinn und Tod mit sich führt, diese riskiert, ja, sich selbst so einsetzt, um mit dem Leben das zu bezahlen, was nicht gedacht werden kann, aber da ist. Dies "im Namen der Katastrophe (im Namen der abgründigen Konversion, und genauer, der Revolte), das heißt im Namen des Daseins, wird sie nur um einer Sache willen gerechtfertigt oder gutgeheißen: um die der Hoffnung willen auf das, was Celan die Begegnung nennt." Und ich wage zu behaupten, daß die Wiedereinsetzung des Einzelnen in die Geschichte sehr aktuell ist, der Aufstand Millionen Einzelner auch 1989 Geschichte gemacht hat. Trivialisiert wird bei der Mauer-Öffnung historisch der Chock, Blitz im Augen-Blick der ÖFFNUNG. Aber gerade die Öffnung, Überraschung, des Vorher-Nicht-Darüber-Bescheidwissens-ist ja auch im Gedicht, und das spricht, wie es in der Büchnerpreisrede heißt: "wer weiß, vielleicht in eines ganz Anderen Sache. Dieses `wer weiß,` zu dem ich mich jetzt gelangen sehe, ist das einzige, was ich den alten Hoffnungen... hinzuzufügen vermag". Das Nie Erwartete, überraschend real werdend, das ist ein Einbruch aus einer noch nicht erkannten Zone, die aber in der Psyche von Millionen Einzelnen längst da war, vielleicht als verdrängte Sehnsucht, Wunsch, Wahrheitsahnung, im Abseits wartend. Substanz der Poesie. "Apriorität des Individuellen" in Hölderlins Sinn, nun neu in rätselhafter WENDE - oder Wendung der Trope, die ja der Sinn-"Meridian" "durchkreuzt", dem zu, was nach der Vernichtung dessen, was Hegel "Gemeingeist" nennt, singuläres Ich wurde und allein bleibt: Leere und Abgrund schon damals um 1800 bewußt als Ort der Dichtung ausgemacht: Das Subjekt. Durch Auschwitz (und auch die andern Katastrophen?) ist dieses Subjekt dann im Millionentod als Opfer - "heimgekehrt in/ den unheimlichen Bannstrahl,/ der die Verstreuten versammelt." (GW I, 290). Unerreichbar für Historiker, Soziologen oder Juristen ist diese Grenzzone, erreichbar nur der negativen Theologie und absoluten Poesie. Doch die Opfer sollen draußen bleiben, auch heute wieder; vor allem wollen sie als Überlebende heute selbst Gewinner werden. So paradox geht es zu. Doch es geht gar nicht um die Lebenden bei dieser "Wende", sondern um die vergessenen Toten in den Lebenden. Im vorhin zitierten Gedicht "Psalm" aus Celans Antibibel "Die Niemandsrose" - "blühen" die anonym in ihrer Nichtigkeit Ermordeten, die ohne Namen ausgelöscht und unbegraben zum zweiten Mal starben, durch Nicht-Gedenken dem "Niemand" und dem "Nichts" entgegen. Und die Millionenopfer des GULAG müssen hinzugezählt werden. Das Schweigen des Sinnes, das Schweigen des alten Gottes dazu, so Georg Steiner ( in seinem "Versuch über die Shoa,"), wo er Celan als wichtigsten Zeugen des Holocaust würdigt, gibt allein diesen ermordeten Opfern das Recht, den schuldigen alten Gott aus seinem Schweigen angesichts solcher Vernichtung seines Ebenbildes, aus Machtlosigkeit und Abwesenheit zu retten. Es scheint nicht gelungen zu sein. Und gibt auch zu bedenken, daß uns, in "westlicher Rede" (Steiner) jede Art von Shoa, auch diese Shoa-Gedichte unzugänglich seien, da die Shoa diese Rede und den Sinn dieser Zivilisation gerechterweise ausgerottet habe; die Warnung, das Aufwachen uns also gar nicht erreichen kann!!? Doch dauere, so Steiner, möglicherweise das Gebot des Dialogs mit dem stummen Gott innerhalb des Judentums fort (und vielleicht gehört nach 89 auch der Osten nun dazu). Nein doch: Es hat sich ebenfalls umgekehrt in Rachegelüste, Traumata, die zu Kriegen geführt haben. Nirgends hat das Judentum (und der Osten) diesen Dialog wirklich aufgenommen, im Gegenteil. Da kann keine Hoffnung sein.

Nichts und Niemand, wir haben es gesehen, sind der unnennbare Gottes-Name. Doch lesen wir bei Hölderlin oder Hegel bis hin zu Walter Benjamin nach, finden wir Nichts und die Negation in eben dieser Bedeutung auch: und daß Gott (oder das Sein) der Tod ist. (Z. B. in Hegels "Phänomenologie des Geistes". Ähnlich bei Heidegger). Und davon hat Celan genau so gewußt, wie von der Kabbala. Öffnung? Antiideologie? Im modernen Wissenschafts-Wissen (Heisenberg,Weizsäcker) ist das Subjektprinzip längst Ausgangspunkt und Zugang der Erkenntnis. Ebenso das Apriorische, Wissen, daß Erfindung und Dichtung aus der gleichen Quelle kommen, Erfindung über Technik und Geschichte "realisiert" wird, daß sie also diese so hergestellte Wirklichkeit bestimmen. (Man denke nur an die wirklich verfaßte technische Umgebung heute, bis hin zum Atom und dem Bewußtseinsverfälscher Fernsehen). Und zu dieser phantastischen "Quelle" alles historischen und Wirklichkeits-Geschehens, die alt ist, gilt es über die einzige Brücke, die Intuition und virtuelle Kraft des Einzelnen zurückzukehren. Celan schreibt: "Gott, das lasen wir, ist/ ein Teil und ein zweiter, zerstreuter:/ im Tod/ all der Gemähten/ wächst er sich zu.// Dorthin/ führt uns der Blick,/ mit dieser/ Hälfte/ haben wir Umgang." Und gleich darauf: "Das Selbe hat/ uns/ verloren, das/ Selbe/ hat uns/ vergessen, das/ Selbe/ hat uns -.(GW I, 218, 219). Doch das Gedicht ist Gegenwart, aufgeblühtes Jetzt, Zuwendung, Gewährenlassen einer Stimme, die inspirativ, anbindend an jene "Quelle", auch durch die Toten in uns spricht, Gespräch im Augenblick, im Herzen bewegt, wie Celan sagt, "Innigkeit", kein historischer Exkurs, sondern unmittelbares Ereignis.

8

Dieser Brückenbau ist abgründig, weil er heute den durch Historie veränderten Tod mit dem Weltbild der Physik, die jenen Tod via mörderischer Anwendung bedingte, verbinden müßte. In Celans großem Gedicht-Zyklus "Engführung" klingt schon 1959 dieser neue Ton an. Celan stellt Sprachinstrumente zur Beobachtung des in der "Gewohnheit", der Wahrnehmung Noch-Nicht-Vorhandenen her: "Orkane./ Orkane, von je,/ Partikelgestöber, das andere,/du/ weißts ja, wir/ lasens im Buche, war/ Meinung.//... Wie faßten wir uns/ an mit/ diesen/Händen?" (GW I, 200). Vom Atom wissend, daß Außen, feste Welt nur Wahn ist, versuchte Celan via Subjekt eine "Spektralanalyse der Dinge". Durchaus richtig beschrieb Tuwia Rübner bei einem Celancolloquium in Haifa im Diskussionbeitrag "Lyrik nach Auschwitz" des Dichters unheimliche Lebensstimmung und Sprachkunst, "von Buch zu Buch atomarere Textualität" herstellend, beschrieb sie mit einem Zitat aus Eddingtons "Weltbild der Physik": wir stehen auf einer Türschwelle, "drauftreten heißt auf einen Fliegenschwarm treten. Werde ich nicht hindurchfallen?"

"KEINE SANDKUNST MEHR," schreibt Celan: "kein Sandbuch, keine Meister.// ... Deine Frage - deine Antwort./ Dein Gesang, was weiß er?/ Tiefimschnee, /Iefimschnee,/ I-i-e." (GW II, 39). Und: "EIN DRÖHNEN: es ist/ die Wahrheit selbst/ unter die Menschen/ getreten/ mitten ins/ Metapherngestöber." (GW II, 89). Die Vernichtung dessen, was die Gesprochenen, die Menschen, als Welt ansehen, das angemaßt Sichtbare, die banale Illusion Empirie, scheint die einzige Rettung zu sein: "EINMAL,/ da hörte ich ihn,/ da wusch er die Welt,/ungesehn,nächtelang/ wirklich;//Eins und Unendlich,/ vernichtet,/ ichten.// Licht war. Rettung." (GW II, 107).
 
 

(Erschienen in: "Sinn und Form" 45.Jahr/ 1993/ Sechstes Heft, November/Dezember. Stark erweiterte Fassung.)
 
 



 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
    VON DER UNERTRÄGLICHKEIT DES SEINS

Jean Améry und Paul Celan
 
 

"Die Welt der Glücklichen ist eine andere als die der Unglücklichen."
 
 
Dieses Motto aus Ludwig Wittgensteins Buch "Tractatus-logico-philosophicus" steht in Jean Amérys großem "Diskurs über den Freitod". Jean Améry ist der österreichische Schriftsteller, der über sich selbst schrieb, bevor er freiwillig aus dem Leben schied - einen großen Abschiedsbrief, in dem er das Unbeschreibliche auszudrücken versuchte, den Zustand eines Menschen, der den Freitod plant, ihn durchdenkt. Im Oktober 1978, acht Jahre nach Paul Celans Freitod in der Seine, nahm Améry sich in einem Salzburger Hotel mit einer Überdosis Schlaftabletten das Leben.

Der Schriftsteller Jean Améry ist 66 Jahre alt geworden. Er hat unsere Epoche bis zur Neige auskosten müssen. Einen Tag nach Amérys Freitod schrieb sein Kollege und Freund Helmut Heissenbüttel:

"Die Nachricht kam von vorn mittags quer über den Tisch/ der schock kam von hinten ... / Vierzig Jahre mit und was für Unterbrechungen Brüssel dann/ die Ewigkeit in Salzburg ... "

Seit 1938 hatte Amery im Exil gelebt, geflohen war er aus Wien, bis 1943 hatte er in Brüssel gelebt, und dann kamen die furchtbaren "Unterbrechungen", sie hießen unter anderem: Auschwitz.

Améry war einer, der Folter KZ und den Altersschock überstand. Er schrieb alles genau auf, analysierte sich, beobachtete sich. Er sagte, niemand könne es nachvollziehen, was einem, der sich für den Freitod entscheidet, wirklich zugestoßen sei, und in welchem Zustand er sich befinde. "Es spreche das erste Wort nachdem ihn in irgendeiner Form (Krankheit, Gefahr oder einfach Nachlassen der Vitalität) der Tod von sich aus angeredet hat. Vielmehr muß er es sein, der ruft - und es ist der Tod, der die unverständliche, die unvernehmbare Antwort erteilt ... wer den Freitod sucht, bricht aus, ich deutete es schon an, - aus der Logik des Lebens."

Wer war Jean Amery?

"Ja, wenn ich das nur selber wüßte. Ich kann nichts anderes bieten als ein paar dünne Daten. Geboren 1912 in Wien, aber durch einen Zufall, denn meine Familie väterlicherseits stammt aus Vorarlberg." Und er fühlte sich als Österreicher. Sein Familie auch. Und dann geschahs, plötzlich war er fremd zuhause. "Rausgeworfen wurde ich endgültig 1938. Ich flüchtete mit meiner ersten Frau, die ich 1937 heiratete, zunächst einmal nach Köln, von Köln aus konnte man überall hin, meinte man. Selbstverständlich waren wir ohne Papiere und ohne Geld. Es war der reine Zufall, daß ich nach Belgien kam, ich hätte ebensogut auch nach Frankreich oder nach Holland kommen können. Damals hieß es, in Belgien könne man relativ leicht die Grenzen überschreiten. Es ging auf langen Fluchtwegen durch die schneebedeckte Eifel rüber ins Hohe Venn, nach Belgien. Erste Fluchtstation Antwerpen. 1940 verhaftet durch die Belgier, als was, ja selbstverständlich als Deutscher, als feindlicher Ausländer ... Befand mich in vielen Lagern, darunter fast ein Jahr lang in dem berüchtigten Lager Gurs in den Pyrenäen ... Aus Gurs geflüchtet oder ausgebrochen, wenn Sie so wollen, auf langen Wegen zurück nach Belgien, wo meine Frau auf mich wartete, mit langen Aufenthalten in französischen Städten, teils im Gefängnis, teils auch in Freiheit. Angekommen 1941 in Belgien, alsbald eingetreten in eine ziemlich idiotische Widerstandsgruppe, die geführt war von Kommunisten, die in dem Wahn lebten, man könne die deutschen Soldaten beeinflussen. 1943 verhaftete mich die Gestapo, wegen Zersetzung der Wehrkraft, ich kam in ein ziemlich bestialisches Lager, war zunächst mal 6 Monate lang in Einzelhaft. Ich kann nur sanft lächeln, wenn heute junge Leute so schnell von Isolationshaft sprechen. Ich wurde dann weitergebracht in zahllose andere Lager, darunter Auschwitz, Buchenwald bzw. Außenkommando von Buchenwald, wo ich ein Angestellter des Herrn Speer war, bis nach Bergen-Belsen, wo mich die Engländer befreiten ... Nach der Befreiung vom 15. April 1945 bin ich zuerst nach Belgien, wo ich glaubte, daß meine erste Frau noch lebe, und wo ich dann feststellen mußte, daß ich etwas ganz Seltsames war, nämlich ein Witwer."

War dieser Mann, der dann über 30 Jahre lang in Brüssel im Exil lebte und vom Schreiben lebte, sich als "literarischer Handwerker" bezeichnete und für eine Schweizer Agentur arbeitete, ein deutscher Autor? -

"Für Deutschland wollte ich nicht schreiben. Ich bin auch nie nach Deutschland gefahren, immer nur durchgefahren über die Autobahn nach Österreich, bis Salzburg in einem Zug, ohne überhaupt einen Deutschen zu beachten."

Erst 1964 sollte sich das ändern, als Helmut Heissenbüttel ihn als Mitarbeiter für den SDR gewann, und Améry dann auch für deutsche Verlage zu schreiben begann. Heissenbüttel beschreibt ihn so:

"unter überhängendem Augenlid wie es charakteristisch für alternde/ Juden manchmal ist/ Lippen vorgeschoben zuckend wie in verstohlener List/ zögert der Blick wie ausforschend geht dann auf strahlend/ eine einzige Bewegung der Hand fingergespreizt das zu sagende/ untermalend/ Fingerspiel der Zigarette die ist von wo immer zur Hand/ so fällt er mir ein so habe ich diesen Menschen über vierzehn Jahre/ gekannt, so sehe ich das Gesicht des Toten das sich nun allmählich abwendet/ abdreht langsam wie von der Unerträglichkeit selbst geblendet abgestopt angehalten abgewrungen weggezogen Vogel nun welcher ganz und gar nirgendwohin verflogen/ unter der flachen Schicht Konzentration in einem Fernsehinterview/ vollkommen erschöpft ausgelaugt ausgebraucht und ZU."

Nirgends Zuhause, immer auf Reisen, bis dann die letzte kam. Und für die ging er nach Österreich; war wieder in einem Hotel in Salzburg. Im Salzkammergut hat er seine Kindheit verbracht und seine Jugend. - Berührt haben mich alle seine Bücher, alle gingen mir nah, besonders aber sein "Diskurs über den Freitod. Hand an sich legen" und seine Schilderungen aus "Jenseits von Schuld und Sühne. Bewältigungsversuche eines Überwältigten", wo er unter anderem beschreibt, wie er mit Trachtenjanker und weißen Kniestrümpfen als Halbwüchsiger immer ein besonders guter und waschechter Österreicher sein wollte. Daß er es nicht, gar nicht sein sollte, nicht durfte, war dann 1933 und schließlich 1938 beim "Hinauswurf" ein schrecklicher Schock. Er hatte alles verloren, es gab kein zu Hause, keine Erinnerungen, keine Heimat mehr für ihn. Ich erinnere mich, wie er im "Bewältigungsversuch eines Überwältigten" schildert, daß er im Exil in Brüssel, wo er Heimweh während der Kriegszeit hatte, plötzlich irgendwo den Dialekt seines Heimatortes hört, spontan den Landsmann anreden will, zurückweicht, die Lippen zusammenpresst, denn es war ja der Feind, der Todfeind. Das Absurde, sonst so schön im Gewohnten verborgen, war ihm ganz nah auf den Leib gerückt, ließ ihn von jetzt ab nie mehr los. Am schlimmsten aber war es, als sie ihm diesen armen Leib in der Folter fast zerbrochen hätten. Das war in der Nähe von Antwerpen im Fort Breedonk 1943:

» ... die feuchten, kellerartigen Korridore, schwach erhellt von den gleichen dünn und rötlich leuchtenden Glühbirnen ... Gefängniszellen, von zolldicken Holztüren verschlossen. Schwere Gittertore sind immer wieder zu durchschreiten, bis man sich schließlich in einem fensterlosen Gewölbe befindet von dort drang kein Schrei nach draußen. Dort geschah es mir: Die Tortur."

Sie entzieht sich wie der Freitod jeder Vorstellung. Sie ist anders. Nur der Alltag sei "chiffrierte Abstraktion", sagt Améry. Und schon der erste "leichte" Schlag, etwa eine Ohrfeige, ist das Ungeheurliche, Verlust der Würde.

Der Leutnant (von bärbeißig-gutmütigem Aussehen), unverkennbar der Berliner Dialekt, sagte: "Jetzt passierts!" Praust hieß der Folterspezialist. Und er führte den Häftling Johann Meyer, wie Jean Améry damals noch hieß, in den Bunker. Es war der 23. Juli 1943.

Von der Gewölbedecke hing eine Rolle, eine Art Flaschen-Zug, daran wurden die hinter dem Rücken gefesselten Hände befestigt, dann die Arme hochgezogen, der Gequälte hielt sich kurz noch in der "Halbschräge", wurde dann aufgezogen, ein Krachen und Splittern in den Schultern war die Folge, die Kugeln sprangen aus den Gelenkpfannen der Schulter, der Hochgezogene fiel ins Leere mit nach hinten ausgerenkten Armen. Dazu prasselten Hiebe mit dem Ochsenziemer auf seinen Körper:

"Es wäre ohne alle Vernunft, hier die mir zugefügten Schmerzen beschreiben zu wollen. War es wie ein ´glühendes Eisen in den Schultern´, und war dies wie ein mir in den Hinterkopf gestoßener stumpfer Holzpfahl? ... Der Schmerz war der, der er war ... Gefühlsqualitäten sind so unvergleichbar wie unbeschreibbar. Sie markieren die Grenzen sprachlichen Mitteilungsvermögens ... nur in der Tortur wird die Verfleischlichung des Menschen vollständig: Aufheulen vor Schmerz ... Es führt zum Tode keine ... befahrbare Straße, doch mag erlaubt sein zu denken, daß uns durch den Schmerz ein gefühlsahnender Weg gebahnt wird."

Realität ist aufgehoben, Wahnsinn summt. Die Folterer machen sich zum Gott, Herr über Leben und Tod. Nach einer Zeit wird das Opfer bewußtlos, so erlöst. Aber " ... es ist noch immer nicht vorbei. Ich baumele noch immer an ausgerenkten Armen über dem Boden, keuche und bezichtige mich. Da gibs kein ´Verdrängen´. Verdrängt man ein Feuermal? ... Wer der Folter erlag, kann nicht mehr heimisch werden in der Welt ... Der gemartert wurde, ist waffenlos der Angst ausgeliefert. Sie ist es, die fürderhin über ihm das Szepter schwingt."

Zu diesem Grauen kamen noch die Lagererlebnisse. Auch nach der Heimkehr 1945 läßt sich nichts vergessen. Er ist wie tot, die Welt ist tot, und lebt doch weiter:

"Wir kamen entblößt aus dem Lager, ausgeplündert, entleert, desorientiert - und es hat lange gedauert, bis wir nun wieder die Alltagssprache der Freiheit erlernten. Wir sprechen sie übrigens noch heute mit Unbehagen und ohne rechtes Vertrauen in ihre Gültigkeit."

