Das kommerzielle Kino - Behauptung oder Unterordnung?<

 

Ujjwal Bhattacharya

 

 

„Auf einem grasüberwachsenen Bahndamm basteln zwei Knaben an einer Kreuzung aus Dampfmaschine und Lokomotive herum, die auf einem abgebrochenen Gleis steht. Ich Europäer sehe mit dem ersten Blick, dass ihre Mühe verloren ist: dieses Fahrzeug wird sich

nicht bewegen…“

- Der Mann im Fahrstuhl, Heiner Müller.

 

Und es bewegt sich doch! In der Tat hinkt die indische Filmgeschichte nicht der Weltgeschichte des Films hinterher. Am 28. Dezember 1895 gab es die erste öffentliche Vorführung der Lumiere Brüder in Paris und nur sieben Monate später in Bombay. Und dennoch hat das indische Kino im westlichen Diskurs bis 1956 kaum eine Rolle gespielt. Selbst in Indien gab es keine Diskussion. Dabei hat man glatt übersehen, daß Hollywoods in diesem Land nicht Fuß fassen konnte, obwohl in dieser Zeit die indische Filmwirtschaft stetig wuchs. Was ist der Grund dafür? Die Trivialität dieser Filmkultur? Oder ist es ein Wunder, das noch zu vollziehen ist – also das indische Kino als Noch-Nicht-Kino? Oder ist es etwas anderes, das aus der Realität, dem Gesellschafts-prozeß und vielleicht auch aus der Tradition und der Geschichte Indiens entstanden ist? Ist es dennoch Kino, so wie wir es auffassen?

 

1895-96 war die Zeit als die indische Kongreßpartei, die dieses Land zur Unabhängigkeit führte, gerade sieben Jahre alt . In dem Land wuchs eine englisch-gebildete Schicht, die damit begann sich das europäisch-liberale Gedankengut anzueignen. Ein Bürgertum ohne Bürgerrechte, weil die Kolonialherrschaft nicht bereit war ihm Staatsrechte zuzugestehen. Ihrer Meinung nach war das Bürgertum nicht der Repräsentant des indischen Volkes. Diese Repräsentanz musste bewiesen werden, das Volk und seine Tradition zu repräsentieren. Diese sollte festgestellt und vielleicht auch neu entdeckt werden.

 

Was das Kino betrifft, half eine Erbsenpflanzei. Dhundiraj Govind Phalke war ein Verfechter der Swadesi Ideologie, derzufolge die Inder zuerst in ökonomischen und kulturellen Bereichen das Geschick des Landes in die eigene Hand nehmen. 16 Jahre nach der ersten Lumiere Vorstellung in Bombay fotografierte er täglich eine wachsende Erbsenpflanze über einen Zeitraum von einem Monat. Durch das Konzept der Time-lapse-Fotografie entstand der Clip Die Geburt einer Erbsenpflanze, der ihm die notwendige Finanzierung für sein erstes Projekt sicherte: Raja Harishchandra, die Geschichte eines mythologischen Königs aus dem Epos Ramajana, welcher wenige Monate später am 21. April 1913 vor einem ausgewählten Publikum vorgeführt wurde – mit großem Erfolg. Die indische Filmgeschichte nahm ihren Lauf. Es folgten weitere Filme von ihm; Alles mythische Episoden, die die traditionellen Wertvorstellungen Indiens darstellten. Es gab in den nächsten Jahren aber auch sozial-kritische Filme, z.B. England Returned (1921) von Dhiren Ganguly, eine satirische Komödie über die englisch-gebildete Neuelite oder Savkari Pash (1925), die Geschichte eines indischen Shylocks, die auf die verheerende Lage der Kleinbauern hinwies.

