Kernkraft

Kanzler Schüssel setzt aufs Aussitzen

Österreichs Bundeskanzler bleibt dabei: Auch nach dem Anti-Temelin-Volksbegehren wird es keine Veto-Politik gegen Tschechiens EU-Beitritt geben.

Von Silvia Höner, Wien

915 220 Österreicherinnen und Österreicher oder 15,5 Prozent der Wahlberechtigten haben das Volksbegehren gegen die Inbetriebnahme des tschechischen Atomkraftwerkes Temelin unterstützt. Die Freiheitliche Partei (FPÖ) und das auflagenstarke Boulevardblatt "Kronen Zeitung" haben die Unterschriftensammlung initiiert und in den vergangenen Wochen mit einer massiven Propagandakampagne zu einer Frage von grösster nationaler Tragweite hochstilisiert. Gemessen daran, wird das Resultat in den hiesigen Medien allgemein als respektabel, aber keineswegs überwältigend eingestuft. Jedenfalls hat das Volksbegehren "Veto gegen Temelin" die magische Zahl von 1 Million Unterschriften nicht erreicht. Unter den 27 seit 1945 lancierten Volksbegehren nimmt es gemessen an der Zahl der Unterschriften Platz 3 ein, gemessen an der Zahl der Wahlberechtigten jedoch nur Platz 6.

Schritt zur direkten Demokratie

Für die FPÖ-Vizekanzlerin Susanne Riess-Passer ist das Resultat dennoch "ein Meilenstein im System der direkten Demokratie". Laut Kärntens Landeshauptmann Jörg Haider muss Kanzler Schüssel nun den "Nachverhandlungsbedarf" mit Tschechien erkennen. Und FPÖ-Fraktionschef Peter Westenthaler stellt Tschechien gleich eine neue Forderung in Aussicht. Wenn die Benes-Dekrete nicht abgeschafft würden, könne Tschechien nicht der EU beitreten. Die Benes-Dekrete waren die Rechtsgrundlage für die Vertreibung der Sudetendeutschen aus der Tschechoslowakei nach dem Zweiten Weltkrieg.

Ernst nehmen, aber nicht umsetzen, lautet die unausgesprochene Devise von ÖVP, SPÖ und Grünen, die das Volksbegehren abgelehnt haben. Bundeskanzler Schüssel betonte am Dienstag, dass man sowohl die Unterzeichner als auch jene ernst nehmen müsse, die zu Hause geblieben seien. Und das ist die grosse Mehrheit. Schüssel sieht darin eine Bestätigung seiner "realistischen und vernünftigen" Verhandlungsstrategie mit Tschechien.

Keine Umsetzung der FPÖ-Politik

Im Gegensatz zur ÖVP halten Sozialdemokraten und Grüne die in Brüssel mit Tschechien ausgehandelten Sicherheitsgarantien für unzureichend. Beide Oppositionsparteien lehnen Atomkraftwerke ab, haben sich aber gegen die antieuropäische Zielrichtung des Volksbegehrens gewandt und stattdessen verstärkte Bemühungen im Rahmen der EU um einen gesamteuropäischen Ausstieg aus der Kernenergie gefordert.

Für die FPÖ stehen somit die Chancen, das Volksbegehren umzusetzen, schlecht. Es wird vermutlich das Schicksal der meisten seiner Vorgänger teilen und in den Archiven des Parlamentes verschwinden. Da das Volksbegehren mehr als 100 000 Unterschriften erzielt hat, muss es vom Parlament behandelt werden, eine weitere Verpflichtung besteht aber nicht. Konkret wird es nun vorerst bei einem Parlamentsausschuss landen, der einen Bericht erstellt, über den der Nationalrat spätestens im kommenden Oktober befinden wird. Damit das Anliegen des Volksbegehrens umgesetzt werden kann, ist im Parlament eine Zweidrittelmehrheit nötig. Und die wird die FPÖ nicht bekommen, da sie in dieser Sache weder auf die Unterstützung der ÖVP noch der Opposition zählen kann.

KOMMENTAR

Zwickmühle Temelin

Von Silvia Höner, Wien

Es gibt gute Gründe, gegen Atomkraftwerke zu sein. Die Österreicher jedenfalls haben sich 1978 entschieden, ohne sie auszukommen. Ernst zu nehmen sind deshalb auch Ängste, die das grenznahe südböhmische Atomkraftwerk Temelin auslöst.

Doch das von der Freiheitlichen Partei (FPÖ) im Verbund mit der mächtigen "Kronen Zeitung" lancierte Volksbegehren gegen Temelin hat die Angst vor der Atomkraft benutzt, um noch ganz andere Gefühle zu schüren: Aversion gegen das Nachbarland Tschechien und damit verbunden Ablehnung der EU-Osterweiterung insgesamt.

So hat das Volksbegehren nicht nur aussenpolitischen Schaden angerichtet, sondern auch einen Keil in die schwarz-blaue Koalition getrieben. Die Österreichische Volkspartei (ÖVP) von Bundeskanzler Schüssel ist klar europafreundlich und hat in Sachen Temelin mit Tschechien und der EU verbindliche Vereinbarungen getroffen, die auf grösstmögliche Sicherheit setzen. Die FPÖ dagegen, die als Regierungspartei diese Vereinbarungen mitträgt, fordert in ihrem Volksbegehren das Gegenteil: Wird Temelin nicht geschlossen, soll Österreich das Veto gegen Tschechiens EU-Beitritt einlegen.

Wie soll eine Regierung, die in einer solch zentralen Frage derart gespalten ist, die zweite Halbzeit überstehen? Mehr schlecht als recht, lautet die realistische Antwort. Den schon oft beschworenen Bruch der Koalition wird auch das Temelin-Volksbegehren kaum auslösen. Jedenfalls nicht sofort. In den nächsten Monaten wird die Initiative ihren bürokratisch-parlamentarischen Lauf nehmen. Parallel dazu wird die FPÖ die Fiktion aufrechterhalten, mit einer neuen Regierung in Prag könnte es - nach den Parlamentswahlen im Juni - neue Verhandlungen geben. Gelingt dies nicht, was anzunehmen ist, werden die Freiheitlichen erneut Druck aufsetzen.

Spätestens dann wird sich die ÖVP die Frage stellen müssen, ob sie eine Koalition mit der FPÖ noch mit ihrem europäischen Gewissen vereinbaren kann. Vorgezogene Neuwahlen - noch bevor die EU-Mitglieder über die Osterweiterung abstimmen - wären der letzte Ausweg aus der europapolitischen Zwickmühle.

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