Was war das für eine Welt, die Améry dort erlebt hatte? Sie soll der Welt der Selbstmörder ähnlich sein, schrieb der englische Kritiker A. Alvarez. Alvarez hat selbst mehrere mißlungene Versuche unternommen, sich das Leben zu nehmen. In seinem Buch "Der grausame Gott" schreibt er über die Totenwelt der Lager:

" ... moralisch gesehen ... eine posthume Existenz, ähnlich der des Selbstmörders ... der sich von seiner Vergangenheit abwendet ... sich selbst zum Bankrotteur und seine Erinnerungen für unwirklich erklärt."

Alvarez sieht sogar unsre Alltagswelt, ähnlich wie Eugène Ionesco oder Samuel Beckett, als eine Orwell-Welt, ein kaschiertes KZ, und die Verarmung der Seele und der Sprache, wo jeder zum "Nichts" wird:

"Beckett schafft eine Welt, die Gott verlassen hat. So verläßt das Leben ein ausgebranntes Gestirn, Becketts Kunst entspricht den Lagererzählungen."

Die meisten scheinen nicht gespürt zu haben, daß wir nach 45 alle Überlebende waren. Jene aber, die das Zentrum unserer Epoche erlebt haben, wie Améry, hatten ununterbrochen das Gefühl des Gestorbenseins.

Ich verstehe, daß solch ein Mensch sehr gefährdet ist, in Brüssel lebte er seit 1945, Exil, das für ihn das Nirgendwo war. Einer, der verstoßen wurde, lebenslang. Und mit dem Alter ist Einsamkeit das größte Übel. Er war 66, als er sich das Leben nahm. Die Welt der Glücklichen ist eine andere als die der Unglücklichen.

2

Améry war einer, der nicht vergessen konnte, wie Paul Celan, Celan, der ebenfalls Verfolgte, der seine Eltern in einem Lager verloren hatte, der so einsam in Paris lebte, wie Améry in Brüssel. 1945 schrieb er die "Todesfuge".

" Er ruft stecht tiefer ins Erdreich ihr einen ihr andern singet und spielet/ er greift nach dem Eisen im Gurt er schwingts seine Augen sind blau/ stecht tiefer die Spaten die einen ihr andern spielt weiter zum Tanz auf ... "

Paul Celan, der ebenfalls als Zeuge an der Grenze unserer Vorstellung steht. Dem Lagertod, den seine Eltern erlitten hatten, war er knapp entkommen. Er war damals 25 Jahre alt und kam aus Czernowitz, aus der Bukowina. Dort war er am 23. November 1920 geboren worden. Seit 1919 war das ehemalige k.u.k. Kronland rumänisch. Bis 1938, bis zu Paul Celans Abitur, war es in der Bukowina relativ ruhig. Damals hieß der Abiturient noch Paul Antschel, erst 1945 nahm er das Anagramm: Celan an. Für ihn brach die heile Welt erst zusammen, als er im November 38 auf der Reise nach Tours/ in Frankreich, Deutschland durchquerte. Einen Tag nach der Kristallnacht stand er am Anhalter Bahnhof in Berlin. In einem seiner Gedichte heißt es:

"Über Krakau/ bist du gekommen, am Anhalter/ Bahnhof/ floß deinen Blicken ein Rauch zu,/ der war schon von morgen."

Er verließ fluchtartig Berlin und das "Reich", und kam über Belgien nach Paris. Und dann nach Tours. 1939 ist er wieder in Czernowitz. Nun folgen die Ereignisse Schlag auf Schlag. Im September bricht der Krieg aus. Im Sommer 1940 marschieren die Sowjets in der Bukowina ein. Celan studiert nun Romanistik an der sowjetisch gewordenen Czernowitzer Universität. Er ist 20 Jahre alt. Sein Biograph Israel Chalfen hat uns Lebenszeugnisse aus jener Zeit zugänglich gemacht, Freunde und Verwandte Celans befragt, Briefe und Dokumente gesammelt. Eine Kommilitonin schildert den zwanzigjährigen Celan so:

"Wer diesen Zwanzigjährigen gekannt hat, wird das kameenhafte Oval dieses Jünglings-Antlitzes nicht vergessen können. Es ist seltsam, daß sich dieses grenzenlos reiche, bewegte Seelenleben nie auf seinen Zügen widerspiegelt. Die feinen Nasenflügel bebten nicht, die Brauen zogen sich nicht zusammen, die klare Stirn blieb ungefurcht. Das Gesicht blieb undurchdringlich. Es war ein Gesicht, das nichts enthüllen wollte, nichts preisgab ... Kein naher Freund wußte allzuviel über sein Innenleben. Nur im Gedicht ... ergoß sich der breite Strom des Erlebens ... Wenn ich an den jungen Paul ... denke, wird es mir klar, daß keine einzige Facette seiner Persönlichkeit in irgendein Klischee hineinpasste."

Jede Nachlässigkeit habe er verabscheut, seine äußere Erscheinung sei stets tadellos gewesen, von diskreter bis lässiger Eleganz. Sein Urteil scharf, gnadenlos und gerecht gegen alle, allergisch gegen jeden falschen Ton.

Schon damals unternahm er Selbstmordversuche. Mit den Jahren verstärkte sich diese Todesneigung. Am 5. Juli zogen rumänische Truppen des mit Deutschland verbündeten Antonescu-Regimes in Czernowitz ein. Es wurde geplündert und gemordet. Schon am 6. Juli kam die berüchtigte Einsatzgruppe D unter SS-Brigadeführer Ohlendorf, dessen Art der "Aktivität" wir aus dem Film "Holocaust" kennen. Viele Juden mußten am Ufer des Pruth selbst ihr Grab schaufeln und wurden dann erschossen. Tragen des Judensternes wurde Pflicht. Und ein Ghetto entstand. Die Deportationen nach "Transnistrien" in das rumänisch verwaltete Gebiet der Ukraine zwischen Dnjstr und Bug begannen. Paul mußte in Czernowitz Zwangsarbeit leisten. Die Antschels versteckten sich bei Bekannten. Doch die Mutter weigerte sich sich weiter zu verstecken, sie meinte, niemand entgehe dem eigenen Schicksal. Und packte die Rucksäcke. Der Sohn versuchte ihren Fatalismus zu bekämpfen. Vergeblich. Der Sohn versteckte sich weiter. Die Eltern aber, die in ihrer Wohnung mit gepackten Rucksäcken warteten, wurden im Sommer 1942 in Viehwaggons an den südlichen Bug deportiert. Sie kamen zuerst in einen Steinbruch, "Cariera de Piatrã" genannt, schließlich nach Michailowka, ein russisches Dorf mit Lager. Hier wurde der Vater erschossen, im Herbst 1942. Die Mutter schrieb es dem Sohn. Der liebte die Mutter sehr. Den zu strengen Vater mochte er nicht. Nur sehr selten geht der Vater in seine Gedichte ein. Einmal schreibt er über seinen Tod.

"... wenn die Scholle, die rosige, birst, wenn schneeig stäubt das/ Gebein/ deines Vaters, unter den Hufen zerknirscht/ das Lied von der Zeder."

Die Mutter war Köchin in der Mannschaftskantine von Michailowka. Celan, damals Zwangsarbeiter in der Moldau, im Lager Tãbãresti. Und dort erfährt er dann im Frühjahr 1943 von einem geflüchteten Bekannten, daß auch die Mutter zu Tode gebracht worden war. Das geht ihm sehr nah. Davon wird er nie mehr loskommen. Er schrieb damals:

"Espenbaum, dein Laub blickt weiß ins Dunkel./ Meiner Mutter Haar wird nimmer weiß./ Löwenzahn, so grün ist die Ukraine./ Meine blonde Mutter kam nicht heim."

Seither Schmerz und Schuldgefühle, die sich steigern, als deportierte Bekannte und Freunde nun heimkehren, wie Alfred Kittner, oder der ehemalige Schulfreund Immanuel Weißglas, die aus der Hölle berichteten. Weißglas sagt auch, daß es ihm gelungen sei, seine alte Mutter zu retten. Das Schuldgefühl, daß er sich selbst in Sicherheit gebracht hatte, seine Eltern aber in den sicheren Tod gegangen waren, ließ Celan nicht mehr los. Auch dann nicht, als er ohne Reisedokumente mit sowjetischen Militärwagen seine Heimatstadt für immer verließ, nach Bukarest kam, dort bis Ende 1947 blieb, und dann mit Hilfe ungarischer Bauern nach Ungarn und nach Österreich flüchtete, schließlich nach Paris kam. Sein langes Exil hatte begonnen.

Zählte er sich von nun an zu den Toten?

Das Leben erschien ihm als Alptraum, aus dem es kein Erwachen mehr gab. Dem Überlebenden schien es, als erwarteten ihn die Ermordeten, als müßte die Trennung überwunden werden, um diesen unnatürlichen Zustand wieder gut zu machen. Vor allem die tote Mutter läßt ihn nicht mehr los:

Wer seine Gedichte kennt, hat beim Lesen oft den Eindruck, als müsse angesichts der vielen Opfer, die schier aberwitzige Hoffnung eine Chance haben, daß die Zeit und ihre Gesetze aufgehoben werden könnte.

" ... es komme, was niemals noch war!// Es komme ein Mensch aus dem Grabe."

Auch die verzweifelte Forderung nach einer Gerechtigkeit, die die Toten mit einschließt, gehört zu dieser Hoffnung.

"Man redet umsonst von Gerechtigkeit, solange das größte der Schlachtschiffe nicht an der Stirn eines Ertrunkenen zerschellt ist."

Als wäre auf dieser unerreichbaren Ebne zumindest das Gedicht ein Zugang, als wäre das rettende Wort da, um eine Brücke zu bauen.

Mit dieser Mutter-Sprache, der deutschen?

Ja, für Celan war diese Mutter-Sprache, die Sprache, die seine Mutter umgebracht hatte, die Sprache ihrer Mörder, war der deutsche Befehl zum tödlichen Schuß ein schmerzliches Problem. Er schrieb:

"Und duldest du, Mutter, wie einst, ach daheim,/ den leisen, den deutschen, den schmerzlichen Reim."

Und doch vermitteln Mutter und Muttersprache mit den Toten: "Diesseits und jenseits des Sterbens:/ Du bleibst, du bleibst, du bleibst/ einer Toten Kind ... / vermählt einer Schrunde der Zeit,/ vor die mich das Mutterwort führte ... "

Es scheint so, als wäre für Paul Celan durch diese Schock-Erfahrung alles verändert worden, er sagt es selbst: alles ist "zeittief gegittert", alles wird zur "Engführung", zum letzten Teil der Fuge. Wir sind wie seine Mutter, er sagt es in der "Engführung", einem seiner schönsten Gedichtzyklen, alle sind wir "verbracht ins Gelände", in jenes Totengelände, wo seine Mutter starb. Darin gibt es den Satz: "Gras, Gras auseinandergeschrieben ... " Wer "Gras" umkehrt, von hinten nach vorn liest, wie die hebräische Sprache: liest "Sarg".

Hebräisch und Deutsch. Er sprach auch Hebräisch ... Seine Auffassung von Sprache, von Reim und Gedicht weist weit über das Literarische im bisherigen Sinn hinaus. Er steht da, wo die Erfahrung von der Geschichte überholt wird. Und er bezieht auch das Unmögliche mit ein: Den Dialog mit jenen, die getötet worden sind, als einzige reale Zeugen an den Grenzen unserer Vorstellung stehn: ja, die Toten, vor allem diese Toten.

Ist es nicht so, daß dadurch jenes bei dem Tode Undenkbare zu einem allgemein Undenkbaren und Unfassbaren geworden ist?! Daß dieses allgemeine, also geschichtlich Denkbare nun eine Sackgasse ist! Es sei dann alles, was es gibt, wird ausgelöscht in einer gräßlichen Flucht nach vorn ... Apokalypse.

Aber wir sprachen ja vom Undenkbaren. Das Totengespräch, das zum Beispiel der Dramatiker Heiner Müller als das wichtigste literarische Mittel heute ansieht, um überhaupt Geschichte fassbar zu machen, war für Celan selbstverständlich. Er sah seine ermordete Mutter vor sich und hörte sie sprechen:

"Ich lebe unter tausend weichen Steinen,/ die alle Nächte schleuderten nach mir./ Ich häufe sie auf meinem schwarzen Leinen./ Daß du vorbeikommst, wart ich hier."

Er empfand sein Leben wohl als gestundet und geträumt, unwirklich, den Toten zugehörig. Und weitete sein eigenes Exil zum allgemeinen Exil, das alle betraf, aus.

Dies Niemandsland nach seiner Emigration, dies Nirgendwo im Westen empfand er als eine wahnsinnige, eine summende Leere. Und diese Erfahrung ist tödlich für ihn ausgegangen wie für Jean Améry. Sie ist in seinem Gedicht aufbewahrt. Er wurde geprägt von der Stalinzeit, von westlicher Kälte und Fremde und von den traumatischen Erinnerungen an die Nazizeit, und wurde aufgerieben.

Man hat oft den Eindruck, als habe er wirklich nur noch in seinen Gedichten gelebt!

Daher ist auch erklärlich, weshalb alles, was dieser Poesie, die das übriggebliebene Leben war, zu nahe trat, sie verletzte oder auch nur mißverstand, ihn zu heftigen Reaktionen reizte.

Zum Beispiel die vielen verfehlten Deutungen seiner Gedichte in der Bundesrepublik, die den entscheidenden Hintergrund, den Tod seiner Mutter, einfach verschweigen, vor allem in den fünfziger und sechziger Jahren, als die deutsche Verdrängung noch lückenlos war. Wie schwer Celan sich von dieser Verfälschung betroffen fühlte, kann man deutlich erkennen; man kann es in Briefen nachlesen, die er aus seiner Exil-Stadt Paris nach Haus an seine Freunde in Bukarest schrieb, vor allem Briefe an den inzwischen verstorbenen Bukowiner Lyriker Alfred Margul-Sperber. Ein Teil dieser Briefe wurde schon 1975 in der Bukarester Literaturzeitschrift "Neue Literatur" veröffentlicht.

Da heißt es in einem Schreiben vom 20. Juni 1960 an Sperber: "Sie kennen die Umtriebe des Neonazismus in der Bundesrepublik. Im deutlichen Zusammenhang mit diesen Umtrieben erfolgt nun auch seit längerem der Versuch, mich und meine Gedicht zu zerstören."

Und am 8. Februar 1962: "Nachdem ich als Person, also als Subjekt ´aufgehoben` wurde, darf ich zum Objekt pervertiert, als ´Thema´ weiterleben: als Herkunftsloser Steppenwolf zumeist, mit weithin erkennbaren jüdischen Zügen. Was von mir kommt, gelangt zur Redistribution - jüngst auch mein Judentum ... Ich sage nicht mehr. Sie erinnern sich an Will Vesper: - die anonyme Loreley. Ich bin ebenfalls - wörtlich, lieber Alfred MargulSperber! - der, den es nicht gibt. Außerdem wird mein 'Zusammenbruch' bekanntgegeben, bzw. mein 'Wahn-Sinn' (der Bindestrich kommt beim Herrn Apologeten vor, auch - denn einige Vorsicht ist immer geboten - die Gänsefüßchen ... ) Ich bitte Sie, meine Manuskripte niemandem aus diesem so goldnen Westen zu geben. Vielleicht sollten sie eines Tages der Rumänischen Akademie anvertraut werden."

In Sperbers und anderer Freunde Verwahrung befanden sich die Jugendgedichte, die Celan bei seiner Flucht zurücklassen mußte. Die "anonyme Loreley", die Vesper zum "Volkslied" machte, den Verfasser aber, Heinrich Heine, den Juden, verschwieg, sieht Celan als Parallele zum Schicksal seiner eignen Dichtung in Deutschland. Er identifiziert sich mit Heine, dem politischen Emigranten in Paris. Celan schrieb:

"EINE GAUNER- UND GANOVENWEISE/ GESUNGEN ZU PARIS EMPRAS PONTOISE/ VON PAUL CELAN/ AUS CZERNOWITZ BEI SADAGORA// Manchmal nur in dunklen Zeiten/ Heinrich Heine, An Edom// Damals, als es noch Galgen gab,/ da, nicht wahr, gab es/ ein Oben.// ... Krumm war der Weg, den ich ging,/ krumm war er, ja/ denn, ja/ er war gerade.// Heia/"

Zwischen dem Westen, wo es kein Oben mehr gibt, nur Eis und dem Osten, wo der Tod umgeht: - Celan lebte dazwischen, im Niemandsland, in dem er zerbrach. "Groß/ geht der Verbannte dort oben, der/ Verbrannte: ein Pommer, zu Hause/ im Maikäferlied, das mütterlich blieb ... "

Nur im Lied noch zu Hause, das über die Grenze, auch jener zwischen Leben und Tod, vermitteln kann. Ein Spalt wird sichtbar.

Die Heftigkeit dieser Klagen des Vereinsamten, des Emigranten in Paris, wirken auf jemanden, der keine Verletzungen aus der Nazizeit kennt, der auch den Welt-Wechsel, das Exil, den Heimatverlust nicht mitgemacht hat, sicher übertrieben, diese Verletzlichkeit vielleicht sogar krankhaft. Er hatte sich wohl auch aus Schuldgefühl, weil er, der Gerettete, überlebt hatte, diese Wunde offengehalten; Schreiben war für ihn kaum ein Heil-Vorgang, die Erinnerung brach er damit immer wieder auf. Das Thema kam immer wieder, das schon in der "Todesfuge" angeklungen war: "... Er ruft spielt süßer den Tod der Tod ist ein Meister aus Deutschland/ er ruft streicht dunkler die Geigen dann steigt ihr als Rauch in die Luft/ da habt ihr ein Grab in den Wolken da liegt man nicht eng/ Schwarze Milch der Frühe wir trinken dich nachts ..."

Noch im Band "Die Niemandsrose", drei Jahre vor seinem Tod im Jahre 1967 erschienen, steht diese Thematik im Zentrum der Gedichte:

"Ich grabe, du gräbst, und es gräbt auch der Wurm,/ und das Singende dort sagt: Sie graben.// 0 einer, o keiner, o niemand o du:/ Wohin gings da es nirgendhin ging?/ 0 du gräbst und ich grab, und ich grab mich dir zu,/ und am Finger erwacht uns der Ring."

Dann das Massengrab, kann ein Grab in der Luft, Rauch, kann es ein Tor sein? Im jüdischen Glauben, vor allem bei den Chassidim gibt es diesen Glauben: Die "Verwerfung", die Erdverwerfung beim Graben der Grube, ist die Verwerfung auch der Erde, aus der der Mensch: Adam gemacht wurde, so daß nur der eingehauchte Gottesatem noch übrigbleibt; Gott verwirft den Menschen durch diese grausame historische Katastrophe, sie verwerfen sich durch ihre Taten selbst; wird so die Grenze zwischen dem Himmel und den Menschen durchlässiger?

Die tote Mutter, welche Rolle spielte sie dabei? Sie war immer dabei. Der Emigrant Celan ging nicht nach Deutschland, in das Land seiner Sprache, auch nicht nach Österreich, er isolierte sich in Paris. Und hier in diesem Vakuum, von allem verlassen, was ihm vertraut war, dem Land, den Freunden, der Sprache, hier scheint sein Trauma des schuldig Überlebenden besonders heftig aufgebrochen zu sein. "Der Überlebende lastet sich als Verrat an den Ermordeten an, daß er nichts gegen ihren Tod getan habe und selber entkommen ist."

So Marlis Janz, die Celan auch persönlich gekannt hat, in ihrem Celan-Buch "Vom Engagement der absoluten Poesie":

"Er versucht, diese seine vermeintliche Schuld zu sühnen, indem er durch psychische und physische Maßnahmen der Selbstisolierung, des Verschwindens und Sichverbergens symbolische Tode stirbt, die ihm seine Handlungsohnmacht immer aufs neue beweisen."

Die letzte Konsequenz kennen wir, den Freitod im Jahre 1970.

Doch so einfach ist es sicher nicht, kann es nicht sein? Nein, er litt an Melancholie und schweren Depressionen.