 

Von Anfang an sah man den Versuch Raum für eine Konterhegemonie zu gewinnen. Es war für die Filmemacher dieser Zeit klar, daß sie mit diesem Medium das Volk direkt ansprechen konnten, mit Metaphern aus ihrer eigenen Tradition, die für die Kolonialherrschaft unbegreiflich blieben - unbegreiflich, aber nicht unbemerkt. Bereits 1918 gab es ein Gesetz, um das Kinogeschäft zu regulieren, 1919 wurde die Zensur eingeführt. Auch bei den mythischen Handlungen mussten die Gewaltszenen herausgeschnitten werden. Bei dem Film über den heiligen Vidur (1921) gab es Schwierigkeiten, weil einer der Charaktere eine so genannte Gandhi-Kappe trug. Man wurde vorsichtig. Da fing das Phänomen an, das Fredric Jameson den ‚allegorischen Charakter’ bei Texten der Dritten Welt nennt. Man benutzte die alten Mythen und Legenden, um auf die Konflikte der Gegenwart hinzuweisen.

 

 

Internationale Zusammenarbeit

 

Schon in der Stummfilmzeit begannen die ersten internationalen Kontakte. 1924 kam Himansu Rai, ein Student des Dichters Tagore und Anwalt, nach Deutschland. Er hatte schon eine Amateurtheatertruppe geleitet, die sich zum Ziel gesetzt hatte, die indischen Schauspieltraditionen wieder ins Leben zu rufen. Mit deutscher Zusammenarbeit wollte er ein indisches Pendant zu den Passionsspielen in Oberammergau schaffen.

 

Rai traf Franz Osten (Ostermayr), den Bruder von Peter Ostermayr, Begründer des EMELKA Studios (später Bavaria) in München. Das war die Zeit, in der sich Oriental-Filme wie Der Tiger von Eschnapur großer Beliebtheit freuten, in denen die europäischen Schauspieler sich die Gesichter mit Schuhcreme färbten und indische Charaktere spielten. Osten gefiel die Idee von Rai, Filme mit indischen Schauspielern und echten historischen Kulissen zu drehen. So entstand unter der Regie von Osten, Die Leuchte Asiens, eine Geschichte aus dem Leben Buddhas – mit sensationellem Erfolg sowohl in Indien, als auch in Deutschland. Osten blieb in Indien und drehte zwei weitere Filme. Das vierte Projekt konnte nicht realisiert werden, da inzwischen die Zeit der Tonfilme begann; Filme mit indischen Schauspielern, die Deutsch sprechen? So schien die Zeit der Filme für beide Länder abgelaufen. Dennoch ging Osten 1934 erneut nach Indien. In Zusammenarbeit mit Rai entstanden 17 weitere Filme unter seiner Regie, darunter Achhut Kanya (Die Unberührbare), eine schonungslose Kritik am Kastensystem.

 

Nach dem Ausbruch des Zweiten Weltkrieges wurde Osten in Indien verhaftet. Wegen seines hohen Alters aber freigelassen und nach Deutschland ausgewiesen. 1940 starb Rai überraschend. Damit fand das Kapitel einer viel versprechenden Zusammenarbeit zwischen zweier Länder ein vorzeitiges Ende .

 

Tonfilm und der erste Filmheld

 

Der erste Tonfilm Alam Ara erschien 1931 und damit wurde ein Problem der indischen Nation offensichtlich: Das Kino brauchte eine Sprache. Am besten eine, die man im ganzen Land verstand. Obwohl das indische Kino sich bislang an Hindumythen- und Traditionen orientierte, setzte sich die säkuläre Variante der Hindustanisprache durch. Diese Entwicklung setzt sich auch heute noch fort, trotz massivem Einfluss durch die englische Sprache in den letzten Jahren. Ab hier trennten sich die auch Wege des Hindifilms und der Filme in regionalen Sprachen (z.B. Bengali oder Tamil). Der Hindifilm wuchs mit einem nationalen Markt. Das Streben nach Konterhegemonie führte zu einer neuen Dominanz im mehrsprachigen Indien.

 

1935 entstand der erste Kultfilm Devdas, Indien hatte seinen ersten Filmheld. Es ist die Geschichte eines unentschlossenen jungen Mannes, der sein Heimatdorf verlassen musste, um in Kalkutta eine englische Ausbildung erhalten zu können. Er ist hin und her gerissen zwischen seiner Kindheitsliebe Paro, die er wegen Widerstand der Familie nicht heiratet und Chandramukhi, eine Prostituierte, die sich in ihn verliebt. Der alkoholkranke Held will seinem Versprechen nachkommen und vor dem Tod nochmals Paro treffen, aber auch hier schreitet die Familie ein. Devdas stirbt allein vor ihrer Tür.   

