Atomausstieg ?
Ausgerechnet Umweltminister Jürgen Trittin fordert die grüne Basis auf, die Castor-Transporte mit Atommüll aus La Hague nicht zu behindern. Ein absurdes Szenario. Von Fred Müller Die
staatstragende Mimik beherrscht der grüne Umweltminister
Jürgen Trittin noch nicht perfekt, doch die Botschaft hätte
seine konservative Vorgängerin letzte Woche nicht besser
formulieren können. Der Minister redete von den «politischen
und völkerrechtlichen Pflichten Deutschlands» und
forderte die grüne Basis ultimativ auf, Castor-Transporte
mit Atommüll aus der französischen Wiederaufbereitungsanlage
La Hague ins deutsche Gorleben nicht mehr zu behindern. Der Atommüll-Transport
sei «notwendig», Proteste dagegen «unklug»
und «politisch falsch». Unterstützt wird Trittin
fast vom gesamten grünen Partei-Establishment, dem es um
die Glaubwürdigkeit des grünen Ministers geht: Da die
Wiederaufnahme der Castor-Transporte Teil des Atom-Konsenses
mit der Atomwirtschaft ist, darf die grüne Basis ihren Minister
nicht desavouieren. Nach
der Unterstützung des Kosovo-Kriegs der Nato vor bald zwei
Jahren steht damit den Grünen der zweite realpolitische
Härtetest in Haus. Denn die Castor-Gegner haben für
die Argumente ihrer Parteioberen nur Hohn und Spott übrig.
Die Bürger-Initiativen im niedersächsischen Wendland,
wie die Gegend rund um Gorleben heisst, mobilisieren trotz Trittins
Warnung mit Hochdruck für den Ende März erwarteten
Castor-Transport, gegen den sie mit den gleichen Methoden demonstrieren
wollen wie während der Ära Kohl. Was
das heisst, war im Wendland zum letzten Mal vor bald vier Jahren
zu besichtigen: Im März 1997 quälte sich der Castor-Konvoi
tagelang durch die Republik, immer wieder blockierten Atomstromgegner
die Route mit Sitzstreiks, untergruben Schienen und Strassen
oder ketteten sich an die Bahngeleise. Im Wendland herrschte
der Ausnahmezustand, die Polizei zog in Turnhallen ein, kreiste
Tag und Nacht mit Helikoptern über den Fachwerkhäusern
und beobachtete mit Nachtsichtgeräten Schienen und Strassen.
Am Ende standen sich in Gorleben 12'000 Polizisten und 7'000
Demonstranten gegenüber, die alle im Voraus wussten, wie
das Katz-und-Maus-Spiel enden würde: Mit einem mühsam
erkämpften Sieg des Staats, der den Steuerzahler fast 90
Millionen Franken kostete. Den
Atomstrom-Gegnern im Wendland ging es allerdings nie um die tatsächliche
Verhinderung der Castor-Transporte. Sie wollten nur den Preis
dafür in die Höhe treiben und so den Ausstieg aus der
Atomwirtschaft beschleunigen, weshalb Gorleben im Laufe der Jahre
in Deutschland zum wichtigsten Symbol für den grünen
Widerstand gegen die Atomkraft wurde. Mit
dem Atom-Konsens hat die rot-grüne Regierung zwar grundsätzlich
den Ausstieg aus der Kernenergie besiegelt, doch der Kompromiss
ist weit von dem entfernt, was die Grünen im Wahlkampf versprochen
hatten. Anstatt die AKWs «sofort» abzuschalten, wie
es im grünen Wahlprogramm hiess, dürfen die 19 deutschen
Atommeiler bis zum Ende ihrer Laufzeit jahrzehntelang weiter
am Netz bleiben. Zu diesem Kompromiss gehört auch die Wiederaufnahme
der Castor-Transporte, mit denen Deutschland seinen Atommüll
aus der französischen Wiederaufbereitungs-Anlage in La Hague
zurückholen muss. Denn ohne diese Rücknahme weigert
sich Frankreich, die abgebrannten deutschen Brennstäbe wie
bisher in La Hague zu verarbeiten. Deshalb unterscheidet Trittin
zwischen nach wie vor «unsinnigen» Atommüll-Transporten
innerhalb Deutschlands und den «notwendigen» für
die Rücknahme des deutschen Mülls. Die
AKW-Gegner im Wendland halten das für Haarspalterei und
Jürgen Trittin für einen Verräter. Denn der gleiche
Politiker, der heute ihre Demonstrationen am liebsten verbieten
möchte, nahm noch vor vier Jahren an vorderster Front an
den Castor-Protesten teil. Trittins Atom-Konsens ist für
die AKW-Gegner kein Fortschritt, er steht in ihren Augen für
die Kapitulation der Grünen vor der Atomwirtschaft. Das grüne Establishment reagiert nervös auf die Unruhe an der Basis. Mit immer neuen Erklärungen relativiert es die Aufforderung des Umweltministers, den nächsten Castor-Transport unbehelligt zu lassen. Parteichef Fritz Kuhn differenziert zwischen «guten Demonstrationen» und «schlechten Blockaden». Mit diesem rhetorischen Spagat versucht die Parteiführung, das peinliche Szenario zu entschärfen, das ihr Ende März droht: Tausende von grünen Wählern, die in Gorleben gegen den Castor-Transport demonstrieren, von denen sich grüne Spitzenpolitiker im Fernsehen distanzieren müssen. |
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In den 19 deutschen Atomkraftwerken fallen jährlich 450 bis 500 Tonnen abgebrannte Brennelemente an, die vor allem in der französischen Wiederaufbereitungs-Anlage La Hague landen. Das dort anfallende Plutonium muss Deutschland zurücknehmen, es wird in eigens dafür entwickelten Castor-Behältern ins deutsche Zwischenlager Gorleben in Niedersachsen gebracht. Seit drei Jahren ist dieser Kreislauf unterbrochen: 1998 stoppte die Kohl-Regierung die Castor-Transporte wegen zu hoher Strahlenbelastung, umgekehrt weigerte sich Frankreich, den deutschen Atommüll anzunehmen. Das Strahlenproblem ist gelöst, doch in La Hague stapeln sich mittlerweile 20 Tonnen deutsches Plutonium, das Deutschland zurücknehmen muss. Von 2005 an dürfen die deutschen AKWs ihren Müll nicht mehr ins Ausland schaffen, bis zur Evaluierung eines deutschen Endlagers müssen sie lokale Zwischenlager einrichten. |