A. Alvarez, dessen Buch "Der grausame Gott" schon genannt wurde, schreibt: "Beim normalen Trauern wird der schmerzliche Prozeß, sich langsam auf die Tatsache einzustellen, daß der geliebte Mensch, tatsächlich nicht mehr in der Außenwelt existiert, dadurch allmählich aufgefangen, daß es als etwas Geliebtes, Liebendes und Stärkendes in das Ich aufgenommen wird. So sind Thomas Hardys spätere Gedichte von den Schatten der Frauen bevölkert, denen er einst in verhängnisvoller Liebe zugetan war. Freundlich und verzeihend kehren sie nun zurück. Durch Melancholie dagegen werden Schuldgefühle und Feindseligkeit für den Leidenden zu stark. Es ist, als glaube der Melancholiker, der durch Tod, Trennung oder Zurückweisung verlorene Mensch sei durch ihn ermordet worden. Er kehrt daher als innerer Verfolger und Quälgeist wieder, strafend, rachsüchtig und Sühne fordernd. Sylvia Plath spricht dies in dem Gedicht auf den toten Vater klar und unumwunden aus: ´Wenn ich einen erschlug, schlug ich zwei im Nu.´ Wer Eltern, Geschwister, Ehepartner, Geliebte verliert, so scheint es zu sein, steht schon in einem ´Trend zum Tode´: ´Er will also teilweise töten und will teilweise getötet werden. Was er anstrebt, ist nicht Selbstmord, sondern eine äußerst krasse Beschwichtigungshandlung, die einem beschädigten Teil seiner Person zu neuer Gesundheit und zu neuem Gedeihen verhelfen soll.´"

Es ist bekannt, daß Hemingway, Majakowski, Pavese oder Sylvia Plath, Dichter, die sich selbst das Leben nahmen, in ihrer Kindheit oder Jugend Waisen oder Halbwaisen wurden. Ähnlich wie Celan ...

Nur, er ist doch durch das Grauen besonders gezeichnet, es ist kein nur "privates" Schicksal, das ihn verfolgt, kein gewöhnlicher Tod. Auch der Tod ist durch jene Ereignisse verändert worden. Alles ist verändert worden.

Janos Szász, ein jüdischer Dichter aus Bukarest, hat Celan kurz vor seinem Tode einigemale in Paris besucht, Anemone Latzina, seine Frau, ebenfalls Lyrikerin, war mit dabei. Die beiden haben ihre Eindrücke aufgeschrieben. Und es scheint, als habe sich Paul Celan ihnen gegenüber, den Besuchern aus seiner Heimat, geöffnet. Szász beschreibt ihn so:

"Mit einer seltsamen Geste, in der sowohl Förmlichkeit als auch die Ironisierung dieses Zeremoniellen lagen, bot er uns Platz an, er selbst blieb stehen. Er war mittelgroß zur Fülle neigend, hatte schütteres Haar und ein rundes Kindergesicht, seine dunkelbraunen Augen richteten sich mit einem abwägenden, jedoch freundlichen Blick auf uns. Er ist weggezogen, jetzt wohnt er hier. Mit einer für ihn so charakteristischen und so oft wiederkehrenden Handbewegung zeigte er an, daß dieser ´Hier´ irgendwo in diesem Gebäude zu suchen sei. Richtig ausgefragt hat er uns über gemeinsame Bekannte zu Hause, wollte unsere Meinung über den einen oder andern wissen, er selbst erzählte Erinnerungen an sie, manchmal wendete er den Kopf zur Seite, hob die Hand mit einer unsicheren Geste und sagte: Es ist nicht so einfach".

"Auf Reisen.// Es ist eine Stunde, die macht dir den Staub zum Gefolge,/ dein Haus in Paris zur Opferstatt deiner Hände,/ dein schwarzes Aug zum schwärzesten Auge ... Die bleiben und winken, wissen es nicht."

Immer wieder kam er auf Sperber, auf Kittner zu sprechen. Überhaupt auf die Bukowiner. Was erfasste ihn da, jenes Unwirklichkeitsgefühl? Als wären auch die Menschen, die Freunde, so weit weg, ja, zurückgeblieben. Logik. Zeit. Wirklichkeit. All das konnte es nach dem Geschehenen nicht mehr geben. Der Tod allein, auch der eigne, führte hinter die Kulissen. Und der Schmerz. Und die Unwirklichkeitsgefühle, der Eindruck, nicht mehr am Leben zu sein. Bereits 1959 schrieb Theodor W. Adorno: "... daß die vielzitierte Aufarbeitung der Vergangenheit bis heute nicht gelang und zu ihrem Zerrbild, dem leeren und kalten Vergessen ausartete, rührt daher, daß die ... gesellschaftlichen Verhältnisse fortbestehn, die den Faschismus zeitigten. Er kann nicht aus subjektiven Dispositionen abgeleitet werden."

Daher läßt sich diese Vergangenheit auch nicht vergessen, Jean Améry schrieb: "Der faul und wohlfeil Vergebende unterwirft sich dem sozialen und biologischen Zeitgefühl, das man auch das 'natürliche' n e n n t ."
 
 

Ja, es ist ein Überschreiten nötig, es ist vielleicht so, wie Brecht es einmal ausdrückte, daß quasi alles in die Luft fliegen würde, wir gar nicht mehr so wie bisher weiter leben könnten, wenn man wirklich die Konsequenzen des Geschehenen ernst nähme. Nicht einmal mehr die Sprache wäre weiter so brauchbar. Ich glaube, dieses ist auch das Grundgefühl Celans gewesen.

"Er litt unter jedem Kompromiß, jeder unklaren Situation", schrieb Szász, "er litt ... auch unter der kleinsten menschlichen Schwäche, er sehnte sich nach eindeutigen, klaren menschlichen Beziehungen und Situationen. Die es nicht mehr gibt."

Die es ganz sicher nicht mehr gibt. Und der Einsame und Ausgeschlossene hat nur noch die Toten, das Ganze wieder herzustellen.

"Stimmen vom Nesselweg her:/ Komm auf den Händen zu uns. Wer mit der Lampe allein ist,/ hat nur die Hand, draus zu 1 e s e n ."

"Stimmen vom Nesselweg", Stimmen, das sind die Stimmen der Toten, der Ermordeten, und die der Wahnsinnigen. Celan zählte sich zu den Toten. Und mit ihnen ist dann im "Medium des widerlegenden Zitats" die Welt totgesagt. Dabei wird auch die Literatur, die Tradition, ja, die sprachliche Welt überhaupt totgesagt.

Vom Tode scheint Paul Celan wohl immer schon fasziniert gewesen zu sein. Es ist die unaussprechbare Grenze, es ist die Angst und die sehr skeptisch gesehene Hoffnung, die ihn bewegt. Und oft spricht er sogar im Namen der Toten. Immer versucht er die Grenzen, auch die der Sprache zu überschreiten:

"ich ritt durch den Schnee, hörst du/ ich ritt Gott in die Ferne - Nähe, er sang,/ es war/ unser letzter Ritt über/ die Menschen-Hürden.// Sie duckten sich, wenn/ sie uns über sich hörten, sie/ schrieben, sie/ logen unser Gewieher/ um in eine/ ihrer bebilderten Sprachen."

Doch spricht er sie ja auch selbst, er Celan, spricht diese "bebilderte Sprache", und wendet sich gleichzeitig gegen sie; ist das nicht paradox?

Es ist auswegslos, ein Zauberkreis, in dem wir ja alle gefangen sind. Freilich meint er auch, das historisch Unbeschreibliche habe uns der Grenze näher gebracht, die Geschichte selbst habe sich ihm genähert, dem Undenkbaren.

" ... die Halbverwandelten schleppen/ an einer der Welten// der Enthöhte, geinnigt,/ spricht unter den Stirnen am Ufer:// Todes quitt, Gottes/ quitt."

So deutlich wie noch nie zuvor ist ja heute für viele das Unwirklichkeitsgefühl; die Welt wird als Exil ganz in Celans Sinne, vielleicht auch in dem der Bibel, als Austreibung, als Edenverlust, ja, als vom Menschen selbst zerstörte Wirklichkeit erfahren, in der uns nun auch noch die Sinne geraubt werden, und langsam auch der Verstand. Die Natur sowieso ...

Ja, er meinte, und zwar im alten apokalyptischen Sinn, daß so das "Drüben" schon in unsere Welt hereinreiche, die Grenze fast schon offen sei zum Dialog. Seine Position ist das Gegenteil von Jean Amérys untröstlicher Leere und verzweifelter Einsicht, daß die "Todeslogik" leer und widerwärtig sei: "Nicht ist gleich nicht! Es sprechen ja hier noch Lebende, mischen dauernd Lebenslogik hinein, übertreten dauernd das Gebot: Wenn ich bin, gibt es den Tod nicht, wenn es ihn gibt, bin ich nicht mehr da. Und der Selbstmörder", so Améry: "vollzieht das Unbeschreibliche und logisch Verkehrte; 'Le faux c'est la mort', heißt es bei Sartre. Das Falsche ist der Tod."

Vielleicht suchen wir auch im "Drüben" das Vertraute und verfallen dabei dauernd in falsche Metaphorik. Die freilich auch Celan ablehnte. Der wirkliche Tod sprengt sie, macht alles lächerlich. In ihm gipfelt aber auch, wie Améry bemerkt: "... die extreme Niedertracht der condition humaine ... Das Absurde und Paradoxe, daß jemand sich ein Leben lang anstrengt, so als lebe er ewig, und dann ist er plötzlich gar nicht mehr vorhanden." Für Celan ist das Dasein: "Die nachzustotternde Welt,/ bei der ich zu Gast/ gewesen sein werde, ein Name/ herabgeschwitzt von der Mauer,/ an der eine Wunde hochleckt."

Als wäre die Welt eine Art Erschießungsmauer, zugleich ein Name. Nichts mehr. Wir müssen gar nicht erst aufs Geschichtliche eingehn, jeder ist doch schon von Geburt an ein zum Tode Verurteilter!

Celan war vielleicht extrem hoffnungssüchtig, bis über das Leben, den Tod, über die Literatur, das Menschsein hinaus. Alte jüdische und christliche Mystik gingen in sein Werk ein. Sogar die alte Idee, daß der Mensch dazu da sei, auch die andern Kreaturen, Blumen, Pflanzen zu erlösen:

"Krokus, vom gastlichen/ Tisch aus gesehn:/ zeichenfühliges/ kleines Exil/ einer gemeinsamen/ Wahrheit,/ du brauchst/ jeden Halm."

Und sogar die Katastrophe setzte er als Hoffnung ein, als wären wir so dem "Andern" näher.

Vielleicht suchte er dazu eine Sprache. Sprache der Sprachen, Ja, er suchte: "Ein Wort nach dem Bilde des Schweigens." Und sprach von einem "Gedicht", das unterwegs sei, ein Gedicht, das es nicht gibt, an dem wir aber, an dem alles teilnimmt. Auch das einzelne Versgeschehen, wo dies Unterwegssein am besten gespiegelt wird. Zugleich aber ist das Sprachgeschehen auch der Sündenfall: im Klischee, in Paragraphen, in der Abstraktion, in Verordnungen, im Befehl vor allem! Er sieht die Geschichte in heilsgeschichtlichem Licht, als Paradies, U-Topie, Turm von Babel, als dauernde Wiederholung des Sündenfalls: z.B. im Nazi-Fall, der Welt-Technisierung usw. Sogar im eignen Gedicht: "Ihr meine mit mir ver-/ krüppelten Worte, ihr/ meine graden." "Hurig" und "umbabelt" seien seine Worte, doch auch "hinausgekrönt". "Das Eine Geheimnis/ mischt sich für immer ins-Wort./ (Wer davon abfällt, rollt/ unter den Baum ohne Blatt)."

Es ist immer der Paradiesbaum, der Baum des Lebens. Der Sündenfall ist die Spaltung, Abspaltung, der Ab-Fall: die Abstraktion, Ding, Name, anstatt das Ganzen, des Organischen, Natürlichen.

Celans Melancholie und Selbstzerstörung, so meint Winfried Menninghaus, in seiner Celan-Deutung sicher mit Recht, sei kein nur persönlicher "Stau", sondern eine Auswegslosigkeit, die aus dem "Stau der Geschichte" selbst komme.

Das kann man gut verstehen, der alte Schmerz, jener alte Schock beim Tod seiner Mutter, diese Wunde konnte gar nicht vernarben. Der Nazi-Sündenfall oder jener von Hiroshima, der ihn genau so wenig losließ, erschien in all den neuen Wahnsinns-Taten nach dem Krieg, seis nun in Korea, Vietnam, Algerien oder Budapest, Prag oder der neuen Atom-Kriegsgefahr als ewige Wiederkehr einer akuten, wenn auch alten Krankheit.

All dies ging ihm sehr nah. Sein Zustand verschlechterte sich, Bitterkeit und Hohn tauchen auch in seinen Gedichten immer deutlicher auf: "Üppige Durchsage/ in einer Gruft, wo/ wir mit unseren Gasfahnen flattern// wir stehn hier im Geruch der Heiligkeit, ja."

Selbstironie eines aus der Vergangenheit Entkommen, Geschlagenen, den niemand mehr hören will? Hier in der unerträglichen Fühllosigkeit, Bruderlosigkeit? Wie hingerichtet kommt er sich vor: "Ein ins Stumme entglittenes Ich:/ hölzern, ein Pflock,/ an dem ein herüber-/ gewehtes Gefühl/ sein tauben-und schnee-/ farbenes Fahnentuch festmacht./ Die fast schon weiße Fahne, Frieden im Eis?"

"In unseren Gesprächen gelangten wir verschiedentlich an einen Punkt, wenn jene dunklen Wände sich plötzlich herabließen – " So berichtet János Szász über Paul Celan in einer schon sehr späten Zeit seines Lebens, ein Jahr vor Celans Freitod: "als ob zur Weiterführung des Gesprächs so dunkle und brennende Geheimnisse angerührt werden mußten, die uns schon nicht mehr (und auch niemanden andern) etwas angingen. Niemanden - oder alle, die seine Gedichte lesen, mit seinen Gedichten allen sagend, was er niemandem sagen konnte. Aber das Gedicht war nur so lange der Träger seiner Geheimnisse, die er nicht lüften konnte, bis das Bewußtsein endgültig unter dem unerträglichen Gewicht zusammenbrach."

Es war ein "Behaupten am Rande seiner selbst", wie Celan selbst sagt. Nur noch ein dünner und immer feiner werdender Gesprächsfaden und Faden des Gedichtes hält ihn am Leben. Seine Trauer und Aggressivität wendet sich immer mehr gegen sich selbst und zerstört ihn. Er hat nicht mehr weiter gewußt, sagen jene, die ihn gut kannten. Und er weiß auch, daß Verse nicht mehr ausreichen. Er lebt kaum mehr und hat – "die wildernde Überzeugung,/ daß dies anders zu sagen sei als/ SO."

Aber vielleicht ist diese letzte Abwehr noch fast heroisch, das Tragische noch da, und es ist rückführbar in die Vergangenheit; ihre Verletzungen, das Leiden daran gibt einen gewissen Lebenssinn ...
 
 

Das klingt fast zynisch, so formuliert. Doch ich weiß jetzt, wie sehr die Trivialität dem alternden Menschen nah auf den Leib rückt, ihn zerstören kann!
 
 

3

Es ist erstaunlich, daß dabei sinnvolles Leiden wie ein Schutz ist, wenn man es eben durchlebt, auch den Tod eines Menschen. Doch der andauernde, nur erinnerte Schmerz kann zermürben, vor allem wenn der eigene Tod heranrückt. Jean Améry sagt dazu: "Das Altern ist es, das allerlei Besinnungen uns aussetzt und uns zu ihnen befähigt. Schon macht die Welt, deren Abbild die Logik ist, sich davon.

Schon ist, wenn wir die Höhe überschritten haben und es abwärts geht, immer steiler, immer geschwinder, ein Denken, das der Weltüberwältigung gilt und darum in der Logik sich ein Weltabbild abziehen hat müssen, nicht mehr ganz unsere Sache ... der Tod erwartet uns und zwingt uns, logisch unsaubere Sätze zu bilden, wie ´wenn ich nicht mehr bin´. Er ist schon in uns und schafft Raum für Zweideutigkeit und Widerspruch."

Améry schrieb ein Buch "Über das Altern. Revolte und Resignation" und eine Fortsetzung, den "Diskurs über den Freitod", dort heißt es: "Das Wissen wird mit den Jahren intensiver, setzt gleichsam ´Füße´ an. Der Mensch lebt also jenseits des Herumredens, das er um seiner Selbstverteidigung willen veranstaltet, im ständig sich verdichtenden Wissen um den Tod hin, denn tatsächlich ist ja das vegetativ-taube Ich, das er redend verlassen zu haben meint, das eigentliche: dies gönnt ihm, sobald erst der Tod gesetzt ist, fürderhin keine Ruhe mehr."

Es ist erschreckend, wie genau und erbarmungslos Améry die Alternssymptome beobachtet. Und er, der eine ganze Menge mitgemacht hat, sieht dieses "private" Verhängnis als eigentliche Katastrophe an. Er beschreibt das Erkalten z.B. des Landschaftsgefühls; das verfallende Körpergefühl, die entsetzten Beobachtungen im Spiegel. Den Selbstüberdruß: Die dünne Alltagsschicht aber wird gesprengt, wenn das alternde Menschenwesen seinen Alternsspuren nachspürt, am Spiegelbild haften bleibt: dann bricht urplötzlich das Entsetzen auf. Sonst aber sei dieses Schaudern, die menschliche Grundverfassung durch Alltäglichkeit überdeckt. Sie verwandelt sich im Alter langsam in Lebensekel. Schlimmer aber sei die Zeitnot und Zeitangst, des "O-weh-wohin-entschwanden-alle-meine Jahr", schlimm sei vor allem diese Unwiederbringlichkeit. Ist diese Todesnähe die sogenannte "Altersweisheit"?

Es ist wohl eher Grauen.

Améry sagt sich trübe: "Es ist gar nicht so lange her, daß ich von der rive gauche aus mich hineinwarf in die Welt, nur so rund zwanzig Jahre, ich verspüre sie auf eine das Herz zu Tode erschreckende Weise als eine geringe Spanne ... in nochmals zwanzig Jahren werde ich nicht mehr sein: wie wenig Welt habe ich noch vor mir!"

Wenn die Lebenskraft abnimmt, die alles verdeckt, jenes Todes-Wissen vor allem, kommt die Wahrheit unverhüllt zutage. Freilich gibt es auch Menschen, denen dieses die Vitalität bis ins hohe Alter erspart. Oder ist es Naivität? Gottvertrauen? Gewohnheit; Améry schrieb seinem Freund Hans Mayer in ein Exemplar seines Buches "Hand an sich legen" die Widmung: "Dem namensgleichen Freund, dessen glückliche Vitalität von diesem Buch nichts zu befürchten hat."

Weiß erst der einsam Alternde wirklich Bescheid, gar der alte Mensch, der heimatlos ist in einer fremden Stadt, wie es Jean Améry bis zu seinem Freitod war?

"Mag sein, es wird des Zeitvergehens im Altern am intensivsten der Gescheiterte gewahr, der aller Illusionen enteignete ´raté`, so wie ja überhaupt und allgemein das, was man Erfolglosigkeit nennt und was besser Weltmißlingen heißen mag, den Menschen letzten Fragen aufschließt." Der "raté" Améry ... allein im Café, Améry, der keine Kinder hat und auf die Mirage des Nachruhms keinen Anspruch erheben darf, der sich keinen Grabstein errichten lassen wird und nicht einma1 ein Testament zu machen braucht, vielmehr kalkuliert, es sei am besten, den eigenen Kadaver dem anatomischen Institut zu verkaufen - er weiß sich gründlicher als ein Bündel Zeit ... Er hat schon immer, seit es nichts wurde aus dem Sich-in-die-Welt-Werfen, nur wenig Raum besessen. Er ist gewohnt, sich hineingleiten zu lassen in den Brunnen der Vergangenheit und darin sich selbst in der Zeit zu suchen. Sein Nachbar mit dem großen Wagen und den vielen Zimmern lärmt noch herum, bis eines Tages in seiner Brust ein Schmerz aufreißt, als wäre er an einem Fleischerhaken aufgehängt, und der Arzt seiner Frau gedämpft vom Herzinfarkt spricht; ihn nimmt er aus dem Raum, noch ehe er Zeit hat finden wollen, an die Zeit zu denken."