 

Die Tragödie der unerfüllten Liebe ist in der indischen Volkstradition ein beliebtes Thema. In ‚Devdas’ sieht man aber auch den Konflikt zweier Wertvorstellungen. Sowohl Paro, als auch Chandramukhi sind durchaus im Stande ihre Lage zu meistern. Ihre Wurzeln sind von traditioneller Kultur. Devdas dagegen kam mit der Modernität in Berührung (unter kolonialen Bedingungen). Diese Modernität hat liberale Ansprüche erweckt, aber das Kolonialobjekt war  nicht ‚maskulin’ genug, um sich durchzusetzen. Daher muss er leiden und zugrunde gehen. Diese Schwäche ist sexuelle Schwäche – sehr oft im kolonialen Diskurs festzustellen. Hier ist anzumerken, daß jegliche Beziehung in ‚Devdas’ von Enthaltung geprägt ist. Diese Enthaltung war auch ein Eckpunkt der Philosophie Gandhis. Diese Geschichte wurde in mehreren Sprachen zehn Mal verfilmt. Das letzte Mal 2002, allerdings mit mäßigem Erfolg.

 

Das Kino als ‚Religion des Volkes’?

 

1947 wurde Indien unabhängig. Bis dahin war das Moderne ein Symbol der Kolonialherrschaft und die vormodernen Traditionen das Instrument im Kampf dagegen. Nun galt es das Moderne als Nationalprojekt zu gestalten was zum Widerstand der Traditionalisten führte. Auch das indische Kino bekam das zu spüren. Anfangs gab es Versuche in Anlehnung an Osten und Rai realistische gesellschaftskritische Filme zu realisieren. Aber die Befürworter der bisherigen Form und Wertvorstellungen bildeten eine starke Lobby. Es ging auch um das Verständnis des Kinos – ist es Kunst oder ein Produkt für den Markt? Hier trennten sich die Wege und es entstanden zwei Arten von Filmen, die Madhava Prasad als feudale Familienromanze und Mittelschichtkino bezeichnet. Die rasche Urbanisierung führte zur Entfremdung der arbeitenden Schichten. Sie verloren ihre gewohnte Umgebung, ohne irgendwo angekommen zu sein. Wieder waren die Fronten klar: Familie und Tradition auf der einen Seite und die Geschichte und das Moderne auf der anderen. Die ewige Erzählung des Kinos wurde zu einer Auseinandersetzung und einem Kompromiss der beiden. Daneben gab es das sozial-kritische Kino, was mit der Apu-Trilogie von Satyajit Ray national und international für Furore sorgte. Hier sei erwähnt, daß als Truffaut damals gefragt wurde, was er von dem Film halte, antwortete,  er könne nichts mit indischen Bauern anfangen. Allerdings änderte er seine Meinung, nachdem er den Film gesehen hatte.

 

Ashis Nandy mag Recht haben, daß das traditionsorientierte, kommerzielle Kino gegen die Gewalt der modernen Entwicklung ein Gegengewicht war und damit dem Volk Kraft gab. Nur hat das indische Kino das Fortschreiten des Modernen nicht aufhalten können. Also das Kino als Sonntagsgottesdienst? Religion des Volkes? Wie Madhava Prasad fragte: Für die Mittelschicht Kultur als Begehren und für das Volk nur als Bedürfnis?

 

 

Ödipus und Mutter Indien

 

Mehboob Khan war ein berühmter Regisseur seit den vierziger Jahren und das Markenzeichen seiner Firma waren Hammer und Sichel. Er benutzte die melodramatischen Formen mit Liedern und anderen Elementen. 1957 drehte er Mother India, der als erster indischer Film für den Oscar nominiert wurde. Die Geschichte handelt von einer alleinerziehenden Frau, die unter großen Schwierigkeiten ihre beiden Söhne in einem Dorf großzieht. Der Jüngere wird ein Bandit und entführt die Tochter eines Pfandleihers an ihrem Hochzeitstag. Die Mutter tötet schließlich ihren Sohn. Es ist  die Geschichte der Besessenheit der Mutter von ihren Söhnen. Es ist aber auch die Geschichte eines neuen Zeitalters, in dem die Gesetze zu respektieren gilt. Nach Antonio Gramsci wird in der Phase einer passiven Revolution erst der Staat gefestigt bevor sich die Gesellschaft verändert. Eine Variante dieses Musters findet man in ‚Ganga Jumna’, auch ein Kassenschlager dieser Zeit.