Ausnahmezustände, Gefahren, Kämpfe erscheinen nun fast nostalgisch als Jugendvorrecht: jenen vorbehalten, die die Gnade der Zeit genießen. Erstaunliches äußert Améry dazu, indem er sich selbst wieder in der dritten Person mit Améry anspricht: "Er sah seinesgleichen hingehen auf jede nur erdenkliche Weise. Die Kameraden, man kann es nicht anders sagen -: verrecken wie es sich gerade ergab an Typhus, Dysenterie, Hunger, an den Schlägen, mit denen man sie traktierte, auch schnappend im Zyklon B. Er ist achtlos über gehäufte Leichen gestiegen, durch unterirdischen Korridore geschritten, in denen man manche an mächtigen Eisenhaken aufgeknüpft hatte. Wie war das doch damals mit mir, fragt sich Améry, und erteilt sich die Antwort, von der er weiß, daß sie andere mit Mißtrauen aufnehmen werden: ´Ich hatte keine Angst. Ich war nicht tapfer, denn es gab vielerlei, was mich in Schrecken stürzte. Ich war jung. Und der Tod, der mich bedrohte, kam von außen.´"

Nun aber ist der Feind innen, der Tod ist im Alternden, kein Mut, kein Kampf hilft weiter. Auch keine Flucht. Oder irgendeine zu erhoffende Befreiung am Kriegsende. Dieser Tod ist so nahe wie die eigne Haut, ist immer da. Und die Hinrichtung findet mit Sicherheit statt.

Damals als noch junger Gefangener wars eindeutig noch ein Leben mit Hoffnung: "Ich schleppte mich bei rund zwanzig Grad minus tagelang, ich weiß nicht wieviele Kilometer über verschneite Landstraßen und dann und wann vernahm ich den Peitschenknall eines Schusses, unter dem ein Kamerad fiel. Der fremde Schrecken machte mich vielleicht kurz erbeben, aber von Angst war ich verschont."

Und heute? - "Ich nehme, wenn ich ermüde und den eignen Wagen nicht fahren mag, ein Taxi, es ist alles ziemlich bequem und niemand versagt gute Dienste dem, der ein paar Geldscheine hinlegen kann. Aber die Angst ist in mir, ein taubes, mich niemals zittern machendes, aber ungemein beharrliches Gefühl, das langsam zu einem Teil meiner Person wird, so daß ich eigentlich nicht mehr sagen kann, ich habe Angst, vielmehr ich bin Angst, wenn dieses Angstsein mich auch nicht hindert, meine Arbeit zu tun, wenn auch von ihm die andern nichts wissen und sogar meine zur Schau getragene gute Laune dadurch kaum Einbuße erfährt. Ich hege den dringenden Verdacht, daß es nicht besser steht um die andern Alternden, die allenfalls fröhliche Picknicks veranstalten, Theater besuchen, sich modische Kleider anfertigen lassen; die ontische Dichte meiner Existenz verdünnt sich und den leeren Raum füllt die Sterbensangst."
 
 

Jean Amery war 55 Jahre alt, als er dies schrieb. Paul Celan fast 50 als er am 20. April 1970 in der Seine ertrank. Beide lebten in einem selbstgewählten Vakuum, Celan in Paris, Améry in Brüssel.

"Ich denke viel an die verschneiten Landstraßen von 1944 und den guten Mord-Tod, der von mir nichts hat wissen wollen. Kein schönerer Tod, in der Tat - nicht jedermann hat die Chance. Inakzeptabler Gedanke, wenn man erwägt, zu was für reaktionären Gemeinheiten er ein Alibi abgeben könnte! Wahr bleibt, des bin ich gewiß, daß man es leichter hat mit dem Sterben, wenn keine Zeit hinging, mit dem so Unausweichlichen wie Unausdenkbaren intim zu werden."
 
 

4

Auch Celan hatte in jüngeren Jahren ein "poetischeres" Verhältnis zum Tod: "Mit allen Gedanken ging ich/ hinaus aus der Welt: das warst du,/ du meine Leise, du meine Offne, und du empfingst uns./, Wer/ sagt, daß uns alles erstarb,/ da uns das Auge brach?/ Alles erwachte, alles hob an."

Erst in den letzten zwei Jahren seines Lebens, seit 1968, wurde auch das, was Celan schrieb, immer sarkastischer und unverständlicher; ja, er kultivierte den aggressiven Stilbruch, als sei alles nun umzukehren, radikal, seine Verse werden gallig, zynisch und blasphemisch. Mit der Schönheit des Todes ists ein für allemal vorbei, und auch Gott trifft sein Hohn z.B. in einem Gedicht aus dem Band "Fadensonnen":

"Und ich lag mit dir, du, im Gemülle,/ ein matschiger Mond/ bewarf uns mit Antwort,// wir bröckelten auseinander/ und bröselten wieder in eins:// der Herr brach das Brot,/ das Brot brach den Herrn."

Man spürt ein fast krankhaftes Gefühl des Zerfließens im Trivialen, sogar die von ihm bisher hochgehaltenen Bilder verkommen. Als wäre tatsächlich auch der Tod nun da drinnen, der wie am Körper frißt. Alles eins, Apathie schleicht sich ein. Oder senile Revolte. Vor allem aber Gleichgültigkeit. Man denkt an das von Schönberg vertonte Jakob-Haringer-Gedicht "Abschied". "Es ist alles eins."

Parodie auch in jener Entwicklung zum "Andern", an das Celan einmal geglaubt hatte, sie ist in seinen späten Gedichten zu spüren, diese zerstörerische Parodie. In der Büchnerrede 1960 hatte er es schön formuliert, er sprach über das unsichtbare Gedicht, das große, das des Himmels: "Es ist einsam und unterwegs. Wer es schreibt, bleibt ihm mit." "Das Gedicht will zu einem Andern, es braucht dieses Andere. Jedes Ding, jeder Mensch ist dem Gedicht, das auf das Andere zuhält, eine Gestalt dieses Andern das alles ist, glaube ich, keine Errungenschaft des mit den täglich perfekteren Apparaten wetteifernden (oder miteifernden) Auges, es ist vielmehr aller unserer Daten eingedenk bleibende Konzentration ... wir sind weit draußen. Das Gedicht sucht, glaube ich, auch diesen Ort, ich spreche ja von dem Gedicht, das es nicht gibt!"

Es war das Werdende hinter der Welt in Celans Geschichts-Auffassung, dieses "Andere" oder "Ganz-Andere": -

"Einmal, da hört ich ihn,/ wusch er die Welt,/ ungesehen, nachtlang/ wirklich,// Eins und unendlich, vernichtet,/ ichten./ Licht war. Rettung."

Und nun im Älterwerden, der Psychose nahe, nur noch Hohngelächter auch auf das Licht, auf das "Andere", auf jenen, der noch schreibt, gegen sich selbst in sarkastischem Kurzschluß und finsterer Melancholie, sogar gegen das eigne Heimweh gerichtet: "Das ausgeschachtete Herz,/ darin sie Gefühl installieren. Großheimat Fertig-/ teile./ Milchschwester/ Schaufel."

Worte gegen sich selbst gestellt, Bruchstücke. Auch die Poesie trocknet ihm aus. Alles verengt sich, wird starr, materiell.

"HURIGES UMSONST. Und die Ewigkeit/ blutschwarz umbabelt./ Vermurt/ von deinen lehmigen Locken/ mein Glaube."

Oder das Gedicht "Gewieherte Tumbagebete":

" ... ein Aschen-Juchee/ blättert die Singstimmen um,/ hängt die zerstrahlten Topase/ hoch in den Raum ... / Leichensäcke/ richten sich auf ... "
 
 

Die grauen, lehmigen Fluten der Seine; vom Pont Neuf, da sah ich hinab, das war 1968, stand mit meiner und auch Celans alter Freundin Nina Cassian auf dem Pont Neuf, war eben aus Bukarest angereist, Paris, - die Herbstluft, der Himmel, tatsächlich: die große Herbstzeitlose um mich, sonnig und warm war es noch damals, und ich sehr verwirrt bei diesem Welt-Wechsel, und wollte ihn besuchen. Das war nicht möglich. Er war schon in der Nervenklinik, Zusammenbruch, Wahnsinn. Nun ja, es gab Diagnosen, die sicher danebengriffen. Was heißt das schon "endogene Depression"? Krank war und ist die Zeit! Und je mehr sich diese, im Altern, in dem Menschen Celan oder dem Menschen Améry zurückzog, umso verheerender mußte die Wirkung auf den armen Ausgelieferten sein. Es gab keine Rettung mehr aus dieser "verödeten Lebensregion" wie sie Améry nennt, sie sei ... "bar jeden vernünftigen Trostes; man soll sich nichts vormachen. Im Altern werden wir zum weltlosen innern Sinn reiner Zeit. Als Alternde werden wir unserem Körper fremd und seiner trägen Masse zugleich näher als je zuvor. Im Altern ist alles eine Zumutung. Schließlich müssen wir mit dem Sterben leben, skandalöseste Zumutung, Demütigung sondergleichen, die wir einstecken, nicht in Demut, sondern als Gedemütigte. Alle Symptome der unheilbaren Krankheit sind rückführbar auf das unbegreifliche Wirken des Todesvirus, mit dem wir in die Welt treten. Er war nicht virulent, als wir jung waren. Wir wußten wohl von ihm, aber er ging uns nichts an. Im Altern tritt er heraus aus seiner Latenz. Er ist unsere Sache, unsere einzige, auch wenn er nichts ist ... "

Acht Jahre nach Celan ging auch Améry in den Freitod, aus dem selbstgewählten, nein, selbst verhängten Vakuum ins Nichts.

Nur die Literatur hatte ihn am Leben gehalten, wie Celan auch. Aber vielleicht hält auch ihre Schutzwand mit den Jahren nicht mehr dicht, der Kreislauf des Todes als Leben, jene innere Zeit bricht durch, zerfrisst auch das einzige Haus, den Freiraum, den sich der alte Emigrant im Kopf schafft, die Hochfliegende "Berührung" der Phantasie.

Da hilft vielleicht wirklich nur noch Glaubensfähigkeit ... Und Améry sagte dazu: "Der natürliche-unnatürliche Tod ist größer als Gott. Tote sah ein jeder schon einmal, der Gott bleibt stets in der Verborgenheit, das ist der Trick, von dem er lebt ...

Es ist ja auch nicht gesellschaftsfähig ... daß es einem Menschen zuwider ist, Fleisch zu sein, sich betasten zu können, zuwider auch, daß er sehen muß, was er nicht begehrt, Straßen und Gesichter und Landschaften, lauter Sehensunwürdigkeiten. Weder gesellschaftsfähig noch der Psychologie zugänglich, da sie doch einer das Leben erhaltenden Gemeinschaft unterworfen ist, während der, den es ekelt, von den Herrlichkeiten der Schöpfung nichts zu wissen wünscht. Nahrung aufnehmen und Exkremente ausscheiden. Morden, lustzittern, ermordet werden, furchtbebend. Sein. Und warum ist überhaupt etwas und nicht vielmehr nichts?"

Freilich solche Altersrakikalität wird von der "heulenden Zivilisationsmeute zurückgewiesen", das weiß der Einsame in Brüssel genau. Und auch, daß alles der "Lebenslogik" dient, sie ist das ekelhaft Selbstverständliche. Aber so ein Mensch hat doch das Recht, nach solch einem Leben zu sagen, dies sei ihm deutlich geworden: - es gäbe nicht nur das Scheitern im Beruf, in der Familie, vor sich selbst, das Scheitern, den "échec", nein, dieser werde im Alter unausweichlich, total, und allesumfassend, es sei nunmehr ein échec des Lebens selbst, das sich nun ad absurdem führe. Und daran ist nicht zu rütteln; das bisher kleine Exil, da man in schier tröstlichen geographischen, vielleicht zeitgeschichtlichen Dimensionen sehen konnte, wird dann unausdenkbar und untröstlich unwiederbringlich der Ausschluß in jeder Sekunde spürbar. Und der Ausweg? Amérys Ausweg ist überraschend. Er trifft sich darin mit Celans Landsmann, dem Pariser Philosophen E. M. Cioran, der in seinem Buch "Die verfehlte Schöpfung" schrieb: "Es tut wohl zu denken, daß man sich töten wird. Kein Thema ist beruhigender: sobald man sich ihm nähert, atmet man auf."

Einer, der sich so befreie, nähere sich der Omnipotenz, nähere sich Gott, stellt er fest.

Größenwahn?

Wir sollten fragen dürfen, ob der Mensch nicht eine verhinderte Größe ist. Améry meint, Scham bestimme auch jenen, der abspringen will, auch ihn leite ja die Lebenslogik bis zum letzten Atemzug; der Selbsterhaltungstrieb läßt nicht zu, daß der Geist des Ekels, der vielleicht der Geist schlechthin ist, die Oberhand gewinne ...

Es scheint auch bei Paul Celan ähnlich gewesen zu sein. Freunde berichten, er habe in den letzten Monaten seines Lebens oft "abwesend" gewirkt, immer öfters hätten sich jene "dunklen Wände" um ihn herabgelassen. Wenn er dann in der "Alltagswelt" erwacht sei, heißt es, habe "der Anblick jeden realen Gegenstandes ihn an den Tod erinnert und seinen Geist verdunkelt". In seinem letzten Frühjahr, berichten Freunde aus Freiburg, wo er noch zu einer Lenau-Tagung angereist sei, kam er: " ... in einem komischen langen, kaftanähnlichen Mantel ... unrasiert, zwei Haarsträhnen über die Ohren gekämmt - wie auf Chagall- Bildern die fliegenden Juden. Er redete kaum, und wenn er etwas sagte, erzählte er von seiner Kindheit, seinen Eltern, auf Spaziergängen blieb er immer wieder stehn, sah irgendein Haus, einen Berg, einen Baum im Walde lange an, als nähme er Abschied, als würde er das alles zum letztenmal sehen. Die Seine erwartete ihn." So schrieb ein Freiburger Bekannter, Gerhart Baumann in seinen "Erinnerungen an Paul Celan".

Celans Todestag soll der von ihm so gewählte: 20. April gewesen sein. Und für ihn waren symbolische Daten von großer Bedeutung; 20. April - ein Hinweis, eine Botschaft, die er uns noch vermitteln wollte, die letzte?!

Und doch können wir uns, jenseits dieses eiskalten doppelten Schocks, der "dummen Frage" nicht entziehn: War das nötig?!

Sie ist dumm, diese Frage, wenn auch sehr menschlich, sehr verständlich. Doch das, was er tat, was auch Améry tat, liegt und soll jenseits jeder Verständlichkeit liegen, darum gehts ja. Sie ertappen uns dabei bei unserer dümmlichen Lebenslogik, die längst durch das grausige Geschehen, das sie gezeichnet hat, zerstört worden ist. Der Konsensus: Logik, Zeit ... auf sie sollten wir uns heut nicht mehr verlassen. Wir sitzen auf der geballten Sprengladung dieser Vergangenheit. Es gilt umzudenken, umzufühlen. Freilich - es ist ausweglos, es ist doch ein Zeichen, eine Provokation.

lch finde das allerdings zu pessimistisch, wir brauchten eher ... Hoffnung, Kraft! sag ich mir, und antworte gleich: Da bist du schon gefangen, wenn du so denkst, würde Améry sagen. Jedem ist bange vor dem Nichts, und wenn ein anderer daran rührt, rührt er auch in dir daran. Schon Hamlet sagt es. Die Lebenden werden wütend, aggressiv. Auch in jenem, der gehen wollte, rühre sich der "Kolonialsklave", den man in uns hineingesetzt habe, und der sich dann vor der Umgebung, der Familie, dem Leumund fürchte, so Améry. Und diese Umgebung, du und ich mit eingeschlossen, tut alles, um Recht zu behalten, mit ihm, dem ordinären Lebenstrieb, alle, die nicht mehr mitmachen wollen, zu vereinnahmen. Irrenärzte stehn bereit, dich zu traktieren. Sie versuchen dem Selbstmordkandidaten diese "Krankheit" mit Elektroschocks und Psychopharmaka auszutreiben. Hochtrabende Diagnosen stehn bereit, als hätte man die Masern. Ernest Hemingway und auch der Dichterin Sylvia Plath erging es so. Früher war der Selbstmordversuch sogar strafbar. Erst seit wenigen Jahren ist Westeuropa von dieser Anmaßung frei. Aber es soll keinen eignen Tod geben dürfen, nicht einmal über den Tod sollen wir selbst entscheiden dürfen. So will es die Anmaßung der Gesellschaft. Jean Améry wendet sich vehement dagegen. Auch gegen die Anmaßung der Mitmenschen über Freitod zu rechten.

"Der Suizidär wird zur ebenso beispielhaften Figur wie der Held ... Antwort auf die drangvollen Herausforderungen des Daseins und namentlich des Zeitvergehens, in dessen Strom wir mitschwimmen und uns selbst ertrinkend zusehen ... Was ist der Suizid als natürlicher Tod? Das schmetternde Nein zum schmetternden, zerschmetternden échec des Daseins."

Der sonst so getreue Diener, der Körper, der uns trägt, wird abgeschafft, oft mit starken Selbsthaß, das Beispiel des Schmiedes, der seinen Kopf zwischen die Blöcke eines Schraubstockes legt, dran dreht, bis der Schädel zerbirst, ist besonders schrecklich. Als wäre Wohnen im Fleisch das an sich Unerträgliche. Freilich ist dieser Körper auch die Last, macht Schmerzen, mindert uns herab. Steht der sichtbaren Macht als sichtbare Außenseite von uns zur Verfügung; da die äußere Macht sonst schwer an uns herankommen könnte, trägt sie Folter, Zeitstrafen, Todesurteile an den Körper heran. Und am Schluß kommt für ihn der "natürliche" Tod. Vorher die Qual des Alters. Und doch erhält gerade der zum Freitod Entschlossene eine besondere Beziehung zu diesem Körper, eine zärtliche; "Trennungsschmerz" erfasst ihn, sagt Améry aus eigner Erfahrung, Vorstellungen, wie unser Bruder im Außen in die Grube gleitet, sich zersetzt, verfällt ... Das Subjekt "hat die Welt verneint und mit ihr sich selber: es muß sich abschaffen und verspürt sich halb schon als Gewesenes, Verlegen wesendes. Da versucht es ein letztes Mal, zu sich zu gelangen. Vier Augen starren, zwei Münder verziehen sich in grausamen Hohn oder großem Weh ... "

Der Freitodwillige steht vor dem Spiegel. Erinnerungen kommen, Nostalgie. Er wird mit sich selbst auch alle Erinnerungen löschen, das Elternhaus, das Kind in sich, das es einmal gab. Und doch steigt vielleicht schon so etwas wie Freiheitsrausch, Abschiedsrausch wie vor einer großen Reise oder dem endgültigen Verlassen eines Landes, des eignen, auf. Etwas ist´s, eine grausame Härte. Etwas Absolutes ist´s. Es gibt unzählige Abschiedsbriefe jener, die vor dem Absprung standen.

"Er beging Selbstmord, weil er die Welt für wahnsinnig hielt. Warum begeht man Selbstmord? Weil man die nächste halbe Stunde, die nächsten fünf Minuten nicht mehr erleben will, nicht mehr erleben kann. Plötzlich ist man am toten Punkt, am Todes-Punkt." So schrieb Klaus Mann vor seinem Freitod. Viele sprechen auch von "Glücksgefühl", so Kleist, als hätten sie sich zum erstenmal gefunden, und es falle alles Schwere ab von ihnen, auch Rücksicht, Vorsicht, Angst.

" Und nun lebe wohl; möge dir der Himmel einen Tod schenken, nur halb an Freude und unaussprechlicher Heiterkeit, dem meinigen gleich: das ist der herzlichste und innigste Wunsch, den ich für dich aufzubringen weiß. Stimmings bei Potsdam am Morgen meines Todes. Dein Heinrich."

So schrieb Heinrich von Kleist an seine Schwester.

Vielleicht glaubten Kleist und Henriette Vogel auch an die himmlischen Gefilde. Im Brief steht: "Wir unsererseits wollen nichts von den Freuden dieser Welt wissen und träumen lauter himmlische Fluren und Sonnen ... Adieu."

Jean Améry jedenfalls glaubte nicht daran, schrieb aber doch, er wisse es aus eigner Erfahrung: das Schlimmste was es gebe, sei zurückgeholt zu werden - gewaltsam. Und auch das Glücksgefühl des Befreiten vorher beschreibt er. Wer dann auf der Internsivstation erwache, fühle sich entwürdigt, wehrlos der "Rettung" ausgesetzt: "Noch weiß ich ja, wie es war, als ich erwachte nach einem, wie man später berichtete, 30stündigen Koma. Ein Gefesselter, von Röhren durchbohrt, schmerzende Geräte, mir angetan zum Zwecke meiner künstlichen Ernährung, an beiden Handgelenken. Ausgeliefert, preisgegeben ein paar Krankenschwestern, die kamen und gingen, mich wuschen, das Bett säuberten, mir das Thermometer in den Mund einführten, und alles ganz sachlich, als wäre ich schon ein Ding, une chose ... Eine Tiefe Bitternis erfüllt mich gegen alle Gutmeinenden, die mir die Schmach angetan ... und daß die Rettung, deren der Arzt sich rühmte, zum Schlimmsten gehörte, das man mir je zugefügt, das war nicht wenig. Genug."

Mit Recht fragt sich der so Gefolterte, wieso sich ausgerechnet jetzt die Gesellschaft, die sich doch vorher einen Dreck um ihn geschert hat, Kriege anzettelt, Gefängnisse bereithält, Lager, auch für ihn mal bereitgehalten hat, nun bei seinem Freitod verhält, als wäre er ihr teuerstes Stück. Soll auch hier ein Exempel statuiert, soll das Recht auf den eignen Tod bestritten werden!?

Heute, viele Jahre nach Amérys Freitod, wird viel über dieses Recht, auch über Euthanasie gestritten. Ich kenne den Fall der amerikanischen Malerin Jo Roman, die ebenfalls freiwillig aus dem Leben ging, als sie Krebs bekam, und für dieses Recht stritt. Sie hat sogar das Modell einer Art Selbstmordklinik entworfen, das sie "Exit House" nennt. Eine "Bundeskommission für Tod auf Grund freier Entscheidung" soll über die ordnungsgemäße Durchführung dieser Prozedur wachen. Es soll da ganz "vernünftig" zugehn.

Ich weiß nicht, ob Jean Améry oder Paul Celan und die vielen andern glücklich darüber gewesen wären? Ich glaube nicht, im Gegenteil ... Diese Gesellschaftsräume, Speiseräume, Grünanlagen, Swimmingpool, die juristische Abteilung zur Regelung der Hinterlassenschaften: "Die Sterbe-Räume umfassen jeweils eine Wohnung, die von einem Berater benutzt werden kann. Die Wohnung eignet sich auch für die Arbeit mit einem Paar, das aus dem Leben scheiden will, oder - in Zeiten der Überbelegung - für die Arbeit mit zwei einander fremden Freitodkandidaten."

Sonst noch was? "Gemütlich" solls zugehn. Die Spritze oder die Tabletten oder das Gas dann vielleicht nach einem schönen Familienbeisammensein, nach dem Tee! Gräßlich. Der Mensch wird nun auch noch der letzten Intimität, die der Tod ist, der letzten Freiheit beraubt! Ja, ich finde es makaber, empfinde Scham und Ablehnung, und auch Peinlichkeit dabei. Ich kann nicht einsehn, daß Frei-Tod besser sein soll als Tod, gegen den ich mich auflehne, ihn absurd und auch mit Jean Améry "unnatürlich", unausdenkbar finde, sei es der eigne oder auch der Tod nahestehender Menschen. Mich bringt dieser Gleichmut auf.

"Der Unterschied zwischen Sich-selbst-Umbringen und seinem Leben ein verantwortungsbewußtes gutes Ende setzen ist der Unterschied zwischen Selbstmord im Affekt und überlegtem Freitod." So schreibt Jo Roman in ihrem Buch "Freiwillig aus dem Leben". - Dies mag für hoffnungslose Fälle im letzten Stadium gelten. Sonst aber würde ich auch eher Selbstmord im Affekt als den sogenannten "überlegten Freitod" akzeptieren, der ähnliche Gefühle in mir weckt, wie der kühl organisierte Tod bei einer Hinrichtung. Es ist wie eine Selbsthinrichtung als Familienfest unter staatlicher Kontrolle. Kein letzter Akt des Aufbäumens, nein eine Art Idylle. Jean Améry fragte mit Recht: "Wem gehört der Mensch?" Etwa der Farmilie, etwa dem Staat? Vielleicht gehört er Gott, wie die Gläubigen meinen. Und trotzdem gingen die ersten Christen massenhaft freiwillig in den Tod und wurden Märtyrer. Es ist in vielen Religionen die größte Tat, für seinen Gott in den Tod zu gehn.

Ähnlich wie für den Staat, der "Vaterland" genannt wird! Das nennt man "Heldentod", und es ist kein freier Tod mehr, sondern Verblendung. Ich habe auch mit jungen Leuten gesprochen, deren Freunde sich das Leben genommen hatten, einstimmig lehnten sie die Tat ab. Einer sagte, keiner wisse, wie er zu seinem Leben gekommen sei, er habe es nicht selbst geschaffen, er habe also auch kein Recht, es abzuschaffen. Es sei ein Rätsel. Keiner wisse, wohin er gehe, also könne er auch nicht so tun, als wisse er es, und als könne er Selbstmord verantworten. Aus genau dem gleichen Grund bin ich auch gegen die Todesstrafe. Kein Staat kann sich anmaßen, Hand an mich zu legen, Leben reicht über so beschränkte irdische, gar rein physische Gewalt weit hinaus. Allerdings, dies möchte ich betonen: jene verzweifelte Zwangslage, die Améry "vor dem Absprung" nennt, und wo einzig der Freitod noch Freiheit und Würde verspricht, muß ebenso akzeptiert werden, wie die besonderen Umstände einer unheilbaren Krankheit. Oder Altersnot. So wie auch Schmerzen, schreckliche Lebenslagen, die aus dem Rahmen der Vernunft fallen.

Freilich, wer unmündige Kinder habe, gibt auch Améry zu bedenken, wer eine kranke Frau habe, der müsse gegen den Drang, zu verschwinden angehn. Doch er sagt auch, daß sich gerade in diesem Fall zeige, wie wenig ein Mensch gelte in dieser Lebensmaschinerie. Auch die Trauer und das Entsetzen der Anverwandten dauere nicht lang:

"Auch sie vergessen mit einer stupenden Rapidität. Die Witwen lachen bald wieder ... Für die Kinder wird Papi bald zu einem Mythos, dessen man sich mit Langeweile erinnert ... (er) aber ist ganz allein mit seinem Freitod ... "

So allerdings gerate die Freiheit ins Zwielicht, sagt Améry ... Vielleicht wars gar ein Erpressungssuizid, ein Rachesuizid, die es auch geben soll. Doch immer wars ein Hilferuf, eine Botschaft, wie sogar der hysterische Pseudosuizid noch ein Hilferuf ist, ein Mensch, am Ende seiner Kräfte, im Jammer und Elend, in der Verzweiflung; ein Mensch, der nicht anders kann; denn die andern sind bekanntlich die Hölle!

"Er ist als Phänomen so selten wie das Genie, sei er auch nur ein armer Hund, dem keiner eine Träne nachweint."

Durch seinen Tod wehrt er sich gegen die Zumutungen der Gesellschaft, der Umgebung, der Arbeitskollegen, des Chefs, der Familie, des Partners, der Ehehölle oder gegen die eignen unerträglichen Schwächen. Und zuletzt gegen die Herabminderung im Alter, denn der Spiegel, der ihm überall vorgehalten wird, entspricht nicht jenem Bild, das er von sich hat - oder auch nur haben möchte. Dieses erniedrigte Spiegelbild macht ihn zum "letzten Dreck", und als solcher möchte er nicht mehr weiterleben. Er zieht sich zuerst zurück, vereinsamt, bis die Reibungen so groß geworden sind, daß sich jene "dunklen Wände" herablassen, von denen auch Améry spricht, sie werden immer enger und enger. Doch viele wagen trotzdem den Absprung nicht; wenige finden dazu den Mut oder überwinden die Lebensgier, die ein stärkerer Schutz und Halt ist als jede Telefonseelsorge:

"Wenn alles schiefgeht, kann ich mich immer noch umbringen, reden viele so daher. Danach geht alles schief, und sie leben schief weiter, noch ein bißchen ärmer, trauriger, älter, kränker, einsamer, und die stolze Entschließung ist bald nur noch eine ferne Erinnerung ... Scham über das eigne Versagen. Entscheidung, die ihn erhob: Einmal lebt ich wie Götter und mehr bedarfs nicht ... ein Schwätzer. Einer, der das Leben verlor, ohne den Tod zu gewinnen."

Der einsame Emigrant Jean Améry in der belgischen Hauptstadt, der schon entschlossen war, der den letzten Ort schon abschritt, jenen des Nirgendwo, bringt wie jeder gute Autor, der eigne Haltung und selbsterlebte Lebenssituationen beschreibt, Unbedingtheit, ja, Unbarmherzigkeit auch gegen sich selbst mit. Am Horizont taucht ein Held der Einsamkeit und Verlorenheit auf, der uns Achtung abnötigt. Hat der freiwillige Tod Christi am Kreuz nicht eine deutlich selbstmörderische Komponente?

Ein Skandal? Wollte Jesus nicht auch die gedankenlose Lebenslogik aufschrecken? Sagte, "das Reich der Himmel ist DA", das Unsichtbare; die Leute aber rennen dem Schein, dem Leben nach!?

Freitod als Botschaft? Makaber.

Sogar der religiöse Werner Bergengruen sagte: "Die höchste Aufgabe, die dem Menschen gesetzt ist, ist diese: es dahin zu bringen, daß sein Sterben aus einem Erleiden zu einem Vollzuge werde."

Für Celan war das "Drüben" dauernd präsend, und er sprang metaphorisch gesehen ständig in jenen Abgrund, um hinüberzukommen, wo er sich zugehörig wähnte. Ich kenne keine Äußerungen zum Freitod von ihm, auch keinen Abschiedbrief. Aber seine Gedichte sind voller Andeutungen, er solidarisierte sich mit den Toten, ja, meinte vielleicht einmal "heimzukehren". Dabei ist er viel weniger als Jean Améry oder gar Jo Roman nur im "Privaten" verhaftet, nach all dem Grauen der Lager, des Krieges, von Hiroshima und dem, was uns noch erwartet, meint er, müsse etwas anderes wahr sein, als das, was uns unser Alltagsverstand, unsere eingeübten Gewohnheiten des Augenscheins diktieren. Das bei jedem Tode Undenkbare ist für Celan zu einem allgemein Undenkbaren der Geschichte geworden: "Gott, das lasen wir, ist/ ein Teil und ein zweiter, zerstreuter: im Tod/ all der Gemähten/ wächst er sich zu,// Dorthin führt uns der Blick,/ mit dieser Hälfte/ haben wir Umgang."

Das für immer verlorene Zuhause, das Vertrauen sei im "Andern", nun im Anderswo aufgebrochen, dieses sei das Zuhause, das uns erwarte; heimisch werden auf der Erde sei unmöglich.

Ja. Doch ohne Hoffnung über den Tod hinweg, bleibt alles sinnlos, der Tod leer, unverständlich, paradox; ein reines "Nein" kann nicht gedacht werden. Auch Jean Améry stellt selbst in Frage, was er gedacht hat: "Der Ring ist geschlossen, betrachten wir ihn, geraten wir ins Grübeln; wir finden seinen Anfang sowenig wie sein Ende. Das Nachdenken über den Freitod kommt erst mit diesem zu dem Ergebnis: Aber es wird dieses so wenig erlebt wie der Tod überhaupt, Logik und Dialektik versagen in tragikomischem Einverständnis. Was gilt, ist die Option des Subjekts ... Aber was sind Würde, Menschlichkeit und Freiheit vor Lächeln, Atmen, Schreiten? Würde wider die Voraussetzung jeglichen Würdigseins? Und Menschlichkeit gegen den Menschen als lebendes, lächelndes, atmendes, schreitendes Wesen".
 
 
 
 
 
 



 
 
 
 
  DIE RACHE DES KÖRPERS AM GEDANKEN

Louis Althusser, Philosoph und Mörder
 
 
 
 

1

"Ich erinnere mich jetzt" schrieb Etienne Balibar, der Meister-Schüler Althussers: "Es war an jenem Tag im August 1980, als Althusser, der völlig ausgelaugt von Schlafmangel, vollgestopft all die Wochen mit Psychopharmaka, unter höllischen Halluzinationen litt, ruhig und verständig zu mir sagte: ´Ich werde mich nicht umbringen, ich werde Schlimmeres tun. Ich werde alles vernichten, was ich geschaffen habe, alles was ich bin - für mich und für andere ... ´

Er wurde bald aus der Klinik entlassen. Doch im gleichen Jahr ermordete er in einem Anfall von Umnachtung seine Frau Hélène. Das war in Paris, rue d`Ulm, Sonntag den 16. November 1980 neun Uhr morgens in einem kleinen Appartement der Eliteschule der Nation, der École Normale: Er kniete vor ihr, nahe, ganz nahe, gebeugt über ihren Körper, und massierte ihren Hals, fast mechanisch massierte er, massierte ihren Hals, der wie ein Gegenstand an seiner Haut lag. " ...Ich drückte meine beiden Daumen in die Höhlung des Fleisches im Umkreis des Brustbeines und erreichte so langsam, den einen Daumen links, den anderen rechts schräg aufstützend, den härteren Bereich unter den Ohren. Ich massierte die ganze Zone V-förmig ... Das Gesicht Hélènes war sehr friedlich, war unbewegt, und die weit geöffneten Augen fixierten die Decke, und plötzlich wurde ich vom Entsetzen erfaßt: zu still war dieses Gesicht; ich sah die Augen, die waren so starr ... und zwischen den Zähnen, die Lippen ein wenig geöffnet, zwischen den Zähnen ein Stückchen Zungenspitze, ungewohnt und sanft. Der Hals kalt, er war kalt, der Hals, und sprang auf, und aus aller Kraft laufend durchquerte ich in einem Zustand intensiver Panik die Wohnung ... der Krankenstation zu, ... immer noch schreiend, stürzte ich ... die zum Arzt hinaufführende Treppe hoch und schrie: Ich habe Hélène erwürgt ... "

Althusser erhielt vom herbeieilenden Arzt eine Beruhigungsspritze; er war wie umnachtet, kam erst in der Heilanstalt Saint-Anne wieder zu Bewußtsein. Drei Polizeipsychiater, in Schwarz gekleidet, verhörten ihn aber erst Tage später. Der Untersuchungsrichter brachte kein Wort aus ihm heraus. Und er wurde wieder mit dem Psychopharmaka IMAO und 12 Elektroschocks behandelt. Behandelt mit dem "kleinen Tod", wie er schreibt. Und einmal pro Woche besuchte ihn auch sein Psychoanalytiker. Im Juni 1981 wurde er in die Heilanstalt Soisy überführt und blieb dort bis Juli 1983. Er hatte oft Besuch von Freunden. Er schien wieder völlig normal und wurde 1983 aus der Heilanstalt entlassen.

Er lebte noch zehn Jahre - ohne Öffentlichkeit, in einer erschreckenden Normalität als Privatmann und schrieb 1985 seine Lebensbeichte, die aber erst 1992 nach seinem Tode erschien. Er starb 1990 an Herzversagen.

Das Jahr 1989 hat den Kommunisten und Denker Althusser als FALL der Selbstauslöschung wieder äußerst interessant gemacht.

Der Philosoph Louis Althusser weiß bis zu seiner Lebenskrise wenig über die Abgründe seines Lebens, er schiebt sie weg, diese Abgründe, daß er nicht einmal den Mord erinnert, - dieser tiefe Schlaf des Bewußtseins ist ein Symptom ... Alles ist von einer festgefahrenen fixen Idee überdeckt worden, die ihn vor den eigenen Abgründen und Krankheiten schützte. Als diese Verdrängungsmaschine zerbricht, kommt der Wahnsinn hoch. Erst als er sich davon befreit, sich als Scheinwesen, als Selbstkonstruktion auslöscht, erst nach dieser gräßlichen Selbstbefreiung durch Mord, beginnt er zu leben und zu lieben. Er sieht sein letztes Buch, das wichtigste, das er geschrieben hat, als Ersatz für seinen Prozeß als Mörder, er klagt darin sogar, daß er als Patient - wegen Schuldunfähigkeit - keinen Prozeß erhalten habe. Ja, daß er über Hélène, natürlich nur von "ihrem Standpunkt aus" schreiben wird: Höhepunkt der Heuchelei. Denn er war froh, dem Prozeß durch die Internierung entkommen zu sein.

Die "Krise des Marxismus" bestimmte sein Denken, ruinierte seine Gesundheit.

Frühjahr 82 in der Heilanstalt Soisy, wohin Althusser im Juni 81 mit dem geschlossenen Krankenwagen und unter Bewachung überführt worden war; auffallend ist der große grüne Fleck, Park genannt, das Gras wie geschoren: Null, überall die weißen Gestalten der Patienten, und die blütenweißen Pavillons zwischen hohen Bäumen, im Pavillon Nr. 7 jener Mann, den sie für einen Mörder halten. Althusser hatte nun alles hinter sich und nichts mehr im Sinn, angestrengt zerfurchtes Gesicht, über dem eine tiefe Dunkelheit lag, Nacht, schwer, die versuchte, ihn zu verschlucken, Wachheit eine Leistung, umschattet die Augen, die müde waren, alles müde und angestrengt da, nur der Mund bewegt, die Rede, Worte zwischen dem Zigarettenstummel, der immer brannte, die Hände mit einer abgenommenen Brille über dem Tisch, die Hände sehr alt, auch der Anzug dunkel, fast schwarz über der abgemagerten Gestalt, fast eng der Brustkorb, asthmatisch, das Hemd weiß mit offenem Kragen, sieben tiefe Falten auf der Stirn, hochgezogen darunter die umschattenen Augen, Brauen hoch, als wäre er ein zum Tode Verurteilter, der überlebt hatte, so kam er sich vor, die Hände um den eigenen Hals, du mußt nur zudrücken, dachte er; redete und redete - nur vom Selbstmord, ein Vortrag. Und auf die Frage, ob er sich unglücklich fühle, frappierende Antworten. Merkwürdige Erinnerungen an das relative Glück während der Internierung in einem deutschen Gefangenenlager während des Krieges, Glück des geschlossenen Raumes, geordnet und perfekt: "Einheit, wie ich sie zum Glück auch in der Heilanstalt, oft wegen Geschütztseins erfahre, schönes Ausgelöschtsein, endlich Nichts sein ... im leer summenden Raum der Krankenstation ... "

War dies hier ein lebender Toter, atmend, der verzweifelt versuchte, endlich sterben zu dürfen, zu entkommen, das zu sein, was er wirklich war. Ich stelle mir vor: Gottseidank ist Etienne Balibar, Althussers Schüler und Freund dabei, zusammen mit Althusser hatte er "Das Kapital lesen" geschrieben: "Althusser hat schon 1977 auf einem Kongreß in Venedig zum Thema Krise des Marxismus mit beißender Ironie alles von ihm Gedachte lächerlich gemacht; Lenins Lüge vom Primat der Politik, des Staates, der Diktatur z.B., oder von der Partei müsse den Arbeitern, in deren Wut und Elend, Schmerz und Misere, Bewußtsein, Geschichte, Theorie aufgezwungen werden." Das Revolutionäre an Herrn Marx war für ihn, daß er "Proletarier geworden" sei, welch falsches Bewußtsein: Von den Kommunisten aber sei doch immer nur das schlechte Gewissen der Intellektuellen ausgenützt worden, die Gewissensbisse, besser zu leben, denkend: luxuriös über alles hinwegfliegend - am Blindenstock der Feder, Luxus, im Verhältnis zum Elend der Proletarier, auch Marx sei kein Proletarier gewesen, klar. Und nie hätten die KP-Eliten auf die Leute gehört, sie nur verachtet, sie und die Denker nur für ihre Macht ausgenützt.

Tabula rasa, dies ist tatsächlich Althussers Leistung gewesen ... Doch niemand hat damals schon (1972) diese vorausgeworfenen Zeichen gesehen. Es war eine Befreiung in die Anonymität: der berühmte Marx-Theoretiker und Professor hatte sich schon 1980 selbst ausgelöscht, sich die Maske vom Gesicht gerissen.