Es ist auch die Zeit der großen Helden. In der Tat wurde der Hauptdarsteller zum ersten Mal als Held gefeiert. Lieder gab es immer, nun sind sie auf seine Person zugeschnitten. Es sind meist junge, gebildete Männer, zum ersten Mal in der Großstadt, auf der Suche nach Arbeit. Die Verführungen, Anpassungsprobleme, Überlebenskampf – dazwischen lernt er eine junge Frau kennen, sie singen und tanzen. Es gibt  einen Konkurrenten, den Bösewicht. In anderen Fällen erliegt er den Verführungen.

Die Mutter ist stets mit ihm verbunden und am Ende kehrt er zu ihr zurück. Dieses Muster zieht sich bis in die 70er Jahre. In Deewar  (Die Mauer, 1974) gibt es folgendes Gespräch zwischen den Brüdern Ravi, ein Polizeioffizier und dem Held Vijay, ein Schmuggler (verköpert von Amitabh Bachchan) :

 

Vijay: Ich habe ein großes Haus, Autos und Konten. Was hast du?

Ravi: Ich habe die Mutter!

 

Die bisherigen Helden waren reich oder zumindest gebildet, alle Angehörige der höheren Kasten gewesen. Jetzt kam der erste Subaltern-Held. Dieser angry young man ist entweder ein Waisenkind oder ein Verbrecher, vielleicht auch ein Arbeiter. Dieses Genre brachte Jahre des ununterbrochenen Erfolgs. Damit wuchs eine neue Generation der Liederschreiber und der Drehbuchautoren heran. Auch der Zuschauer?

In den 60er und 70er Jahren hatte sich das Bild Indiens grundlegend verändert. Die Begeisterung der Gründerjahre war verschwunden, die Zweifel am System stiegen, Indien wurde immer jünger und diese junge Generation sah kein Zeichen für ein Wirtschaftswunder. In den Großstädten wohnte die Mehrheit in Slums. Das Schema von Traditionen und Moderne hatte ausgedient. Es war Zeit für den Rebell – rücksichtslos und mobilisierend. In den Personen, die Amitabh Bachchan darstellte, fand man ihn.

 

Der Kitsch wird global

 

Mit landesweiten Fernsehübertragungen der Soaps erhielt das Kitschpotential des kommerziellen Kinos zum ersten Mal einen ernst zu nehmenden Konkurrenten. In den 80er Jahren erfuhr die Kinowelt große Einbußen. Die angry men der zweiten Wahl konnten die Kassen nicht wie Bachchan füllen. Da kamen die indischen Emigranten gerade recht. Genau wie die Slumbewohner der Megacities, bewohnten sie ein kulturelles Niemandsland. Indische Realität erlebten sie nicht mehr, die Kultur des westlichen Gastlandes haben sie nicht akzeptiert. Aus zwei Negationen entstand eine Hybridität, die Illusion des neuen Patriotismus. Der ergraute Bachchan spielt nun den Vater des Helden, in die Rolle des neuen Helden  schlüpfte Shah Rukh Khan. Der Filmheld kommt nicht mehr vom Dorf nach Bombay, sondern aus London oder Seattle, wo er eine westliche Ausbildung genossen hat, nach Mumbai. Auch er kehrt zurück, aber nicht zur Mutter, sondern zum Vater, der ein Kind des ‚Nehru-Sozialismus’ ist.

Der Konflikt tobt nicht zwischen Familie und Außenwelt. Beide, Vater und Sohn, stehen inmitten der Geschichte. Kulturell gesehen genau so hilflos wie in den alten Zeiten. Nur diesmal dürfen sie vielleicht selbst entscheiden, wohin die Reise geht.

 

 

( Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte, 10/2006 )