War der Aufstand des Körpers eine Rache am Ideologen? Die Selbstauslöschung äußerte sich schon früh als Verworrenheit. Althusser tat, dachte und schrieb peu à peu das Gegenteil von dem, was er bisher getan, gedacht, geschrieben hatte; eine Art langsamer Selbstverrat; Etienne Balibar gibt in seinem Buch "Ecrits pour Althusser" ein krasses Beispiel, Althusser habe für einen Kongreß in Tiflis schon 1979 einen Vortrag geschrieben: "Die Entdeckung des Dr. Freud", der fast mit den gleichen Sätzen wie im Aufsatz "Freud und Lacan" das Gegenteil von dem behauptete, was in "Freud und Lacan " stand! Die Freunde waren entsetzt über diesen Selbstverrat, die Freunde warnten ihn. Und: Er hat sich dann selbst in seinem letzten, dem Bekenntnis-Buch über den Mord an seiner Frau, als Denker-Scharlatan eingestuft. Die Krise begann zwischen 1976 und 1980. Zweifel und Schwäche. Zweifel an der Theorie, an der Revolution, am Marxismus hatten diese Symptome ausgelöst. - Der Marxist Althusser geht so weit, auch den offiziellen Marxismus zu den "ideologischen Staatsapparaten" zu zählen.

Althusser hatte 1967 mit der Partei gebrochen, und erklärt: "Mit der Partei ist der Punkt Null des Marxismus erreicht." Doch war er nicht aus der Partei ausgetreten; doch keiner könne ihm zum Vorwurf machen, er sei moskauhörig gewesen, schrieb er, und 1974 habe er anläßlich eines Philosophenkongresses entsetzt selbst erkannt, welch geistige Wüste die Sowjetunion sei. Krach mit der Partei in Paris sei die Folge gewesen.

Der Verrat an Marx durch das, was sich als seine "Realität" ausgab, wirkte natürlich zurück, das eine ließ sich vom andern kaum mehr trennen. Paradoxerweise wäre er als Marxist erst jetzt frei, jetzt nach dem Tode seiner "Realität", des Ostblocks. Etienne Balibar spricht in seinem Buch von drei möglichen Gründen für die Tragik Althussers, für die Selbstauslöschung des Marxisten Althusser.

1. Die eigene Psychose. Daß er nicht jener war, der er zu sein schien, sondern immer nur ein Scheinwesen. Die Ursache dafür ist tief, sie liegt in der Kindheit 2. Unmöglichkeit, die Krise des Marxismus zu lösen. 3. Viel wichtiger und weit über die Marxismus-Krise hinaus: die Krise des Fortschrittsgedankens und die allgemeine Krise des Denkens und der Sprache heute.

Im vulgären Marxismus ging es um eine gepanzerte Unwahrheit, die ja Staatswirklichkeit war und Ideologie, es ging um Anmaßung und Vorspiegelung falscher Tatsachen. Und doch blieb diese Krise des Marxismus Spitze des Eisberges eines verlorenen Vertrauens in den Begriff, das Wort, die Erkennbarkeit, Planbarkeit und Veränderbarkeit der Welt. Es ging in dieser Ideologie um den Versuch, das Wirkliche, den Einzelnen, alles, was außerhalb des Wortes und Begriffes existierte, auszuklammern, zu vergessen; dieser Verrat war besonders furchtbar im realen Sozialismus. Vielleicht ist es diese Erfahrung eines "theoretischen Antihumanismus" als Staatspraxis, also die Verhöhnung des Menschen, des Einzelnen, der nicht zählte, was wider die Natur ist, und sich dann rächte. 1989 haben Millionen Einzelne dieses "System" hinweggefegt.

Althusser: "Die Theorie von Marx geht nicht vom Menschen aus, sondern von der geschichtlichen Struktur der sozialen Beziehungen."

Erstaunt stellte Althusser fest, daß ihm seine eigenen Theorien im eigenen Leben, in der eigenen Krise zu nichts nütze waren!

Im Politischen wurde diese Theorie negativ und antihumanistisch, z.B. im Konzept "Klassenkampf", wo ja das Individuum nichts zählte, es war nur der Schauspieler seiner Herkunft; wohin das führte, wissen wir: die unzähligen Morde an Unschuldigen, die zu "Klassenfeinden" deklariert wurden, war die Folge!

Den realen Sozialismus hielt Althusser für einen "breiten Fluß" aus Scheiße. Am Ufer eine riesige Barke mit einem Steuermann, Staatsmacht und KP: Die strafen, kontrollieren. Drüben aber könnten dann alle im Paradies des Kommunismus aussteigen ...

Oh, sancta simplicitas. Dieses kritische Instrument Marxismus, auf den neuesten Stand soziologischer Forschung gebracht, das schärfste, das es gegen die Industriegesellschaft des Kapitals gibt, ist mit einer falschen Utopie tödlich gekoppelt, und hat zu schlimmsten Verbrechen geführt. Idealisierung der Menge und Masse, des "Proletariats" als Hebel zur Erlösung der Menschheit, die Marx mit der wissenschaftlichen Analyse verbindet, hat zum Wahnsinn des "Klassenkampfes" als Erlösungsinstrument und der Vergottung einer PARTEI und "Avantgarde des Proletarisats", der KP, geführt, die als "Instrument der Geschichte" die größten Bluttaten so rechtfertigen konnte.

Doch scheint Althusser auch seine eigenen Bücher unbewußt als Betrug angesehen zu haben. Merkwürdig, daß ihn nach der Veröffentlichung seiner Hauptwerke "Für Marx" und "Das Kapital lesen", Bücher, die ihn bekannt und berühmt gemacht hatten, heftige Depressionen befielen.

Hatte er sich nackt ausgezogen? Hatte er sich verraten, hatte er hochgestapelt, gelogen und etwas vorgespielt? Wer weiß. Er theoretisierte, weil er, wie er selbst schreibt: "Zur Liebe unfähig" war, diese Unfähigkeit steht jedenfalls im Zentrum seiner kranken Persönlichkeit, daher die "totalitäre Seele", das Überspringen von Gefühl und Realität. Wir wissen, wohl aus diesem Gefühlsmangel, aber auch, weil er ein "Anderer" sein wollte, als jener, der er eigentlich war, hatte er eine Professoren-Karriere gewählt, und hatte anfangs Erfolg als marxistischer Philosoph, in den Jahren um und nach achtundsechzig, als das Abstrakte, Nicht-Reale Hochkonjunktur hatte.

Und damit wären wir beim wichtigsten Grund der Selbstauslöschung: Sich selbst, den eigenen Namen, die falsche Person zu löschen.

Es ist so, als wäre das, was die bisherige Person - Louis Althusser ausmachte, Sartres fleischgewordene mauvaise foi, die Lebenslüge: Und dazu notgedrungen freilich die ewige Furcht, "entlarvt" zu werden. Als hätte es da ein SCHEINWESEN Althusser gegeben, eine Maske, hinter der er sich versteckte. Er selbst nennt es "Kunstgriffe der Verführung und des Schwindels". Er will sich beliebt machen, mogelt, schreibt schon in der Schule ab. Und besonders hochstaplerisch erscheint, daß er, als sein Hauptwerk "Das Kapital lesen" 1965 erscheint, wo er empfiehlt alles und Wort für Wort von Marx zu lesen, nur die Frühwerke kennt und nur den ersten Band des Kapitals; Resultat: eine Angstpsychose und schwere Depressionen überfallen ihn, so daß er schon 1965 in die Heilanstalt muß.

"Unglaubliches Entsetzen bei der Vorstellung, daß diese Texte mich vor einem denkbar größten Publikum ganz nackt zeigen würden,"schreibt der Meister: "ganz nackt, das heißt, so wie ich war, ein Wesen, das nur aus Kunstgriffen und Schwindeleien bestand. "

Er war auch rhetorisch ein Meister der Inszenierung und der Show. Des Scheins und Scheinens also! Doch der Betrüger ist nicht gewissenlos genug. Der "Wille zur Übertreibung", erscheint ihm als nichts anderes als der "Wille zur Selbsttötung". Aber auch diese ist wohl pathetisch gemeint, und kaum etwas von dem, was er sagt und schreibt ist wirklich zuverlässig den Tatsachen entsprechend, auch seine autobiographische Beichte nicht, in der er nicht Fakten, sondern Gefühle und Reaktionen auf Fakten vorführen will. Und er hat eine sehr intelligente Ausrede parat: alles, was wirklich zu sein scheine, sei ja nur Projektion, "Phantasma", Halluzination.

In einem geplanten Vorwort zu seiner Autobiographie hat Althusser sogar verkündet, daß er seine eigene Kindheit nicht so beschreiben wollte, wie sie war, auch die Familienmitglieder nicht so, wie sie gewesen waren: "Ich habe mich darauf beschränkt, über sie so zu reden, wie ich sie empfunden und gefühlt habe , eben wissend, daß sie genau so wie jede körperliche Wahrnehmung eine Projektion hätten sein können ... "
 
 

2

Gebannt im ideologischen Traum hatte er sich und sein Leben verloren, doch mit diesen "Ausreden" kommen wir zum ersten, zum tiefsten Punkt, zu Althussers Wunde, dem ersten Grund seiner Selbstauslöschung, einem familiären, ja, fast privaten Grund: Partei, Philosophie, Marxismus all dies ein Nichts im Verhältnis zur Hölle der Kindheitswirklichkeit und dann zur Hölle der Ehewirklichkeit im zerstörerischen Bindungs-Clinch in der rue d´Ulm /Paris: Hélène war seine Wunde, er die ihre; Hölle und Abgrund, diese Ehe. Zwei Persönlichkeiten, durch die Last ihrer Vergangenheit zu Seelenkrüppeln geworden, beide am Rande des Wahnsinns.

Hélène Rytman, in Paris geboren, acht Jahre älter als Althusser, stammte aus einer jüdischen Familie, die aus Galizien kam, von der Mutter gehaßt und als Kind zurückgestoßen, ohne Liebe aufgewachsen, als "kleines schwarzes Tierchen", wild, eine kleine Rebellin wuchs in ihr der Selbsthaß; Hélène, die sich als grauenhaftes Weib, als Megäre ansah, die von keinem Mann geliebt werden konnte, und mit zwölf Jahren vom Hausarzt gezwungen wurde, zuerst den krebskranken Vater, ein Jahr später die krebskranke Mutter mit Morphium zu töten, wurde auch noch von demselben Arzt sexuell mißbraucht. Althusser lernte Hélène 1946 im Ambiente einer Partisanenfamilie kennen; er wurde angerührt von der Hilflosigkeit der kleinen Jüdin und von ihrer Leidenschaftlichkeit und Tapferkeit: er war beeindruckt von ihren Erzählungen aus der Résistance, in der sie militärische Verantwortung getragen hatte, Taten, zu denen er, wie er sich sagte, zu feige und sicher nie fähig gewesen wäre; diese gewalttätige Kriegswelt, kam ihm als Steigerung der fordernden und banalen Wirklichkeit vor, in der er sich immer hilflos ausgeliefert vorkam; er war vor dieser zähflüssigen Realität in den Begriff, in die Philosophie geflüchtet. Im Kreis der Résistance-Genossen Hélènes aber fand er: "Solidarität und Kampf, eine Welt der Aktion, aufgebaut nach den großen Prinzipien der Brüderlichkeit, eine Welt der Tapferkeit. Und jetzt wurde ich durch Hélène mit einem Schlag nicht nur all diesen Widerstandskämpfern gleichgestellt, ... sondern war auch noch und für lange Zeit unendlich viel höhergestellt als die armen Normalmenschen, die mich niedergehalten hatten mit ihrer Jugend ... "

Doch genau diese so fiktiv angeeignete Jugend, mußten beide schwer büßen. Es war eine Neuauflage des Mutterkomplexes Althussers, denn Hélène wurde nun für ihn "die gute Mutter", ja sogar der gute Vater, acht Jahre älter als er, liebte sie ihn wie ihren "eigenen", "wunderbaren" Sohn.

Er war von Kindheit an immer der "andere", nie er selbst gewesen, und jetzt war er ein falscher Mann-Sohn. Seine Mutter liebte in ihm den im Ersten Weltkrieg gefallenen Geliebten, der Louis hieß, und dessen Namen Althussser von ihr bekam. Wenn er Louis gerufen wurde, hörte er LUI: ER! Die Mutter heiratete den ungeliebten Bruder des Gefallenen.

Und Althusser selbst schreibt darüber: " ... lui (er), jenes Pronomen der dritten Person, das, wie ein Aufruf eines anonymen Dritten klang, mich jeder eigenen Persönlichkeit beraubte und auf jenen Mann hinter meinem Rücken anspielte: Lui - das war Louis , mein Onkel, den meine Mutter liebte, nicht ich. Dieser Name war der Wunsch meines Vaters, im Angedenken seines Bruders Louis, gefallen vor Verdun, doch es war der Wunsch vor allem meiner Mutter, in Erinnerung an jenen Louis, den sie geliebt hatte und den sie auch ihr ganzes weiteres Leben nicht aufgehört hat zu lieben. "

Wer nicht geliebt wird, kann nicht lieben, wer nicht angeschaut wird, ist absent; und Althusser bekennt seine Liebesunfähigkeit, daß er "gleichsam fühllos für die andern, für ihre Liebe" war, die unpersönliche Liebe seiner Mutter, die nicht ihm galt, ihn negierte, habe ihn unfähig gemacht, für andere zu existieren, ja, er sei "ohnmächtig in seinem eigenen Körper", den er nicht bewohnen konnte, als habe sie ihm diesen weggenommen, amputiert, und als Versehrter habe er über die "Seinsmacht" nicht verfügen können, zu geben.

Wer kennt sie nicht die Verbote, die frühere Generationen so kastriert haben, denn sie, seine Mutter sei schmallippig und fühllos gewesen, mit Kasteiungen, erlernten Verboten quälte sie den Sohn. Am schlimmsten war das bei der ersten heftigen Liebesregung von: Louis, LUI! Es war eine heftige Leidenschaft für die schwarzhaarige Simone, der er Sand zwischen die Brüste rieseln ließ, der Sand rieselte bis zum Bauch, erreichte den Venusberg, und Simone spreizte die Beine, er konnte das Gekräusel und den Spalt des "Rosa Alpenveilchens" sehen. Die Mutter aber stellte ihn zur Rede, verbot ihm den Umgang, es war "nicht schicklich", die Mutter hinderte ihn daran, Simone zu sehen; gleichzeitig nahm sie den Sohn in Besitz, wühlte in seinem Bettlaken, fand Spuren von Pollutionen, nahm einmal sein Glied in die Hand. Er nennt es "Vergewaltigung".

Wir kennen die Abgründe dieser autoritären "Erziehung" der Großelterngeneration. Adorno, Sigmund Freud, Wilhelm Reich haben sie analysiert. Bei den Deutschen hat diese Erziehung mit zur Nazi-Katastrophe geführt.

Althusser baut auf diese intimen Gewalterfahrungen seine etwas kurzschlüssige Theorie von dem Unterdrückungssystem in der bürgerlichen Gesellschaft auf:

"Einige gewalttätige Formen, die ich einmal ideologische Staatsapparate genannt hatte, haben mir in meinem Leben viel zu schaffen gemacht; zu meiner großen Überraschung, ersparte mir die Tatsache, daß ich einiges von ihnen begriffen hatte, nicht, daß sie mich ebenfalls zutiefst bestimmten. "

Das verbogene Unterbewußtsein, seine geballte Macht beherrscht schon bei Freud, neben Marx der zweite große Lehrmeister Althussers, das Theater des Sichtbaren und die kleineren Machtspiele auf der Szene. Durch Unterdrückung des eigenen Willens, des Ich, der Liebesfähigkeit, lernt man sich in der Gesellschaft "realitätsgerecht" zu benehmen, zu handeln ... Eine harte Schule, eine harte ungerechte, gespaltene und gesichtslose Wolfs-Gesellschaft:

" ... (für) die Wiederherstellung dieser Unterwerfung unter die Regeln der etablierten Ordnung ... (sorgen) die Schule (aber auch Institutionen des Staates wie der Kirche oder andere Apparate wie die Armee) lehren diese ´Fähigkeiten`... "

Nach dem Mord an Hélène, spricht Althusser nur noch von Zerstörung, da er hineingewachsen war von Kind an in diese Lebenslüge, er: ein soziales Phantom, wie jedermann, nur er, - er meinte sich dessen bewußt zu sein, ein lebenslanger Selbstbetrug - bis hin zum letzten tragischen Akt:

" ... weil ich ja inzwischen sogar das Mittel gefunden hatte, zu existieren - als Lehrer, Philosoph und Politiker (doch) die oft wiederholte Zwangsvorstellung kehrte wieder, daß ich nichts anderes war als eine Existenz aus Kunstgriffen und Schwindeleien ... nichts Authentisches, also nichts Wahres und Wirkliches. und daß mir der Tod von Anfang an einbeschrieben war: der Tod jenes Louis, des Toten hinter mir, den der Blick meiner Mutter durch mich hindurch fixierte ... als greifbaren Beweis meiner Nicht-Existenz hatte ich verzweifelt alle Beweise meiner Existenz zerstören wollen ... " Er war so überzeugt davon, daß die soziale, die familiäre, die politische Welt eine Masken-Welt der Toten sei, daß er seine ganze Philosophie darauf aufbaute, die Maske aber "Ideologie" nannte. Doch die beiden Sphären, das Intime und das Allgemeine sind schwer, oft nur gewaltsam zu verbinden. Das wirklich Erlebte, Intime ist stärker, glaubwürdiger: Schon als Kind im Schatten eines Toten, kämpft Althusser mit einem Toten um seine Mutter, er sei "vaterlos" auf die Welt gekommen, habe sich selbst erschaffen müssen, sagt er, und das mißlang. Wie sollte man sich auch (mit Philosophie, gar mit Parteihilfe, Marxhilfe) selbst erschaffen können? Doch es gibt eine abgründige Erklärung dazu, die einen erschreckenden Hintergrund mystischer, autistischer oder kindlicher Omnipotenzgedanken bloßlegt: - Althusser war, bevor er Marxist wurde, überzeugter Katholik:

" ... daß ich die Trauer, die ich um Hélène trug, nicht erst seit dem Tod (der Zerstörung Hélènes) abarbeitete, sondern seit jeher. Tatsächlich hatte ich immer Trauer um mich selbst getragen, um meinen eigenen Tod durch meine Mutter und zwischengeschaltete Frauen ... diese Trauer habe ich zweifellos in ... regressiven Depressionen erlebt, die ... eine widersprüchliche Art und Weise waren, für die Welt in der Ausübung der Allmacht zu sterben ... die totale Unfähigkeit, in allem und jedem gleich allmächtig zu sein. Immer die schreckliche Zwiespältigkeit, deren Entsprechung man übrigens in der christlichen Mystik des Mittelalters findet: totum=nihil. "

Doch diesen Kampf er selbst zu sein, also wirklich zu sein, diesen Kampf führte er überall, er führte ihn auch in der Schule, wo er die Lehrer als Väter ansah, die er aber beherrschen müsse. Die Kastration des Natürlichen zwingt ihn andauernd zum Unnatürlich-Sein, zur Maske.

Um die Beziehung zu einem "abwesenden Vater" zu regeln, habe er sich "einen imaginären Vater " gegeben, habe er den eigenen Lehrern zwar nichts beibringen können, doch für sie die "Verantwortung übernommen", so als mime er das Verhalten seines Vaters gegenüber der Mutter und der Schwester, um "die zu kontrollieren, zu überwachen, zu zensieren." Der autoritäre Charakter, Frucht der Erziehung, kam durch. Wobei er sich mit allerlei "Kunstgriffen" zugleich Lieb-Kind bei den Lehren machte: um sie zu "verführen": Er ist sich kaum bewußt, daß sich aus diesem Vater- und Herrschaftswahnsinn seine "totalitäre Seele" aufbaute.
 
 
 
 

3 Als Alibi diente ihm die Philosophie: "Da sogar die größten Philosophen ohne Vater geboren wurden ... und da ich keinen Vater hatte, wurde ich ´Vater des Vaters`, Selbstvater, Eigenvater ... die Beherrschung mit Hilfe der Sprache und des Begriffes ... als wäre unsereiner ein allmächtiger Vater und auch verantwortlich für alles ... "

Trotziger Größenwahn: Das typische "Alleswissen", die infantile "Beherrschung des Ganzen", jene "totalitäre Seele", das Fatalste, was die untergegangene Weltbeherrschungs-Ideologie zu bieten hatte. Althusser sagte sogar, daß er die Weltbeherrschung in der Theorie zumindest mit angestrebt habe: "Die Führungsrolle in der Geschichte der wirklichen Welt." Diese Überhebung, ja, dieser Größenwahn, der Anspruch, die Welt total im Griff haben zu können, sie auch verändern, ummodeln zu können nach eigenem Plan, führte ihn auch in die Falle der KP, von der er hoffte, daß sie seine Einmaligkeit als Philosoph garantiere, nämlich daß die KP als eine politische Macht die Theorie, seine eigene, direkt in Wirklichkeit umsetzen könne. So etwas habe es in der ganzen Philosophiegeschichte noch nicht gegeben, schrieb er stolz. Dies führte natürlich zu andauernden Reibungen mit den Dogmatikern. Daß er sich mit den Geschichtsfälschern eingelassen hatte, ja, auch sein Allmachtsdenken kam letztlich aus seiner Menschenferne und Fühllosigkeit. Doch oft spricht auch der Größenwahn eines autoritären Autors aus Althusser, oder ist es schon der Größenwahn des Paranoikers, wenn er von der Einsamkeit des Denkers spricht, Cartesius, Kant, Kierkegaard, Wittgenstein als Kollegen der Einsamkeit anspricht, und sich um die große Verantwortung sorgt, was die Wirkung seines Denkens betrifft. Denn, er ist einzigartig, er hat keine Vorläufer und Meister gehabt, seine Ideen wirken direkt über die Partei in die Realität, glaubt er.

Gefährlich war das eigene Unbewußte, und eine eigensinnige Ichbezogenheit; 1968 hatte er den gefühligen Humanismus der KP abgelehnt, und war stolz: endlich allein Recht gegen alle gehabt zu haben. Er vollbringt das Kunststück, sich an die, den Menschen ausklammernden Marx-Fundamente halten zu wollen, so sein eigenes leidvolles Ich auszuklammern: "Die Gesellschaft setzt sich nicht aus Individuen zusammen, sondern aus Beziehungen ... " Andererseits in seinem Denken fast autistisch zu sein: "Allein verantwortlich, hatte ich endlich den Bereich meiner eigenen Initiative gefunden, wo ich meine eigenen Wünsche verwirklichen konnte, zumindest den Wunsch, endlich einen eigenen Wunsch zu haben ( ... es war erst die leere Form eines Wunsches, und diese leere Form des Wunsches für einen realen Wunsch zu halten, war genau mein Drama, aus dem ich als Sieger hervorging, aber nur im Denken, im reinen Denken), wie in einem Schicksal ... Erfüllung des reinen Wunsches meiner Mutter ... "

Zugleich aber strebt er nach der Entlastung im Inkognito und im "Anonymen": Und er wolle anonym und namenlos sein, sich auslöschen. Vielleicht war er ein Solipsist, der meinte ganz allein zu sein, sich und die Welt nur zu träumen, die ihm so zusetzte - als eigener Alptraum, eigene Projektion; er hat es auch mehrfach theoretisiert. Nämlich daß Welt, wie sie sich uns darstellt, das ist, was Erkennen aus ihr macht. Das Ich ist immer eine Filmkamera und kein Spiegel. Man ahnt, wie nahe am Unausdrückbaren diese Auffassung ist; Althusser verehrte Spinoza, ging von einem innern Kraftzentrum aus, das diese "Filme" abrollen läßt, dem er sich selbst überläßt, er bringt dafür als Beispiel - die Wachheit der Katze: Diese Weigerung, Störungen eines innern Schwingungszustandes auch nur wahrzunehmen, dann aber plötzlich wie ein Blitz aus tiefster Bewußtlosigkeit aufzuspringen, mit einem Biß oder mit einem Pfotenschlag, die Ruhe zu verteidigen, und dann wieder dem stillen Grund des Nichts zutreiben zu können im fragilen Schwingungszustand des möglichen Glücks, kommt aus tiefster Irritation, im Eigenen gestört zu werden durch Menschen, durch äußere Geschehnisse, andauernde Vergewaltigungen. Autismus? Aufschlußreich ist, was Annie Leclerc in einer Sondernummer "ALTHUSSER" des "magazine littéraire" über das Wahnsinnsverhältnis zu seiner Frau Hélène schreibt: "Der stärkste Wunsch, der konstanteste, der unveränderlichste, der pathetischste Wunsch Althussers war: in der Stille zu wohnen bis ans Ende aller Zeiten, unbeweglich, entkörpert, verschlossen im Herzen der Fleisch gewordenen Wahrheit, der Kirche, Hélènes, der Partei, der Gesetze, Gottes ... "

Denken habe er schon lange nicht mehr gekonnt, schreibt er nach dem Mord an seiner Frau: Denken - Diese Anmaßung sei erledigt gewesen: "In seinem Denken drückt der Philosoph, so hat es Marx gesehen, die theoretische Beziehung zu sich selbst aus." Und nun gab es keine Beziehung mehr. Der Selbstvater war tot. Denn sein eigener Vater sei ja er, Louis Althusser gewesen, von Kindheit an. Das war jetzt aus. Als sei nach dem Tode Hélènes nicht nur "die gute Mutter" gestorben, sondern auch dieser Selbstvater, an den er und alle eine Zeitlang geglaubt hatten. Hélène war seine neue und "gute" Mutter gewesen, eine Art Inzest, denn zugleich liebte sie ihn "als Mann", der er ja gar nicht war. Er habe nicht lieben können, und die Liebesunfähigkeit führte er wieder auf Kindliches zurück. Und auf Peinliches, auf Allzuintimes: im Dunkeln (im Bad) habe sein Vater versucht, ihn sexuell fit zu machen, anscheinend hat aber auch die Mutter "Hand an ihn gelegt" ... , ihm "den Sex enteignet". Es ist schon peinlich und erstaunlich, was für Ausreden er für seine Unfähigkeit zu lieben vorbringt. Hélène aber, die sich als die häßliche Megäre und nicht für liebenswert hielt, wollte geliebt sein, und war zu Recht voller Ängste, von ihm nicht geliebt zu werden: " ... Auf meinen ohnmächtigen Willen zur Liebe antwortete nur ihr wilder, hartnäckiger und heftiger Komplex, zu wissen, nicht geliebt zu werden, weil sie es nicht verdiene ... Verstrickung in Wut, Haß und wechselseitige Zerfleischung ... "

Er aber fürchtete, von ihr verlassen zu werden. Schuf sich eine "Reserve von Frauen", die sie - als Mutter? - begutachten mußte. Ein sadomasochistischer Zauberzirkel ohne Ausweg, Verletzungen, Kränkungen, Streit ohne Ende. Sie bat ihn, ihr seine Affären zu verschweigen. Er tat es nicht.

Aufstand gegen seine Mutter, die verboten hatte, den Körper oder den Besitz anderer Leute zu berühren?

Stolz zeigte er im Sommer, es war in der Bretagne, Hélène seine Stranderoberungen, und das war genau zu jener Zeit gewesen, als er sich mit dem Gedanken an einen großen Bankeinbruch trug. Später dann in Saint-Tropez hatte ihn ein Freund mit einer jungen Schönen besucht, dem hatte er ein Manuskript zum Lesen gegeben, und sich auf das Mädchen gestürzt, sie in Gegenwart von Hélène geküßt und ihr Bauch, Brüste und Scham gestreichelt, halb erschrocken, halb geschmeichelt hatte sie es sich gefallen lassen; dann habe er sie an den Strand eingeladen, in eine kleine Bucht, erzählt er, und die sei an dem Tag völlig leer gewesen, da an jenem Tage ein kräftiger Westwind die Leute vertrieben und das Meer aufgewühlt hatte; er habe sie aufgefordert sich nackt auszuziehen; und er selbst nackt, sei, vor Hélènes Augen ins stürmische Meer hinausgeschwommen, dort mitten in den Wellen habe er die Neue, die sehr entgegenkommend und noch geiler war als er, geliebt, und sie seien dann weiter hinausgeschwommen, bis sie dann plötzlich erkennen mußten, daß eine Strömung sie weiter hinauszog; Hélène aber sei am Strand schreiend und sich die Haare raufend auf und abgelaufen. Zwei Stunden kämpften sie mit den Wellen, und nur dem jüngeren und kräftigeren Mädchen, die eine gute Schwimmerin war, hatte er sein Leben zu verdanken; nun, er war schließlich über sechzig Jahre alt.

Dazu aber kommt noch eine Art politische Sentimentalität und ein Intellektuellen-Schuldbewußtsein, das er auf unerträgliche Weise mit den persönlichen Komplexen vermischt. Vielleicht gehört diese Rührseligkeit, mangels starker Gefühle, mit zu den Motiven, weshalb er an Hélène, der Jüdin, Partisanin und Roten so hing, ja, warum er ein "fortschrittlicher" Mensch geworden war: Er fand Hélène dann in Tränen aufgelöst und wie eine Alte dahocken, zitternd und sichtlich in einer hysterieähnlichen Krise. Rühr mich nicht an, oder ich schrei um Hilfe, hau ab mit deiner Hure, ab, fort. Und heulte wieder und schrie los. Er habe das Mädchen fortgeschickt, sie auch nie mehr wiedergesehen. Erst nach zwei Stunden sei sie, Hélène, wieder zu sich gekommen und endlich mit nach Hause gekommen. Nun sei da aber noch etwas anderes in jenem versteinerten, bis zum Wahnsinn schönen, vor Schmerz transparenten Gesicht gewesen, ja, alle Toten, die im Krieg von den Nazis umgebracht worden waren, schienen da mit aufzuscheinen ... dieses sei im Gesicht der Jüdin Hélène eingeschrieben gewesen ...

Wieder erscheint dieser Marxist und Kommunist als der subjektivste Mensch, fast als Autist. Ja, sogar seinen Marxismus leitet er aus seiner Intimität ab, in seiner papierenen Sprache klingt das dann so: "Und was meine Beziehung zum Marxismus betrifft, ich meine, da sehe ich erst jetzt klar. Auch in diesem Fall handelt es sich nicht um Objektivität, die ich beschreiben könnte, als vielmehr um mein Verhältnis zu einem oder zu mehreren objektiven Objekten, um meine Beziehung zu einem ´objektuellen` Objekt, d.h. einem unbewußten , inneren ... " Dieses seltsame "objektuelle" Objekt ist letztlich die verquere platonisch-inzestuöse Mutterbeziehung. Ein "Augenkind ohne Körper", sagt Althusser selbst, sei er gewesen: er solle alles nur aus der Distanz des Sehens wahrnehmen, wollte ihm seine Mutter wie einen Klosterzwang antun, wahrzunehmen nicht mit den Händen, die Dinge nicht direkt zu berühren, war der Wunsch der sexfeindlichen, körperfeindlichen Mutter, der Reinheitsfanatikerin; so blieb Althusser ein lebenslanger Voyeur.
 
 

4 Die Frage kommt von Spinoza, nicht von Marx: Warum kämpfen die Menschen für ihre Knechtschaft, als wäre es ihr eigenes Heil? Dieses ist der Ausgangspunkt seiner Theorie. Nämlich die "Ideologischen Staatsapparate": Familie, Schule, Medien, Kirchen, Justiz usw., die dieses Gift der Verbote verwalten, es aber ins Unbewußte jedes einzelnen als Zwänge hineinsetzen. Nach dem Mord an seiner Frau verkündet er, ein "Bekenntnis" zu seinem Fall vorzulegen, "einmalig in der abendländischen Geistesgeschichte" - denn, so das Vorhaben, es sollte seine Theorie der "ideologischen Staatsapparate" nun mit Material aus seinem eigenen Fall angereichert und bewiesen werden. Und das ganze Buch erscheint wie eine Liebeserklärung an Hélène.

Im März 85 beschließt Althusser, seine Lebensbeichte zu schreiben, sammelt Zeitungsartikel über den Skandal vom November 80, befragt Freunde und seine Ärzte, den Analytiker, den Psychiater, notiert alles auf Merkzettel, schafft eine reiche Dokumentation zu seinem Fall, um seine rätselhafte Amnesie, das totale Vergessen des Mordmoments, das ihn quält, aufzuheben. Und in sechs Wochen schreibt er das Buch nieder: "Die Zukunft hat Zeit". Ist es eine Autobiographie, ein Familienroman, eine Beichte. Die Herausgeber schreiben:

"Die Geschichte, die er erzählt, ist eine Geschichte seiner Affekte, die seiner Phantasmen ... Wenn wir mit diesen ... Texten in die Schrift der Phantasie eintreten, in die der Halluzinationen, dann deshalb, weil ihre Materie die des Wahnsinns ist ... wir stehen hier vor einem Zeugnis des Wahnsinns, doch im Gegensatz zu den ´nosographischen Dokumenten`, den ´Denkwürdigkeiten eines Nervenkranken` des Präsidenten Schreber, die Freud studiert hat, oder die des Pierre Rivière (Mörder seiner Mutter, seiner Schwester) untersucht von Michel Foucault - erleben wir mit, wie ein Intellektueller, mit einer außerordentlichen Intelligenz, von Beruf Philosoph, seinen eigenen Wahnsinn erlebt."

Althusser hat sich angestrengt, er hat geheuchelt, er wollte ein ANDERER sein. Etwas, das er nicht war. Auch nicht die reine Figur, der Keusche, der er der Mutter zu Liebe sein wollte. "Die schmutzigen Hände, der Schmutz waren die Phobie meiner Mutter, und daher bekam der Schmutz eine Art Faszination für mich ... Das Auge ist ... seit Platon, Aristoteles, dem Thomas von Aquino und bis heute das spekulative Organ par excellence."

Die Mutter des Philosophen - Und die Mutter der Philosophie - die reine Idee: Haar und Schmutz schied Platon aus der Idee aus. "Ja, ich habe erfüllt, was sich meine Mutter seit unvordenklichen Zeiten (das Unbewußte ist zeitlos) von der Person jenes anderen Louis wünschte und erwartete - und ich habe es getan, um sie zu verführen: die Verständigkeit, die Reinheit, der reine Intellekt, die Entkörperlichung, der Erfolg in der Schule und zu guter Letzt eine `literarische´ Karriere ... "

Reinheit schafft er nicht. Er weiß bis zu seinem 27. Lebensjahr nichts vom Sex, und als er das erstemal onaniert, wird er ohnmächtig. Nach dem ersten Beischlaf, mit dreißig! fällt er in eine schwere Depression und kommt zum erstenmal in die Heilanstalt. Es war natürlich Hélène, mit der er zum erstenmal schlief. Ein Gefühl des Ekels, taub und stumm, doch gewalttätig habe in ihm gearbeitet ... Die Tage vergingen, und die Depressionen nahmen zu. So kam es zu einer längeren Zwangseinweisung mit Elektroschocks, die der berühmte Analytiker Pierre Male verordnet hatte. Furchtbare Zuckungen und Aufbäumen des Körpers mit Schaum vor dem Mund. Ein kleiner Tod auf Raten. - Die Angst und Aggression gegen Frauen habe zugenommen .

Hélène treibt (ohne sein Wissen) ab. Und er sieht dies sogar als Opfer für ihn an. Das bezahlt er bitter. Es entstand zuerst ein schönes, aber kompliziertes Verhältnis. Sie kümmerte sich mütterlich um ihn in den Phasen seiner Depression. Wenn er gesund war, betrog er sie. Sie rächte sich dafür, nützte seine Trennungsängste aus, verschwand tagelang ohne Adresse.

Die Florentiner Analytikerin Giuliana Kantza, ehemalige KPI-Intellektuelle, schreibt in einer Arbeit über Althusser:

"Die erste Krise ist die, den Sex zu negieren, die wirkliche Zeugung, Ekel, Ausbruch, als wäre es ein Verrat an der Mutter: Reinheit, also Unfruchtbarkeit. Und Hélène als Mutter, er das Kind. Althusser wird nie Vater. Bleibt Selbstvater. So blieb dieser Akt des Todes wie ein Zeugnis: zwischen einem Mann und einer Frau die Unmöglichkeit zu lieben, hier, ins Extreme getrieben, die Passion des Hasses. Weder er, noch sie wollten etwas wissen von ... der Unmöglichkeit den Andern zu lieben."

Das, was jeden Moment geschieht, gehorche einem geheimnisvollen Zwang alltäglicher Wiederherstellung, sagt Althusser, er spricht von "Wiederholungszwang", der immer gleichen Bedingungen für diese bestimmte, von Interessen beherrschte Lebensform, wo jeder durch Erziehungsmaßnahmen, die er selbst erlitten hat: der Andere, der Fremde wird, nie er selbst! ... Das Bewußtsein der inneren Zwänge dieser Lebensform sei uns entzogen; es scheint meist so, als hätten wir das was wir tun, auch immer selbst gewollt! Familie und Schule seien dafür die Hauptverantwortlichen. Versuchte er sich die Herstellung der banalen Wirklichkeit als Zwang vorzustellen, da er selbst in hohem Grade lebensuntüchtig war? So war ihm der Gedanke an winzige Banalitäten des Alltags ein alptraumhafter Horror: Einkäufe, Putzfrau usw. Die Klinik, die Philosophie sowieso, waren Fluchtorte vor den Widrigkeiten des Banalen. Die Anstrengung, sich Essen machen zu müssen, einzukaufen, gar einen Umzug mit all den Büchern zu bewältigen, ja, mit der Putzfrau zu verhandeln ... die Angst allein zu bleiben ... setzten ihm zu. Und anfangs in der Heilanstalt habe er alles "verloren", das Nachthemd, die Schuhe, die Brille, den Schlüssel vom Schrank, das Unterhemd, kunterbunt und durcheinander, und sei eine Art Konversion einer völlig andern Abwesenheit gewesen, der von Hélène, die schließlich die Abwesenheit seiner Mutter gewesen sei, und so verlor er alles, weil er alles verloren habe, nicht nur das eigene Leben, nein, alles, und habe es auch radikal darauf angelegt, es zu verlieren, so daß Nichts geblieben sei ... Haft, in der Fremdheit der äußeren, auch der inneren Natur als Zwang eine "Evidenz" anzuerkennen, eine sichtbare Wirklichkeit, die auswegslos erscheint, wie der eigene innere Zwang zur Unfreiheit (alles ist so wie es ist!). Als wäre der Böse am Werk, der das täglich herstellt!

"Die hartnäckigen Evidenzen ... vereinen sich so sehr mit unserem alltäglichen ´Bewußtsein`, daß es äußerst schwierig ist, um nicht zu sagen fast unmöglich, sie als Wiederherstellung (eines Status quo) zu erkennen." (Das Kapital lesen, 1965.)

Nämlich zur Erkenntnis zu kommen, daß diese "hartnäckigen Evidenzen" nichts Äußerliches sind, sondern unsere eigene Projektion, Projektion von fertiggemachten Seelen, die von einer Art "downer - programm" beherrscht werden: das sich täglich durch unser aller Unbewußtes wiederherstellt. Bei ihm andauernd in einer Angstpsychose. Dieser Schauspieler des Unbewußten wurde, so meint Althusser: beeinflußt, geformt mit Hilfe der in diese intime Sphäre hineinreichenden tiefen Sonden von Erziehungsmaßnahmen und Zwang in Familie, Schule, Betrieb etc., das unser Handeln lenkt. Und Millionen Schauspieler der Gewohnheit erschaffen gemeinsam jeden Tag, jede Stunde dieser äußeren Banalität - nicht neu, sondern ALT und wie gehabt. Als wäre es ein negativer Welterschaffungsprozeß. Und ein böser Dämon am Werk.

Es stimmt schon: Wir selbst sind blind in der geschaffenen Gewohnheit. Staunen, so meint auch Althusser, es ist ja eine alte Überzeugung der Philosophie: Staunen erst wäre die plötzliche Wiederkehr verdrängter Wahrheit, ein Aufheben des Selbstvergessens ... Auch wenn es durch Schrecken geschieht. Blindheit wird dann aufgehoben, Blindheit auf der unser so fader Wirklichkeitswahn beruht. Es ist meist ein Chock, etwa schmerzhafte Einsicht, daß Leben verloren geht in aufgezwungenen Versäumnissen. Wir haben 1989 solch einen schockartigen Einbruch ins Gewohnte, ein "historisches Staunen" erlebt.

"Selbst denken" zu wollen angesichts der unglaublichen gegenwärtigen "Imagination der Geschichte", schreibt Althusser: "daß wir ... neue Formen des Denkens, neue Konzepte erfinden müßten ... uns nie etwas vorzumachen und unsere Aufmerksamkeit auf die Neuigkeiten und den Erfindungsgeist der Geschichte zu richten."

Interessant ist Althussers Theorie des "Wiedererkennens", das simpelste Beispiel, wie der status quo andauernd wiederhergestellt wird! Jene "Evidenz". Wie "Wiedererkennen" das Subjekt ausschaltet und Nichterkennen oder Nichtsehen des Wirklichen und der eigenen Existenz erzwingt. Der Mensch als Sozialtier: "Wenn wir auf der Straße jemandem begegnen, den wir (wieder-) erkennen, so geben wir ihm ein Zeichen, daß wir ihn wiedererkannt haben ( und daß wir gesehen haben, daß er uns wiedererkannt hat), indem wir ihm `Guten Tag, mein Lieber` sagen und ihm die Hand schütteln (die zumindest in Frankreich übliche materielle rituelle Praxis des ideologischen Wiedererkennens im Alltag; in andern Ländern herrschen andere Rituale). Es soll ... die Gewißheit geben ... konkrete, einzigartige ... und (selbstverständlich) unersetzbare Subjekte zu sein.. . In der Materialität des im Imaginären lebenden Menschen ..." ( Ideologische Staatsapparate.)

"Materiell" ist bei Althusser ein irreführendes Wort, er meint damit das wirkend Vorhandene, das erfaßt wird, wenn wir uns nichts vormachen oder vormachen lassen, also die Dinge durchschauen. Denn: Man sieht nur was man weiß. Bei Brecht, der mit dem sogenannten "Verfremdungseffekt" gearbeitet hat, um die Blindheit des Selbstverständlichen aufzuheben, gibt es ein schönes Beispiel; die Wahrheit sei in die Funktion gerutscht, sagt er, die Fotografie etwa von IG Farben vermittle überhaupt keinen Eindruck von der wirklichen Funktion des Chemie-Werkes. Der Glaube an den Schein, ans Nur-Sichtbare ist eine Art anerzogene Blindheit, nämlich das, was wirklich ist, nicht "sehen" zu können oder zu dürfen.. Es ist wichtig: zu wissen, Theorie wie ein Mikroskop zu benützen, den Schein zu zerschlagen, die Hintergründe zu erkennen! Das dürfte heute, wo unsichtbar alles mit Atomstrahlung und Chemie durchseucht ist, - sogar überlebensnotwendig sein . Der bekannte Soziologe Ulrich Beck sagt es heute so: "Hinter den Fassaden stecken gefährliche feindliche Wirkstoffe. ..Die Welt des Sichtbaren muß auf eine gedachte und doch versteckte zweite Wirklichkeit hin befragt, relativiert, bewertet werden ... Mit dem zivilisationskritischen Risikobewußtsein betritt also in allen Bereichen des Alltags ein theoretisch bestimmtes Wirklichkeitsbewußtsein die Bühne der Weltgeschichte." (Die Risikogesellschaft, 1992.)

Auch Marx sprach von Zauberei, von Dämonie im Schein der Ware, des Geldes, die etwas anderes verbergen. Die neuen Gifte bringen es an den Tag: Profitinteressen. Was sie also verbergen, wissen wir heute. Doch es scheint ein verbotenes Bewußtsein zu sein. Die Gründe der Apokalypse als Folge des Systems wahrzunehmen, nun ja ... Neue Gegenstände sind im Feld der bestehenden Theorie notwendig "unsichtbar ... weil sie als Gegenstände in ihr untersagt sind ... " "Das Nicht-Gewußte ist genau das, was sie an Brüchigem in sich trägt, und zwar unter dem Anschein des am meisten Evidenten: im Schweigen, im Zusammenhang ihres Diskurses (aber erscheinen) gewisse ... Abwesenheiten, blinde Flecken im strengen Zusammenhang ihrer Argumentation, kurz alles, was einem aufmerksamem Hinhören `hohl klingt`."

Ideologie also in der Wissenschaft. Auf niederer Ebene aber, im Familienleben: ein persönliches Verdrängungsinstrument, denn familiäre "Ideologie" hat Althusser tatsächlich zugrunde gerichtet.

5

Es ist erstaunlich, daß sein Fall am besten mit der von ihm entworfenen Theorie des Unbewußten erklärt werden kann. Er hat versucht, die wirklichen Tiefenkräfte der Geschichte zu analysieren, Tiefenkräfte, die nicht die ökonomischen, wie bei Marx sind, sondern die Verdrängungen, das mehr oder weniger kranke ("verdinglichte") Unbewußte, das die Menschen zu handeln zwingt, wie es ihnen eingebleut wird, und ihnen das Leben stiehlt, dieses zu einem falschen macht, sodaß sie immer nur als DER ANDERE leben, nie als sie selbst; und er nennt diese Gifte "Ideologie". Althusser: "Die Ideologie stellt das imaginäre Verhältnis der Individuen zu ihren wirklichen Lebensbedingungen dar. "

Alles im Gesellschaftlichen oder Persönlichen sei also vom "Imaginären", vom Unbewußten und von der Emotion bedingt, von Wünschen und Träumen, Gefühlen und Ressentiments ... Das hat mit Marx nichts mehr zu tun, sondern mit Spinoza und Freud.

Ich lese mit Verwunderung in Georg Lukács "Geschichte und Klassenbewußtsein", es wird mir klar, daß Althussers Marx, die moderne Psychiatrie und die neue Physik zu ähnlichen Resultaten kommen. Übrigens auch Sartres "Marxismus und Existentialismus". Die Korrektur des Wissens durch das Nichtwissen, das Wissen von Morgen. Und hier setzt auch die wichtigste Erkenntnis Althussers ein, die eigentlich eine Umkehrung des traditionellen Marxismus ist: Nämlich daß Welt, wie sie sich uns darstellt, das ist, was Erkennen aus ihr macht. Das Ich ist immer eine Filmkamera und kein Spiegel.

In der modernen Informationstheorie ist Wissen eine meßbare Menge von Wissensmöglichkeit im Rahmen der Wahrscheinlichkeit, das heißt etwas völlig Ungesichertes, Vorläufiges.

Bewußter Träger dieses Wissens ist der einzelne Mensch, das Subjekt. Es scheint als wäre dieses Subjekt nun wieder aufgetaucht. Althusser selbst nennt dieses "metonymische Kausalität" (abwesender Grund). Es scheint so, als wäre nun Louis Althussers Fall nicht nur eine Selbstkorrektur durch den Wahnsinn, der zu beweisen schien, daß das Leben des Einzelnen niemals begrifflich von einer Theorie erfaßbar ist, - eine Korrektur der Maßlosigkeit eines überheblichen Wissens, einer rechthaberischen Theorie, die schon der dänische Philosoph Sören Kierkegaard im vorigen Jahrhundert am maßlosen und rücksichtslosen, den einzelnen Menschen überschreitenden Absolutheits-Denken Hegels vorgenommen hatte; Jean Paul Sartres Ansicht in seinem Buch " Marxismus und Existentialismus" trifft ganz besonders auf Althusser zu:

" ... der Schmerz, das Bedürfnis, die Leidenschaft, die menschliche Mühsal sind nackte, durch Erkenntnis weder überschreitbare noch abwandelbare Realitäten ... insofern diese Arbeit in direktem Gegensatz zu aller begrifflichen Erkenntnis steht. Denn die Ideen ändern die Menschen nicht, und es genügt nicht, die Beweggründe einer Leidenschaft zu erkennen, um sie aufzuheben. Man muß sie durchleben ... kurz sich abarbeiten."

Der zweite, wichtigere Ausgangspunkt Althussers war erlebt und durchdacht: war das Rätsel der Berührung von Mater materia. Am Anfang war für seine Theorie Husserl, Sartre und Merleau-Ponty gewesen. Und da setzt jener Dreh ein, jene Dialektik, die ihn überhaupt zum Marxismus gebracht hat: Der Körper und die Theorie bestätigen sich gegenseitig, und heben sich auf in der Tat.

Dies war freilich auch ein subtiler Aufstand gegen dies Unbewußte der Verbote; Verbote von zu Hause: Distanz, Sehen, - ohne den Körper, die Hände gar einzumischen, die schmutzigen Hände. Und so habe er, Althusser, begonnen mit seinem jungen Körper zu denken, ja, nicht dieses distante mit den Augen die Welt, das Nur-Sichtbare Abtasten bis an den Horizont, wo sie sich anschlugen, nicht weiterkonnten. Dies Augenkind der Ferne, das habe er auch am Großvater im Alter dann erlebt, als der schon in die Schläfrigkeit des Todes verfallen war, und dies sei ihm da immer aufgefallen. Das aber habe er dann überwunden, vergessen sogar das Reinheitsgebot der Mutter, er sei ein Mensch der Praxis, des Körpervergnügens geworden, das Gegenteil also von Thomas von Aquino etwa, dem alles Auge war. Die Berührung mit den Händen, sogar dies habe ihm dann nicht mehr ausgereicht, um an die Wirklichkeit zu glauben, da zu sein, zu existieren, dazu gehörte mehr, nämlich etwas umzuformen, zu bearbeiten, beginnend mit kleinen Basteltätigkeiten als Junge, Ihm habe geistige Arbeit nicht ausgereicht, sondern jene Berührung der nackten, der kruden Realität habe er angestrebt wider jede spekulative Illusion, gewissermaßen auch Hand anzulegen, die Welt zu fühlen, diese Lust habe ihn zu Marx gebracht, und er könne diesen Horror seiner intellektuellen Freunde nicht begreifen, die körperliches Tun als Zwang, Verblödung und als Zeitverlust ansähen. Und so habe er dann den Begriff der praktischen Theorie oder theoretischen Praxis gefunden.

Dieses Unmittelbare, Konkrete, Sinnliche, endlich erreicht durch paradoxen Umweg: soziale Tat, Arbeit, Durchbruch ("Revolution") - kaum durch Blicke oder nur Berührung des einzelnen Dinges. In seinem Buch Für Marx (Pour Marx), seinem Hauptwerk, suggeriert Althusser, daß die (wissenschaftliche oder revolutionäre) Praxis niemals nur auf das Selbstbewußtsein zurückgeführt werden könne. Die Philosophie als Praxis-Theorie habe in erster Reihe die Aufgabe, grundsätzlich die Illusionen des Bewußtseins in allen ihren Formen aufzudecken.

Erstaunt habe ihn Spinozas berühmte Formel, daß der Begriff des Hundes nicht bellen könne, der wirkliche Hund sich dem Wort und dem Begriff "Hund" entziehe.

Spinozas Ansicht vom Körper, der von "mens", einer Art Potenz und Geschenk bewohnt ist: "Als Kraftbündel in sich, bewegt, wie meine eigenen Glücksgefühle auf dem Land und bei der Feldarbeit - ein Körper, der denken kann ..." Er habe ein Glücksgefühl empfunden, wenn sein Körper sich frei bewegen konnte. Und da sei es der Großvater gewesen in seinem Forsthaus im Bois de Boulogne, wo es von Unsichtbarem, aber sehr Nahem gewimmelt habe, Gerüche der Pferde, Ställe, das Kauen ... alles hörend, sehend, schmeckend, Geruch der Erde, der Pferdeäpfel, der Kuhscheiße, und das intensive Parfüm des Plumpsklos hinten im Garten, dann der Geruch und Geschmack der wilden roten Erdbeeren, klein wie Feenkinderköpfe, Geruch der Steinpilze, der scharfe Geruch der Schwammerl, der Hühnerställe, des Hühnermistes, Blutgeruch beim Schlachten, Geruch um die Hundehütte, wilder Geruch des Weins und des Sägemehls beim Sägewerk, Geruch des eigenen Schweißes nach langem Laufen und Spielen, die Müdigkeit der Glieder nach einem Fußballspiel, der verschwitzte Kopf, die Haare, und die Anwesenheit des Großvaters, die eine Anwesenheit von Tabakrauch war, nicht die Gewalttätigkeit seines Vaters in Algier und Marseille; und so habe er, Althusser, begonnen mit seinem jungen Körper zu denken ... Praxis-Theorie, um so jenes Verlangen der Mutter mit den eigenen Bedürfnissen nach realer Praxis zu verbinden, sich auch denkend der Mater materia in jedem Bereich zuzuwenden.

Er wollte die Erzählung dessen, was wirklich geschieht. Indem man etwas praktisch verändert, aktiv mitwirkt an dem was geschieht, verändert man sich selbst. Die schöne alte Utopie einer Selbstveränderung durch Tat in reflektierter Praxis: Erstaunlich, wie nah dieses von Hegel übernommene Zentrum des geschmähten marxistischen Denkens dem Grund gegenwärtigen Wissens kommt. Carl Friedrich von Weizsäcker definiert den Kern heutiger Erkenntnismöglichkeit so: "Das umfassendste mathematische Schema eines Naturgesetzes ist das einer Differentialgleichung nach der Zeit. Eine derartige Gleichung gibt an, wie bei gegebenen Umweltbedingungen der Zustand eines Objekts seine eigene Änderung determiniert."

Doch auch diese tiefen Gedanken reichen nicht aus, zu fassen, was "wirklich" ist. Und keine Theorie half Althusser, auch nicht die "Theorie der Praxis"; als geschah, was ihm wirklich geschah, da half kein Marx, kein Sartre, keine Physik, der Durchbruch zum Wahnsinn und zur Mordtat an seiner Frau Hélène geschah, als das Denkgerüst, seine Maske, die ihn eine Zeitlang geschützt hatte, zerbrach. Althusser hat die "Krise" des Marxismus aus diesem selbsterlittenen Zwiespalt zwischen Ideologie als Krankheit des Kopfes und Ideologie als Krankheit der Seele vorausgesehen, und erkannt - daß Gifte des Unbewußten Geschichte und auch seine Geschichte gemacht hatten. Denn sie tun es und sie wissen es nicht.
 
 

Nachgetragene Gedanken zum tragischen Fall des

Philosophen Althusser
 
 

Nicht nur Althusser, die besten Köpfe im Westen, wie Foucault oder Derrida, George Steiner, Paul Virilio oder am genausten vielleicht Jürgen Habermas in seiner schon 1984 erschienenen Untersuchung "Die Krise des Wohlfahrtsstaates und die Erschöpfung der utopischen Energien", haben auf das Scheitern der Moderne und ihres Fortschrittsgedankens seit 1789 hingewiesen; und diese Skepsis gab es schon in der "Dialektik der Aufklärung" von Horkheimer und Adorno. Was neu ist und bei Althusser bis in den Wahnsinn hinein durchlebt wird, spricht auch Habermas aus, daß nämlich "die Erschöpfung utopischer Energien nicht nur eine der vorübergehenden kulturpessimistischen Stimmungslagen anzeigt, sondern tiefer greift. Sie könnte eine Veränderung des modernen Zeitbewußtseins überhaupt anzeigen." Daß sich nämlich die "Struktur des Zeitgeistes und der Aggregatzustand der Politik" radikal verändern, daß wie vor 200 Jahren "die Paradieseshoffnungen mit der Verzeitlichung der Utopien ins Diesseits eingewandert sind", so würden heute "die utopischen Erwartungen ihren säkularen Charakter verlieren" und möglicherweise wieder transzendenten, grenzüberschreitenden Charakter annehmen, wie Habermas vermutet, um diese These dann sogleich zurückzunehmen, als habe er Selbstverrat geübt. (In: Die Moderne ein unvollendetes Projekt, Leipzig 1992). Daß wir aber an einer Zeitgrenze angekommen sind, wie es auch bei Steiner oder Virilio anklingt, und wie es vor allem die moderne Quantenphyik und ihre längst im Hintergrund der Geschichte wirkende immaterielle Licht-Realität anzeigt, läßt sich nicht mehr leugnen, daß allerdings alte Theorie, Alltagsdenken und Politik hinterherhinken, ist auch offensichtlich. Das Unsichtbare nämlich ist heute mehr denn je die Hirnsyntax der Geschichte. Nicht nur die Tatsache der Vernichtung ist da, sondern damit verbunden ein radikaler Bruch mit der Körperwelt. (Doch auch ihr Aufstand, Aufstand der Enge in den Ethnien und alten Machtkonstellationen). Wenn nicht alles täuscht, steht seit einiger Zeit schon ein Paradigmenwechsel an. Unser Weltentwurf scheint an eine Grenze gekommen zu sein, wo es auf gewohnte begriffliche oder anschauliche und sinnliche Weise nicht mehr weiter geht.

Nach 1989 wird dieser Bruch und Abgrund besonders deutlich.

Die Vorbedingungen sind uns vorgegeben durch die Barriere des eben so erzogenen und zensurierten Bewußtseins; eine ontologische und eine Erkenntniszensur! Balibar nennt den Durchbruch durch starr Bestehendes eine "négativité absolue", die die so Gefangenen befreien könnte; er gehört ins Umfeld der "negativen Theologie" und erinnert an Bacons Konzept der "Reinigung" von allen "idola" am Anfang der Wissenschaftsgeschichte. Bacon nahm "Unreinheit des Geistes" als Ursprung allen Irrtums an, die Natur selbst lüge nie; Beschränktheit, samt allen "Antizipationen", Vorurteilen, "idola", müßten durch sorgfältige "Reinigung des Geistes" aufgehoben werden (Aphorismen, 36,42,69). Selbst-Kritik bei Althusser, ja zerstörerische Kritik der Bewußtseins- und Ego-Illusionen einer kollektiven Halluzination sind so zu verstehen, Aufbrechen einer zum Ding der Außenwelt von Macht und Ware gewordenen Bewußtseins. Ähnlich wie Walter Benjamin, der andere mit Erkenntnis-Chock arbeitende historische Materialist, geht es auch Althusser, etwa in "Das Kapital lesen", um eine "Geschichtspause", um eine "Nicht-Gegenwart", eine Geschichts-Absenz: wie kann die ewige Wiederkehr des Gleichen, die immergleiche Kette von Unterdrückung und Herrschaft und ihr status quo durchbrochen werden? In der Julirevolution wurde auf die Uhren geschossen. Drei Neuformulierungen dazu finden wir bei Althusser, und darin besteht, nach Balibar, Althussers Originalität: erstens: Weil die Verblendung zur Unterdrückung gehört, kann sie, solange diese andauert, nicht aufgehoben werden, sie ist aber immer mehr unserem Bewußtsein entzogen; zweitens: der oben beschriebene Prozeß der "Reinigung", ist eine theoretische Besinnung auf das Unmögliche, Erhellung, daß wir von Betrug und Lüge infiziert, das, was wir nicht sein dürfen und können, als Außenwelt, als Schein der Gegenwart leben müssen; daß drittens die Ursachen dessen, was als Schein da ist, tief ins Unbewußte gedrungen sind, das dieses Unbewußte so als kollektiver Schein Geschichte macht, an den wir alle intimst, aber im Selbstbefehl sozusagen angeschlossen sind und "mitmachen müssen", ob wir wollen oder nicht!

Es gab eben nicht nur rote Staatsdiener oder Denksklaven. Möglicherweise griff die Selbstkritik des nicht staatlich gebundenen seriösen marxistischen Denkens in seiner Schärfe am gnadenlosesten und bis zur Selbstzerstörung an die reale Grundverfassung der Erkenntnis. Bei Walter Benjamin war es die schon früh vorgenommene Dekonstruktion der "Fortschritts"-Teleologie im starren Blick seines "Engels". Beim unglücklichen Philosophen Althusser hatte die Entdeckung, daß jede Verbindung zum "Realen" "Imagination" und vereinzelt sein muß, es eigentlich keinen Halt mehr geben kann, möglicherweise zum Wahnsinn geführt. Auch Althusser ging vom radikalen Illusionsverbot aus und endete (1980) als Mörder seiner Frau Hélène in der Heilanstalt. Die totale Entlarvung des alten "Realen" ist menschenunmöglich und schlichtweg nicht zu ertragen.